Unverständnis für Novartis-Urteil in Indien
Mit dem Urteil des obersten indischen Gerichtshofs, dem Schweizer Pharmakonzern Novartis den Patentschutz für sein Krebsmittel Glivec zu versagen, schade sich Indien selber. Davon ist die Schweizer Presse überzeugt. Das Land werde für Investoren immer unattraktiver, so der Tenor.
«Indisches Urteil hilft den Ärmsten nicht», «Unkluges Glivec-Verdikt in Delhi», «Schlechtes Signal», «Fragwürdiges Novartis-Urteil». So einig wie über den indischen Gerichtsspruch vom Montag sind sich die Schweizer Zeitungen selten.
Indien bleibe sich treu; «das Urteil in Sachen Patentierung des Novartis-Medikaments Glivec überrascht nicht», meint der Kommentator der Basler Zeitung: «Es ist die logische Folge einer Reihe von fragwürdigen Entscheiden auf dem Subkontinent, mit denen das geistige Eigentum westlicher Pharmakonzerne beschnitten worden ist – ganz zur Freude der lokalen Generika-Industrie.»
Diese und nicht die Ärmsten des Landes werde vom Urteil des obersten indischen Gerichts profitieren, ist die BAZ überzeugt. Die indische Pharmaindustrie könne sich nun für kurze Zeit freuen. «Auf längere Zeit hingegen wird sich eine Politik des laschen Schutzes von geistigem Eigentum rächen. Die Bereitschaft, in Indien zu investieren, dürfte mit dem jüngsten Urteil für westliche Pharmafirmen erneut abgenommen haben.»
Der Schutz der einheimischen Generika-Industrie Indiens werde «zur Folge haben, dass sich westliche Pharmafirmen auf dem Subkontinent mit der Lancierung neuer Produkte zurückhalten werden», kommentiert die Neue Zürcher Zeitung. «Dass das ein ‹Sieg für die Armen› wäre, muss bezweifelt werden.»
Schliesslich sei es der Patentschutz, der die Basis für Innovationen darstelle, meint die NZZ. «Gerade ein kompliziertes Produkt wie Glivec wäre ohne Schutz des geistigen Eigentums wohl nie entwickelt worden.»
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«Gleiche Regeln für alle»
Auch der Tages-Anzeiger und Der Bund sind im gemeinsamen Kommentar der Meinung, es gehe bei diesem Urteil letztlich um Industriepolitik. «Denn hier schützt ein aufstrebendes Schwellenland seine eigenen Generikahersteller, die dank dem – für lange Zeit fehlenden – Patentschutz gross geworden sind.»
Indien lasse sich auch nicht durch das Patentrecht beirren, dessen Einführung 2005 die Welthandelsorganisation (WTO) als eine der Bedingungen zur Aufnahme Indiens verlangt hatte. «Das gestrige Urteil zeigt, dass Indien dieses Gesetz vorwiegend zu seinen eigenen Gunsten auslegt.»
Dabei würden die indischen Generika-Hersteller, denen es sehr gut laufe, gar keinen besonderen Schutz brauchen. «Zu einem gesunden Wettbewerb gehört, dass alle nach den gleichen Regeln spielen müssen. Insofern wäre es zu begrüssen, wenn der Fall vor die WTO gebracht würde.»
Die Westschweizer Le Temps meint, das indische Urteil könnte zu einem Präzedenzfall in anderen Ländern werden, denn «die WTO verlangt von dutzenden afrikanischen und asiatischen Ländern, bis 2016 ihre Patentgesetze anzupassen».
Generika für Arme zu teuer
Für die Tribune de Genève und 24 heures hat Novartis in Indien eine schallende Ohrfeige erhalten. «Das wird dem Pharmariesen erlauben – man hofft es – wieder zu uns zu kommen, auf die Erde.» Denn «Novartis, arrogant, sich seiner Macht sicher, ist gegen die Mauer gefahren».
Was von der Geschichte bleibe, sei zu Teil auch die Dividende einer «unhaltbaren Situation, dies zudem in einem ‹Geschäft›, das ethisch sehr heikel sei: der Gesundheit».
Schliesslich sei die Frage der Verfügbarkeit von Generika in armen Ländern «nur ein Aspekt eines viel grösseren Problems, das auch dieses Urteil nicht zu lösen vermag. Für viele Menschen in armen Ländern sind selbst Generika zu teuer», so Der Bund und der Tages-Anzeiger.
Damit möglichst viele Menschen eine gute Gesundheitsversorgung erhalten könnten, «wäre ein grosser Akt der Solidarität der westlichen Industrienationen nötig». Doch ob sich die westlichen, hoch verschuldeten Länder zu einer solchen solidarischen Geste bewegen liessen, «ist mehr als fraglich».
«Indien schneidet sich ins eigene Fleisch»
Die Aargauer Zeitung beurteilt die Aussage der Nichtregierungs-Organisationen, dass Indien der Gesundheit der Bevölkerung den Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen gebe, als «problematisch». «Sie unterstellt, dass der Basler Pharmagigant auf dem Buckel der ärmsten Menschen unseres Planeten Geschäfte machen will. Oder noch schlimmer: dass Novartis Menschen, die das Geld für teure Medikamente nicht haben, ihrem tödlichen Schicksal überlässt. Das stimmt nicht: 95 Prozent der indischen Patienten erhalten Glivec gratis.»
Das Urteil zeige, dass sich Unternehmen in Indien «nicht auf die international sanktionierten Standards der globalisierten Wirtschaftsordnung verlassen» könnten. Der Kommentator zeigt sich daher wenig erstaunt, dass Novartis bereits angekündigt hat, künftig Investitionen in Forschung und Entwicklung in Indien nur noch vorsichtig tätigen zu wollen.
«Mit dem Urteil schneidet sich das Schwellenland letztlich ins eigene Fleisch. Und man fragt sich je länger, je mehr – so wie es der Economist in seiner letzten Ausgabe tat: Hat Indien wirklich das Zeug zur (wirtschaftlichen) Grossmacht?»
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