«Man sieht eine schrittweise Entdemokratisierung»
Die Venedig-Kommission ist eines der wichtigsten juristischen Gremien in Europa. Theoretisch spricht sie nur Empfehlungen aus, faktisch gestaltet sie das rechtliche Fundament des Kontinents. Gespräch mit der Schweizer Vizepräsidentin.
Die Venedig-Kommission – offiziell die Europäische Kommission für Demokratie durch RechtExterner Link – wurde 1990 vom Europarat ins Leben gerufen, um den neu gegründeten Staaten in Osteuropa in Verfassungsfragen behilflich zu sein.
Formal ist die Kommission nur ein Fachgremium des Europarates, faktisch aber das weltweit führende Organ für Verfassungs- und Rechtsfragen. Sie hat zudem den Vorteil, dass sie Gutachten schnell abgeben kann, wenn die Angelegenheit noch politisch relevant ist. Der frühere EU-Kommissionspräsident Juncker bezeichnete sie darum auch als die «verfassungsrechtliche Feuerwehr Europas».
Die Schweizer Rechtsprofessorin Regina KienerExterner Link von der Universität Zürich ist seit 2013 Mitglied der Venedig-Kommission. Sie hat seit letztem Jahr das Amt der Vizepräsidentin inne, das alle zwei Jahre rotiert.
swissinfo.ch: Die Venedig-Kommission wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründet, um den jungen Demokratien «juristische Soforthilfe in Verfassungsfragen» zu leisten. Braucht es sie noch heute?
Regina Kiener: Die Zahl der Anfragen für Gutachten sprechen eine deutliche Sprache. Die Kommission kommt viermal jährlich zusammen, allein in der aktuellen März-Session stehen 16 Gutachten aus 11 Staaten an. Darunter auch aus Ländern, die nicht dem Europarat angehören, etwa Kyrgyzstan und Kazakhstan.
Die Kommission ist unscheinbar, insbesondere in der Schweiz ist sie kaum bekannt. Ist das nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie seit 1990 in praktisch allen relevanten politischen Entwicklungen auf dem Kontinent involviert war?
Das stimmt, die Kommission wird hierzulande weder politisch noch medial thematisiert. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es nur ein einziges Gutachten zur Schweiz gibt, zu einer Vorlage aus dem Kanton Tessin, aus dem Jahr 2001.
Unter welchen Voraussetzungen würde die Kommission denn ein Gutachten zur Schweiz erstellen?
Die Kommission hat kein Selbstbefassungsrecht, das heisst eine Anfrage müsste aus der Schweiz selber kommen. Aber es ist hierzulande kaum denkbar, dass man ein Gesetzgebungsprojekt oder eine Verfassungsinitiative vorgängig einer internationalen Experten-Kommission unterbreiten würde.
Alternativ müsste der Europarat ein Gutachten initiieren. Ich kenne die Politik des Europarats nicht, aber es gibt wohl andere Dringlichkeiten, als die Rechtsstaatlichkeit von Rechtsetzungsvorhaben in einer funktionierenden Demokratie zu prüfen.
Offenbar ist die Expertise in Mittel- und Osteuropa noch immer gefragt. Stellen Sie einen Rückschritt in rechtlicher Hinsicht fest?
Generell kann man meiner Meinung nach nicht von einem Rückgang von demokratischen und rechtstaatlichen Standards sprechen. Die Zahl der Gutachten sollte nicht falsch verstanden werden.
Aus Südosteuropa beispielsweise haben wir vermehrt Anfragen in den letzten Jahren, etwa aus Albanien. Diese Staaten haben ein echtes Interesse daran gewisse Reformen umzusetzen – etwa, weil sie längerfristig den EU-Beitritt anstreben.
Dazu kommt: Dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs zeigt sich, welche Verfassungselemente aus den 1990er-Jahren sich bewährt haben und welche nicht. Zahlreiche Staaten reformieren ihre Justiz. Einzelne Staaten – etwa Georgien oder Armenien– gehen etwa von präsidialen zu parlamentarischen Regierungssystemen über.
Aber zumindest in manchen Ländern gibt es doch bedenkliche Entwicklungen?
Punktuell gibt es die durchaus. Einzelne Staaten sind innerhalb der EU bereits stark in die Kritik geraten, bis hin zur Einleitung des EU-eigenen Rechtsstaatsmechanismus. Was man in diesen Staaten sieht, ist eine Aushöhlung demokratischer Institutionen auf dem Weg der Gesetzgebung, etwa wenn die Justiz geschwächt oder das Wahlrecht eingeschränkt wird. Es ist eine schrittweise Entdemokratisierung.
Solche Vorgänge sind ja politischer Natur. Stellt sich hier nicht die Frage der Verpolitisierung der Kommissionstätigkeit?
