Drei Aufstiege, zwei Räder, ein Tag
Die Schweiz ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse, was Velotouren in den Bergen angeht. Warum? Gute Strassen, riesige Pässe, ausserordentliche Landschaften, und all dies im geschichtsträchtigen Herzen Europas. Nach einem langen Tag, umgeben von Alpengipfeln, stellt sich die Frage, weshalb nicht mehr Leute mit dem Velo unterwegs sind.
Mein Ziel war Andermatt: Ein kleines Skigebiet in der Zentralschweiz, wo sich einige der wichtigsten Passrouten des Landes kreuzen. Ich kam am Abend vor meiner Velotour an und war nervös. Denn meine Vorbereitung auf die Herausforderung (auf einer Strecke von nur etwas mehr als 100 Kilometern galt es, rund 3000 Höhenmeter zu überwinden) war etwas lückenhaft gewesen, und mein Fitness-Level war viel geringer als normalerweise zu dieser Jahreszeit.
Auch das Wetter sah bedrohlich aus. Andermatt, auf drei Seiten von Bergen umgeben, lag im Schatten grimmig aussehender Wolken, und gegen Mittag am folgenden Tag war Regen vorausgesagt. Ich war die einzige Person, die im Restaurant am Hauptplatz draussen ass. Und der Kellner, der eine Schweizer Volkstracht mit warm aussehenden Kniesocken trug, schaute zum Himmel und murmelte vor sich hin, als er an den leeren Tischen vorbeiging. Es gab trotz der hochkarätigen Immobilienentwicklung der letzten Jahre nur wenige Touristen, und es war überraschend einfach gewesen, eine Unterkunft zu finden.
Nach einem gehäuften Teller Teigwaren und einer kurzen Nacht wachte ich früh morgens auf und hatte Glück: Es war ein heller, klarer und frischer Morgen, ideal für eine Tour mit dem Velo. Die Strassen waren zwar vom nächtlichen Regen noch feucht, aber vorerst schien die Sonne. Ein Vorzeichen für einen erfolgreichen Tag? Ich würgte etwas Frühstücksflocken und Eier hinunter und brach noch vor sieben Uhr auf. Denn ich wollte zurück sein, bevor das Wetter umschlug, und auch – wer weiss? – sicherstellen, dass ich meine Tour vor Abfahrt des Zuges, den ich am späten Abend nehmen wollte, zu Ende bringen konnte.
Hors d’oeuvre: Furkapass
Der erste Aufstieg des Tages, auf die Furka-Passhöhe, begann nach nur gerade acht Kilometern Aufwärmstrecke durch die falsche Ebene im geschützten Urserental, die von Andermatt ins Dorf Realp führt. Die Strasse auf die Furka, den vierthöchsten Pass der Schweiz, steigt bis auf 2429 Meter über Meer, etwas weniger als ein Höhenkilometer Unterschied zum Ausgangspunkt Realp. Der Aufstieg selber ist 12 Kilometer lang, mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,2%: Eine harte Schufterei, aber nicht unmöglich, eher ein Test für die Beine, um zu beurteilen, zu welchem Golgatha der Rest des Tages werden dürfte.
Und wenn meine Beine am frühen Morgen im ersten Abschnitt der schwindelerregenden Haarnadelkurven nach Realp auch etwas Schmerzen fühlen mochten, wurden diese neutralisiert durch die schiere Aufregung der Landschaft rund um mich herum: Kurve um Kurve windet sich die Strasse in die Höhe, im Stil der Alpe d’Huez.
Realp und das Tal unten wurden immer kleiner, und als die Sonne hinter Andermatt höher stieg, sah ich glitzernden Schnee und Eis an den Hängen der drei Bergketten, die den Ort umgeben. Es war so lange her, seit ich letztmals zu solch früher Stunde mit dem Velo unterwegs gewesen war, dass ich ganz vergessen hatte, wie ein schräger Lichteinfall solche Wirkungen hervorrufen kann. Manchmal lohnt es sich, den Wecker so früh zu stellen.
