Valérie Baeriswyl, Hochzeitsfotografin in Haiti
Sie wuchs in der friedlichen Landschaft der Westschweiz auf. Und reiste über die ganze Erde bis nach Haiti. Valérie Baeriswyl, Beobachterin der Welt, bereitet ein Buch über Hochzeiten in dem Land vor, das zu ihrer zweiten Heimat geworden ist.
«Als ich klein war, gingen wir in den Ferien auf den Markt und durften uns ein Geschenk aussuchen. Meine Schwester fragte nach einer Barbiepuppe, mein Bruder nach einem kleinen Auto und ich nach einer afrikanischen Maske oder einer Trommel… Es musste einfach etwas von woanders sein.» Das Andere. Valérie konnte nicht sagen, warum es sie immer angezogen hat. Aber so ist es nun einmal.
Mehr
In Haiti muss der Hochzeitstag glamourös sein!
«Zur Fotografie fand ich etwa mit zehn Jahren.» Ihr Vater ist Amateurfotograf, und er entwickelt seine Bilder selbst. «Er hat mir beigebracht, wie man das macht. Wir sassen immer im Keller, was meine Mutter oft zum Murren brachte, weil dort die Wäsche gewaschen wurde und unsere Ausrüstung viel Platz beanspruchte», erinnert sie sich mit einem Lächeln.
Zwischen zehn und 15 Jahren, in einem Alter, in dem viele Mädchen am liebsten Choreographien zu ihren Lieblingsmelodien erfinden, lädt Valérie regelmässig ihre Freundinnen (manchmal auch Freunde) zu Fotoshootings ein. Meistens auf dem Land in ihrer Heimatregion Broye – zwischen den Kantonen Waadt und Freiburg.
«Die Idee war, die Leute gut aussehen zu lassen. In schönen, aussergewöhnlichen Kleidern, dass sie sich einmal in einem anderen Licht sehen. Es waren hübsch gestellte, inszenierte Fotos. Und meine Modelle waren mit dem Ergebnis immer zufrieden.»
Die Welt ruft
Und eines Tages verwandelt sich der Gefallen an Objekten von anderswo in den Wunsch, woanders hinzugehen – oder vielleicht war dieser Wunsch schon immer da. «Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich noch nie Vorurteile oder Angst vor dem Unbekannten. Ich komme nicht aus einer Familie, die viel reist, aber ich bin immer sehr neugierig. Ich möchte Menschen kennen lernen, sehen, wie sie leben, was sie tun, was sie essen… und es auch schmecken.»
Mit 17 Jahren setzt sie mit einer Freundin die Segel in Richtung Bulgarien. «Was für eine lustige Idee… warum gehst du dorthin? Wo ist das?, fragten unsere Freunde.» Dann, am Ende ihrer Ausbildung zur Dokumentalistin, während andere von Mykonos, Rimini oder Ibiza träumen, fliegt sie nach Peru. «Eine Wahl, die ich ein wenig zufällig traf. Ich habe eine Tante, die zu dieser Zeit in Peru lebte. So ging ich dorthin, ohne Spanisch oder gar Englisch zu sprechen.»
Die Reise dauert fünf Monate. Sie bereist einen grossen Teil Südamerikas mit dem Rucksack, ohne Rücksicht auf Komfort oder die unvermeidlichen Peinlichkeiten, die mit dieser Art von Reisen mit einem minimalen Budget einhergehen. Sie bringt auch 40 Filmrollen mit, die sie erst zu Hause entwickeln wird.
Erste Ausstellung, erste Hochzeiten
«Noch während ich dort war, schrieb ich an meine Gemeinde Saint-Aubin, um eine Ausstellung meiner Fotos im Dorfschloss vorzuschlagen.» Ohne überhaupt zu wissen, was auf den Filmrollen war, ist diese Idee ziemlich gewagt! Aber genau so ist Valérie : offenherzig, optimistisch und sehr grosszügig.
«Ich begann, gerne Ausstellungen zu machen. Und ich habe schon viele davon durchgeführt, in der ganzen Region, in Cafés, in Bibliotheken. Ich habe alles selbst bezahlt, die Drucke, die Rahmen, und am Anfang habe ich mich gut verkauft, weil ich die Familie hatte, die Freunde, die mich unterstützten. Aber nach einer Weile geht einem auch etwas die Puste aus…», erzählt sie.
Also beginnt sie zusätzlich zu ihrer Arbeit in einer Lausanner Hochschulbibliothek für lokale Zeitungen über regionale Veranstaltungen zu berichten. Dann kommt sie auf die Hochzeiten. Zunächst begleitet sie einen befreundeten Fotografen als «zweites Objektiv» und kümmert sich um die kleinen Geschichten, die sich hinter den Kulissen abspielen, während die grosse im Rathaus, in der Kirche und auf der Party gespielt wird.
«Nein, es ist nicht kitschig, Hochzeitsfotos zu machen», sagt sie. «Menschen laden einen in ihre Intimität ein, das ist ein grosser Vertrauensbeweis. Nicht jeder will, dass ich bei den Vorbereitungen dabei bin, aber wenn ich dabei sein kann, sind die Bilder am interessantesten. Weil Menschen natürlich sind, gibt es viele kleine Details, verschiedenste Dinge zu sehen, es ist sehr wertvoll.»