Die Kommission ist ein Experten-Gremium ohne politische Agenda. Ihre Überzeugungskraft speist sich aus eben dieser Eigenschaft. Sie kann nicht selbstständig tätig werden, sondern nur auf Gesuch von ausgewählten Akteuren. Es muss also ein Bedarf identifiziert worden sein, sei es in einem Mitgliedstaat, sei es innerhalb des Europarates.
Der Vorwurf, die Kommission werde durch die Politik instrumentalisiert, wird immer wieder erhoben – vor allem von Staaten, in denen die Kommission rechtsstaatliche Mängel festgestellt hat.
Denn der Bereich, in denen sich die Kommission bewegt, ist äusserst heikel. Es geht um zentrale Zuständigkeiten der Staaten: Wie organisiert man die Regierung, die Justiz, die politischen Parteien? Das sind Kernbereiche von staatlicher Souveränität und Autonomie. Unser Zugang zu diesen Themen muss apolitisch sein, sonst verpufft die Überzeugungskraft der Kommission.
Gehen wir kurz auf das Beispiel Ungarn ein. Die kritische Haltung der EU gegen das Land basiert ursprünglich auch auf der Arbeit der Venedig-Kommission. Inwieweit beeinflusst die Kommission die EU?
Interessanterweise hat die EU nie ein Gutachten zu einem Mitgliedstaat angefordert, obwohl sie das theoretisch könnte. Aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet, sehen ich da eine gewisse Arbeitsteilung. Die EU ist eine politische Instanz, die Venedig-Kommission ein unabhängiges juristisches Expertengremium. Indem sie ihre Arbeit als Grundlage nimmt, kann die EU ihre Forderungen auf eine neutrale Expertenbasis stellen.
Der gleiche Mechanismus greift auch etwa, wenn es darum geht, den Stand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Staaten zu bewerten, die sich um einen EU-Beitritt bemühen.
In Europa ist ausgerechnet Belarus nicht dabei, das immer mehr in den Autoritarismus abdriftet. Wie steht die Kommission Weissrussland bei?
Belarus ist ein assoziiertes Mitglied. Als solches kann es Gutachten anfordern. Was dabei interessant ist: Zwischen 1996 und 2012 hat die Kommission an die 10 Gutachten erstellt. Zuerst auf Anfrage des belarussischen Parlaments, vor allem zu Verfassungsfragen.
Ab 2006, der dritten Amtszeit von Alexander Lukaschenko, hat sich das verändert: Seither war es der Europarat, der zumeist im Zusammenhang mit der Versammlungs- und Meinungsfreiheit die Kommission beauftragte. Aktuell erstellen wir ein Gutachten zu Strafbestimmungen, die sich gegen friedliche Demonstranten und die Opposition im Land richten.
Die Kommission ist in den letzten Jahren gewachsen, es sind Länder aus Zentralasien, dem Maghreb und sogar Lateinamerika dabei. Inwieweit wird damit europäische soft power ausgeübt?
Die Venedig-Kommission hat keine Durchsetzungsmacht und keinen Kontrollmechanismus, auch sind die Gutachten nicht bindend. Politisch relevant können sie trotzdem werden. Und zwar, wenn sie indirekt als Hebel eingesetzt werden – sei es im Zusammenhang mit der Bewertung von Rechtstaatlichkeit bei der Aufnahme von Staaten in die EU, oder wenn es darum geht, an finanzielle Mittel bei internationalen Institutionen zu gelangen, die die Erfüllung von demokratischen und rechtstaatlichen Voraussetzungen verlangen.
Das beste Beispiel ist die Antikorruptions-Gesetzgebung in der Ukraine. Die internationale Gemeinschaft drängte das Land auf die Errichtung eines Antikorruptions-Gerichts. Das ukrainische Parlament hat sich indessen geweigert, die Empfehlungen aus dem Gutachten der Kommission zu übernehmen. Was wiederum dazu führte, dass Weltbank, IWF und G8 eine Zahlung so lange sistierten, bis das Land diese Empfehlungen umsetzte. Es ging dabei immerhin um 4 Milliarden Dollar.
Man sollte jedoch eines unbedingt bedenken: Es ist weder Absicht noch Aufgabe der Kommission, die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Das wäre nicht zielführend, da jeder Staat sich anders konstituiert – diese Regelwerke sind sehr subtil, man kann Rechtsnormen nicht beliebig übertragen, sondern muss länder- und kontextbezogen vorgehen. Und dieser Ansatz trägt wiederum zur Akzeptanz unserer Arbeit bei.
Die Bundesrichterin Monique Jametti ist stellvertretendes Mitglied in der Kommission. Beeinflussen hier Schweizer Richterinnen EU-Recht?
Da muss ich Sie enttäuschen. Diese Verbindung scheint mir etwas gar weit hergeholt. Die Gutachten der Venedig-Kommission mögen Auswirkungen auf die Politik gewisser Akteure innerhalb der EU haben, sie beeinflussen aber nicht EU-Recht. Und unabhängig von ihrem Hauptberuf sind alle Mitglieder und Ersatzmitglieder der Kommission Fachexperten ohne politische Agenda.
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