Eh ich mich versah, hatte ich die Hälfte des Aufstiegs geschafft, war jenseits des Grats am Ende der Haarnadelkurven, wo das Tal hinter einem verschwindet und sich der Blick auf den in Gletscher eingebetteten gabelförmigen Gipfel auftut (von dem der Name «Furka» abgeleitet ist), der am Ende eines langen kurvigen Aufstiegs liegt, der sich den Berghang hochwindet.
Theoretisch ist diese zweite Hälfte der Strecke einfacher, die Steigung nimmt ab und es hat weniger Haarnadelkurven. An diesem Morgen bläst jedoch ein beissender Wind vom Pass herunter und macht die letzten vier Kilometer zu einer Plackerei. Der Höhepunkt kam, als ich beinahe in ein erschrecktes Murmeltier fuhr, das die Strasse überquerte.
Die lange und schwungvolle Abfahrt nach der kühlen Hochebene auf der Passhöhe ist sicher und angenehm: Gute Strasse, minimaler Verkehr (abgesehen von einem Ferrari und einem Porsche, die sich ein improvisiertes Rennen lieferten) und eine majestätische Sicht auf den nächsten Talboden.
Die Rhone, die in Richtung Genf und Frankreich fliesst, hat hier ihren Ursprung: Kurz nach dem Gipfel sieht man in südlicher Richtung den Rhonegletscher. Wer das Risiko einer Versteifung eingehen will, kann hier eine Pause einlegen. Wie Goethe jedoch, der beschrieb, wie er im November 1779 den Furkapass überquerte – bis zur Taille im Schnee steckend – machte ich mir mehr Gedanken darüber, nach unten zu kommen, ohne dass mir zu kalt würde; und so verzichtete ich darauf, einen Halt einzulegen, um die Aussicht zu geniessen.
Der Riese Nufenen
Da ich die Haarnadelkurven des Grimselpasses ignorierte (ein anderer Aufstieg für einen anderen Tag), brachten mich ein paar rasche Kilometer durch das Tal an den Ausgangspunkt für meinen nächsten Aufstieg, auf den mächtigen Nufenen. Ich fühlte mich nach dem Furkapass frisch, wusste aber, dass dies der entscheidende Punkt des Tages sein würde.
Die zweithöchste Passstrasse der Schweiz ist ein Biest: Sie führt bis auf 2478 Meter über Meer, mit einer durchschnittlichen Steigung von 8,5% und einigen Abschnitten, wo diese mehr als 10% beträgt. Wenn ich diesen Pass intakt und mit etwas verbleibendem Treibstoff in meinem «Tank» schaffen würde, könnte ich den letzten Aufstieg auch noch kriechend durchziehen, um nach Hause zu kommen.
Nach vier Kilometern eines wenig anregenden Aufstiegs durch Kiefern und Weideland, noch bevor die grossartigen Aussichten und Serpentinen näher am Gipfel begannen, traf ich zum ersten Mal an diesem Tag auf eine andere Person, die mit dem Velo unterwegs war. Monica war eine seriöse Triathletin, die es aber an diesem Tag leichter nahm. Und da sie etwa im selben Tempo in die Pedale trat wie ich, blieben wir zusammen und plauderten bis zum Gipfel: Die Gesellschaft war willkommen auf diesem Aufstieg, der nur als stetig und unnachgiebig, teilweise gar als schwierig steil bezeichnet werden kann.
Monika lebt in der Nähe von Bern, stammt aber ursprünglich aus der Region Uri, wie sie mir unter Keuchen erzählte. Sie war hier, um ein paar Tage zu trainieren, und hatte heute die genau gleiche Route auf dem Programm wie ich. War es normal, auf solch idealen Aufstiegen nur so wenige Bikes zu sehen? Man sehe hier viele Bikes, sagte sie, aber meistens seien es Motorräder… Die Region wird nicht eben überrannt von Strassenvelofahrern. Wir sahen auf unserem Aufstieg nur noch einen anderen, einen dünnen Velofahrer in BMC-Kleidung, vielleicht war es ein Profi. Wieso das Interesse so gering sei, fragte ich sie. Sie wusste es nicht.
Auf der Passhöhe verabschiedete ich mich von Monica. Obwohl meine Beine sich noch einigermassen lebendig anfühlten, brauchte mein Körper dringend Kalorien, und so legte ich in dem erstaunlich belebten Café/Restaurant, von dem man aus einen Blick auf die Haarnadelkurven hat, die wir eben bezwungen hatten, eine Pause ein. Ich zeigte auf ein grosses Stück Kuchen und fragte, Aprikose? Abricot? Der Kellner sah mich verwirrt an und fragte, Albicocca? Ich hatte die Grenze zum Kanton Tessin überquert und befand mich nun im italienischsprachigen Teil der Schweiz.
Und in der Tat waren die Eindrücke auf der langen, schnellen Abfahrt Richtung Airolo (auf der einzig «schlechten» Strasse an diesem Tag, mit einer militärisch anmutenden Oberfläche aus Zementplatten mit ärgerlichen Furchen dazwischen) stark vom Süden geprägt. Diese Seite des Nufenen ist mit kleinen Dörfern überzogen, die Gedanken an die Toskana aufkommen lassen. Und die Sonne, die auf dem Pass etwas von Wolken verdeckt gewesen war, kam heraus und begrüsste mich bei meiner Ankunft in der Stadt mit dem schönen Namen Airolo; ich war zurück auf «nur» noch 1175 Metern über Meer.
Kopfsteinpflaster am Gotthard
Ich hätte gerne etwas südlichen Komfort genossen, aber wie das Profil des Tages klarmachte, was herunterkommt, muss auch wieder hinauf: Kaum hatte ich die Stadt erreicht, begann auch schon der 12 Kilometer lange Aufstieg auf den Gotthardpass.
Mittlerweile begann ich, trotz Kuchen und Gel, ernsthaft schlaff zu werden. Ich war seit fünf Stunden unterwegs. Am Himmel zogen die prognostizierten dunklen Wolken auf, und ich begann zu tun, was, so nehme ich an, manchmal auch Profis tun: Wenn man in den Bergen unterwegs ist und sich nur auf Wasser, Zucker und zwei dünne Räder verlässt, können Zweifel an der eigenen Vernunft aufkommen.
Aber wenn es je einen Berg gab, der die Mühe wirklich wert ist, muss es der Gotthard sein. Aus vielen Gründen. Obschon sie auf den ersten Kilometern gar nicht speziell erscheint, hat die Strasse einen hohen symbolischen Wert: Über Jahrhunderte hinweg war der Gotthard nicht nur ein Pass, der den Norden und Süden der Schweiz miteinander verband, sondern er war eine der Hauptrouten zwischen dem Norden und Süden Europas. Die Strasse aus Deutschland nach Italien führt (wie die Eisenbahnstrecke) dank den bekannten Tunnels heute zwar buchstäblich «durch» den Gotthard. Mit der römischen Kopfsteinpflasterstrasse, die vom Tessin auf die Passhöhe und zum alten Kapuziner-Hospiz führt, das heute ein Hotel ist, blieb aber eine wunderbare Spur der Vergangenheit erhalten.
Und ich gebe zu, es war ein besonderes Gefühl, für die restlichen etwa 7 Kilometer bis zur Passhöhe den Wechsel vom glatten Asphalt zu den Hunderte von Jahren alten Kopfsteinen zu machen. Es war etwas Besonderes, diese Strasse fast für mich allein zu haben, diesen Abschnitt der Geschichte, auf dem Autos nur selten zu sehen sind.