Von Paris nach Port-au-Prince
2011, mit 26 Jahren, beschliesst Valérie, Profi zu werden. «Ich fühlte mich unter so vielen Sonntagsfotografen nicht ganz legitim. Es fühlte sich immer ein bisschen so an, als würde ich jemand anderem den Platz wegnehmen. Ich brauchte ein Diplom», sagt sie.
Also macht sie dieses in Paris. Und auch wenn sie sich nicht daran erinnern kann, jemals im Einsatz nach einem Diplom gefragt worden zu sein, gibt sie zu, dass diese Ausbildung zur Fotojournalistin sie «gelehrt hat, wie man eine Geschichte aufbaut». Und das ziemlich gut, gewann sie doch den Grand Prix du Photoreportage Étudiant der Zeitschrift Paris Match für eine Reportage über eine zum Islam konvertierte Französin.
Dann unternimmt sie weitere Reisen, nach Albanien, Zentralasien, Nordafrika, nachdem sie zuvor bereits den Süden Afrikas entdeckt hatte. 2015 befindet sie sich in der Dominikanischen Republik. Und es ist eher zufällig, durch Begegnungen, dass sie die Grenze zu Haiti überquert – eine der ärmsten Regionen der Welt, aber auch ein Land, das stolz seinen Titel als ältester unabhängiger schwarzer Staat der Welt für sich in Anspruch nimmt.
Und ohne es geplant zu haben, lässt sie sich dort nieder. Nur im Sommer kehrt sie jeweils für ein paar Monate in die Schweiz zurück. Ein vollkommener Tapetenwechsel. «Manchmal habe ich das Gefühl, schizophren zu sein, so unterschiedlich sind diese beiden Welten», gibt Valérie zu.
«Wenn man die Opulenz sieht, in der wir in der Schweiz leben, die Einrichtungen, die wir haben… Man merkt nicht genug, dass es ein Segen ist, zur Schule gehen zu können, einfach einen Weg dorthin zu finden, Krankenhäuser zu haben, die funktionieren und dazu beigetragen haben, die Coronakrise zu bewältigen», sagt sie.
«In Haiti können die Menschen nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben, denn um abends etwas essen zu können, müssen sie morgens zur Arbeit gehen, um es sich leisten zu können. Die meisten haben keine Ersparnisse. Sie leben in einer informellen Wirtschaft. Man kann also nicht einmal an eine Quarantäne denken.»
«Zurückbedrängt»
Dieses Jahr zwang sie die Pandemie zu einer vorzeitigen Heimkehr. Sie musste dem eindringlichen Druck ihrer Familie nachgeben, obwohl sie es vorgezogen hätte, in Port-au-Prince zu bleiben, um die Situation vor Ort zu beobachten. Sie hat sich vorübergehend in der gemütlichen Wohnung ihrer Schwester in der Broye-Region eingerichtet.
Als sie in Frankreich ankommt, musste sie, weil die Grenzen zur Schweiz geschlossen sind, einen Monat bei einem Freund in Noisy-le-Sec (im 93. Departement) verbringen.
«Sogar dort, in diesem Vorort von Paris, sah ich Leute, die in einer kleinen Wohnung zu zwölft mit anderen Leuten lebten, junge Leute, die auf der Strasse herumhingen, die kleine Probleme mit der Polizei hatten… Und doch waren wir dort nicht am anderen Ende der Welt! Das ist nur vier Stunden mit dem TGV von der Schweiz entfernt. Also wirklich, ich denke, wir leben hier in einer Blase.»
«Fotojournalistin zu sein, bedeutet immer ein kleines Privileg, als Zeitzeugin die kleine Geschichte in der grossen erzählen zu können. […] eines Tages werden sie die Erinnerung für spätere Generationen sein.»
Valérie Baeriswyl
Mit ihren Lebensentscheidungen und der Ausrichtung ihrer Arbeit ist Valérie in der Tat eine Art Aktivistin. Aber ihr Engagement ist eher sozial, sie mischt sich nicht in die Politik ein. «Fotojournalistin zu sein, bedeutet immer ein kleines Privileg, als Zeitzeugin die kleine Geschichte in der grossen erzählen zu können. Nicht alle Geschichten sind immer unglaublich, aber eines Tages werden sie die Erinnerung für spätere Generationen sein.»
Und wie ist es, weiss zu sein in Haiti, dem Land, das jetzt ihr Land ist und dessen Sprache sie spricht? «Ich will es nicht verleugnen, es ist nicht immer einfach. Die meiste Zeit läuft es wirklich gut. Angesichts der historischen Last dieses Landes und der Schäden, die durch die internationale Hilfe angerichtet wurden, sind aber von Zeit zu Zeit kleine Bemerkungen gegen Weisse, Ausländer im Allgemeinen, unvermeidlich», sagt sie.
«Und oft braucht man nur einen Witz auf Kreolisch zu erzählen, und die Wut lässt sofort nach. Wenn man bedenkt, was Schwarze auf der ganzen Welt tagtäglich durchmachen, ist das wirklich keine grosse Sache. Schauen Sie sich doch einfach die Nachrichten an, mit der Black-Lives-Matter-Bewegung.»
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch