«Wird die Schweiz nicht einig, fliege ich nicht nach Brüssel»
"Die Zeit für einen Abschluss in diesem Jahr wird knapp", sagt Roberto Balzaretti. Der Schweizer Staatssekretär für europäische Angelegenheiten verrät im Interview mit swissinfo.ch, warum er trotz innenpolitischer Blockade optimistisch bleibt.
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Rahmenabkommen: Darum geht es in der heissen Phase
Brüssel drängt die Schweiz zu einem Rahmenabkommen, doch die Opposition dagegen wächst. Die Gewerkschaften haben sich letzte Woche geweigert, mit der Regierung zu verhandeln. Bedeutet dies das Ende im Ringen um das Rahmenabkommen? Der Schweizer Chefunterhändler, Staatssekretär Roberto Balzaretti, gibt Auskunft.
swissinfo.ch: Angenommen, die Schweiz kann die gegenwärtige Blockade um die flankierenden Massnahmen innenpolitisch lösen, ist dann auch mit der EU alles gelöst?
Roberto Balzaretti: Grundsätzlich gilt in jeder Verhandlung: Alle Punkte sind nicht erledigt, bis alle Fragen gelöst sind. In vielen Punkten sind wir weit fortgeschritten. Es gibt aber abgesehen von den flankierenden Massnahmen tatsächlich noch ein paar andere Dinge, die wir mit der EU zu diskutieren haben, etwa die staatlichen Beihilfen, das ist eine wichtige Frage. Wir müssen auch noch das ganze System der Streitbeilegung überprüfen. Dort sind wir fast soweit, aber es ist noch nicht ganz zu Ende gebracht. Dann folgen die üblichen, aber wichtigen Arbeiten: das Verfassen der Einleitungsbestimmungen, Schlussbestimmungen und so weiter. In der Tat bleibt aber die Personenfreizügigkeit eine wichtige offene Frage.
swissinfo.ch: Und in dieser sind die flankierenden Massnahmen, dabei insbesondere der Lohnschutz, der Knackpunkt, richtig?
R. B.: Nein. Das Personenfreizügigkeitsabkommen ist eines von fünf Abkommen, das unter das institutionelle Abkommen fällt. Da sind wir mit der EU einig. Wir müssen nun schauen, dass die Besonderheiten in der Umsetzung der Personenfreizügigkeit, sprich die flankierenden Massnahmen, auch bei einer neuen institutionellen Regelung spezifisch bleiben für die Schweiz.
Die EU anerkennt eine gewisse Besonderheit des Arbeitsmarktes in der Schweiz. Weiter sind wir in den Verhandlungen aber bisher gar nicht gegangen. Das Mandat des Bundesrates lautet, das System der flankierenden Massnahmen als solches aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wissen wir, dass dies für die EU zu viel ist. Soweit sind wir heute. Alles andere haben wir noch nicht diskutiert, weil wir zuerst die Konsultationen in der Schweiz durchführen müssen. Wir müssen wissen, was für die Sozialpartner in der Schweiz möglich ist.
«Wir machen sicher keine faulen Konzessionen, nur um diese Börsenäquivalenz zu bekommen.»
swissinfo.ch: Damit beziehen Sie ihr Verhandlungsmandat direkt vom Schweizer Volk.
R. B.: In dieser spezifischen Frage kann man das so sagen. Die Sozialpartner und die Vertreter der Kantone vertreten einen guten Teil der Volksmeinung. Der Bundesrat möchte zuerst wissen, was Kantone, Gewerkschaften und Arbeitgeber zu tun bereit sind.
swissinfo.ch: Eine Sprecherin der EU hat nun das Szenario gezeichnet, dass die EU die Anerkennung der Börsenäquivalenz erneut nicht gewähren könnte. Damit würde der Schweiz ein enormer wirtschaftlicher Schaden drohen.
R. B.: EU-Kommissionspräsident Juncker selbst hat vor einigen Monaten gesagt, dass die Anerkennung der Börsenäquivalenz für das laufende Jahr gegeben sei, dass aber bei einer künftigen Anerkennung Fortschritte bei den Verhandlungen um ein institutionelles Abkommen eine Rolle spielen würden. Wir wissen also, dass die EU die beiden Themen verknüpft hat. Wir sind gegen diese Verknüpfung. Wir finden sie falsch. Wir empfinden sie als diskriminierend. Aber die EU entscheidet, was für sie äquivalent ist oder nicht.
swissinfo.ch: Damit herrscht nun Druck. Ist er in den Verhandlungen spürbar?
R. B.: Das Ziel bleibt dasselbe. Wir müssen beim Rahmenabkommen eine gute Lösung haben. Kommt diese nicht zustande, dann gibt es kein Abkommen. Wenn die Konsequenz ist, dass die EU die Börsenäquivalenz nicht gibt, dann ist das so. Wir machen sicher keine faulen Konzessionen, nur um diese Börsenäquivalenz zu bekommen.
swissinfo.ch: Sagen Sie das auch in Brüssel so deutlich?
R. B.: Ja.
swissinfo.ch: Was hören sie dann?
R. B.: Das wird zur Kenntnis genommen.
swissinfo.ch: Das heisst, die Schweiz hat noch Zeit?
«Die Lage wird im nächsten Jahr nicht einfacher.»
R. B.: Es ist nicht so, dass ich ausserhalb der Wirklichkeit lebe: Wenn wir die Verhandlungen in diesem Jahr abschliessen möchten, wird die Zeit knapp. Aber ich glaube daran, dass ein Abschluss möglich ist. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen, denn das nächste Jahr wird komplizierter. Innenpolitisch wegen der Wahlen, auch die EU wählt ein neues Parlament, eine neue Kommission. Der Brexit steht an. Die Lage wird nicht einfacher.
swissinfo.ch: Wann gehen Sie wieder nach Brüssel?
R. B.: Ich weiss es nicht. Die innenpolitische Diskussion soll nun zu Ende geführt werden. Es braucht dann eine Aussprache im Bundesrat. Danach kann man in diesem Punkt schauen, ob und was mit der EU verhandelt werden kann. In allen andern Punkten arbeiten wir ja ständig weiter.
swissinfo.ch: Aber vor einer Einigung der Sozialpartner in der Schweiz fliegen Sie nicht nach Brüssel?
R. B.: Nein, wir diskutieren den Punkt «flankierende Massnahmen» im Moment nicht mit der EU. Ich kann aber sagen, was am Anfang meines Mandats steht: Dass der Arbeiternehmerschutz in der Schweiz auf keinen Fall geschwächt werden darf.
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