Und es war etwas Besonderes, über eine derart holprige Strasse auf einen Pass zu fahren; etwas unbequem zwar, aber machbar. Und obschon der Regen anfing, bevor ich oben ankam und kaum noch die nötige Energie hatte: Die Sicht auf die alten Haarnadelkurven, die sich vor mir den Berg hochwanden und in einer gipfelfreien Lücke zu verschwinden schienen, umgeben von Wasserfällen und Bächen, war mehr als genug Motivation, nicht aufzugeben.
Es war der erste Aufstieg des Tages, an dem sich neben mir auch andere abstrampelten. Nach einigen Kilometern überholte ich zwei Briten, die eine fünftägige Tour durch die Berge abschlossen, danach traf ich ein älteres Paar mit ihrem Grosssohn, die in eindrucksvollem Tempo bergauf fuhren, was erstaunlich war, bis ich merkte, dass sie Elektrovelos benutzten. Zudem stiess ich auf einen weiteren Briten, einen schlanken Rennfahrer, der mich bei seinem Sprint zum Gipfel brutal abhängte. Niemand fuhr von der Passhöhe ins Tal, was wahrscheinlich auf den nassen, rutschigen Klopfsteinen keine gute Idee gewesen wäre.
Die Passhöhe, mit ihren Restaurants und einem grossen Parkplatz, ist sehr belebt, und ein weiterer Ort, an dem man nicht verweilen will, wenn das Wetter schlecht wird, ausser man setzt sich zum Essen in eine der Gaststätten. Goethe, der 1779 auf einer seiner Reisen von der anderen Seite auf den Gotthard gekommenwar (siehe: Goethe: Briefe aus der SchweizExterner Link), beschrieb einen Pater, der von Airolo gekommen war, als «so erfroren, dass er bei seiner Ankunft kein Wort hervorbringen konnte». Zugegeben, es war damals November. Aber sogar im Juli wäre eine zusätzliche Schicht Kleider gut gewesen, vor allem für die letzte Abfahrt auf der feuchten Strasse zurück ins Tal. Ich begnügte mich dann mit einer Dusche sowie mit einem Bier und einer Rösti (typisches Schweizer Kartoffelgericht) in Andermatt: Keine schlechte Alternative zum Ende eines anstrengenden, aber erfolgreichen Tags.
Die Schweizer Ausnahme?
Die meisten Leute denken an die französischen Alpen, die Pyrenäen oder auch die Dolomiten in Italien, wenn es um quasi mythische Aufstiege mit dem Fahrrad geht. Die Schweiz hinkt hinterher, was allerdings eher eine Folge der Umstände sein könnte, als dass sie es wirklich verdiente.
Zwar finden in der Schweiz jedes Jahr zwei grosse Etappenrennen statt (Tour de Suisse und Tour de Romandie), doch keines davon hat auch nur annähernd eine Reichweite wie die «Grands Tours» in Frankreich, Italien oder Spanien; bei der Tour de France liegt zum Beispiel die Zahl der TV-Zuschauer allein in Milliardenhöhe.
Doch der gute Zustand der Strassen, die riesigen Bergpässe und die spektakulären Landschaften verhelfen der Schweiz im Kreis von Velofahrern und Velofahrerinnen zunehmend zu einem Ruf als eines der am besten gehüteten Geheimnisse.
«Ein Veloparadies», hiess es zum Beispiel in der britischen Publikation Road Cycling UKExterner Link im letzten Jahr. «Sie tun nichts halbwegs», so das Urteil im Bicycling MagazineExterner Link, das sich auf die enormen Aussichten und die massiven Steigungen bezog. Auch ein Abstecher der Tour de France, der im letzten Jahr über Schweizer Terrain führte, löste vermehrt Interesse aus.
Zudem setzen verschiedene Reiseveranstalter mittlerweile auf potentielle Touristen, welche die Schweiz auf zwei Rädern erkunden möchten. Informationen über Routen, Events und Unterkünfte, die sich gezielt an Rennvelo- oder Mountainbike-Fahrende richten, finden sich auch auf der Website der offiziellen Tourismus-Organisation des Landes (Tourismus SchweizExterner Link).
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