Zwei Sekunden Handy sind 28 Meter Blindflug
Wer am Steuer das Smartphone nutzt, riskiert auch bei 50 km/h schon schwerste Unfälle. Trotz hohem Risiko, Bussen und zahlreichen Sensibilisierungskampagnen verschwindet die Unsitte nicht aus dem Verkehrsalltag. Was kann sie stoppen?
Sind Sie auch schon (beinahe) von einem Auto überrollt worden, weil die Lenkerin aufs Smartphone statt auf die Strasse schaute? Hätten Sie diesen Smombie (Kofferwort aus «Smartphone» und Zombie») auch am liebsten ins Pfefferland gewünscht?
Aber Hand aufs Herz! Haben Sie als Automobilist oder Velofahrerin selber auch schon während der Fahrt am Handy hantiert: dem Anruf der Freundin nicht widerstehen können, oder schnell auf facebook geguckt?
Viele Leute können nicht einmal gleichzeitig texten und gehen. Warum also texten und fahren sie gleichzeitig? Diese Frage wirft ein Video einer südafrikanischen Sicherheitskampagne #ItCanWait (der Regierung der Provinz Western Cape) auf, das auf Youtube für weltweite Beachtung sorgte:
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Es kann warten!
Wenn Sie bei 50km/h zwei Sekunden lang aufs Handy schauen, legen Sie 28 Meter im «Blindflug» zurück. Solche «Flüge» können tödlich enden, vor allem für andere Verkehrsteilnehmer wie Fussgänger oder Velofahrer, die Sie übersehen. Was dabei mit dem Opfer geschieht, führt ein Crashtest des Versicherungsunternehmens AXA Winterthur vor Augen:
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28 Meter im «Blindflug»
Trotzdem gehören Auto- und Velofahrende Smombies weltweit zum Verkehrsalltag. Allein in der Schweiz registriert die Polizei jährlich weit über 10’000 Unfälle, bei denen abgelenkte Fahrerinnen oder Fahrer (mit)verantwortlich waren. Bei Unfällen mit Toten oder Schwerverletzten gehört Ablenkung zusammen mit Alkohol- und Geschwindigkeitseinfluss inzwischen zu den drei HauptursachenExterner Link.
Wenn die Polizei dahinterkommt, haben ablenkende Verrichtungen während der Fahrt, wie SMS schreiben, E-Mails lesen oder Essen, in der Schweiz eine Anzeige mit Busse oder Entzug des Führerausweises zur Folge. 2016 wurden laut Bundesamt für Strassen (Astra) aufgrund von Ablenkung knapp 1700 Führerausweise entzogenExterner Link. 7,3% mehr als im Vorjahr.
Wer beim Telefonieren (ohne Freisprechanlage) erwischt wird, kommt hingegen mit einer Ordnungsbusse von 100 Franken davon.
Bei Unfall kann es weh tun
Oft sei es nicht möglich zu beweisen, dass bei Unfällen die Nutzung des Handys eine Rolle spielte, sagt Monika Erb von der Mobiliar Versicherung in Bern. Aber manchmal geben die Unfallverursacher zu, dass sie durch die Nutzung des Handys abgelenkt waren. Manchmal gebe es Zeugenaussagen und manchmal könne die Untersuchungsbehörde nach Konfiszierung des Handys feststellen, dass dieses zum Zeitpunkt des Unfalls aktiv war. In solchen Fällen könne die Haftpflicht-Versicherung die Leistung wegen grobfahrlässigem Verhalten um mindestens 10% kürzen.
Jolanda Egger, Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern bestätigt, dass es bei Unfällen grundsätzlich zur Tatbestandsaufnahme gehöre abzuklären, ob eine Form von Ablenkung – beispielsweise durch die Bedienung elektronischer Geräte – vorlag. Dabei könne das Gerät von der Polizei sichergestellt werden.
Sollte man Handy nutzenden Verkehrsteilnehmern angesichts des Gefahrenpotentials generell den Führerausweis entziehen oder zumindest höhere Bussen verhängen? Solche Forderungen haben keine starke Lobby.
«Ich werde nicht gerne gebüsst»
David Venetz, Mediensprecher beim einflussreichsten Mobilitätsverband Touring Club Schweiz (TCS) will das Risiko zwar nicht verharmlosen: «Fast jede und jeder hat ein Smartphone. Bei vielen sind diese Geräte omnipräsent, leider auch während der Fahrt», sagt er.
Von einem Entzug des Fahrausweises will Venetz aber nichts wissen: «Das ist eine einschneidende Massnahme. Aus unserer Sicht sind die bestehenden Vorschriften und entsprechenden Konsequenzen bei Zuwiderhandlungen ausreichend.» Entscheidend sei, dass die geltenden Vorschriften respektiert und umgesetzt würden. «Denn letztlich liegt eine unfallfreie Fahrt nicht nur in der eigenen Verantwortung, sondern auch im eigenen Interesse.»
Das stimmt: Verantwortungsbewusste Personen nutzen das Handy nicht beim Autofahren, aber für die anderen braucht es Verbote und Sanktionen.
Venetz hat selber auch schon während der Fahrt das Handy bedient. «Ich bin deswegen einmal gebüsst worden», gibt der TCS-Sprecher unumwunden zu. «Mittlerweile lasse ich das aber sein. Ich werde – ehrlich gesagt – nicht gerne gebüsst.»
Auch der Verkehrsclub der Schweiz (VCS), der sich für nachhaltige Mobilität einsetzt, will sich nicht für härtere Strafen aussprechen.
VCS-Sprecher Matthias Müller, der laut eigenen Angaben das Handy weder auf dem Velo noch im Auto während der Fahrt nutzt, plädiert für eine Busse, die der Schwere des Verkehrsdelikts entspricht. Manipulationen am Smartphone beurteilt er als ähnlich schweres Delikt, wie das Überfahren eines Rotlichts, was in der Schweiz mit einer Busse von mindestens 120 Franken geahndet wird. Zudem sei die Durchsetzung noch wichtiger als die eigentliche Sanktion. Es brauche deshalb mehr Polizeikontrollen und vor allem Sensibilisierungsmassnahmen.
Ähnlich tönt es bei Roadcross SchweizExterner Link, einer Stiftung für Verkehrssicherheit, die sich für Unfallopfer einsetzt. Dass sich die Situation bei härteren Strafen verbessern würde, hält Mediensprecher Stefan Krähenbühl zumindest für möglich. Entscheidender sind für ihn aber vermehrte Polizeikontrollen und Sensibilisierungsmassnahmen.
«Ich bin gerade mit dem Auto unterwegs»
Sogar in die entgegengesetzte Richtung zielte im Herbst 2016 ein politischer Vorstoss. Erich Hess, Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei SVP, und 63 Mitunterzeichner aus dem bürgerlichen Lager forderten mit ihrer parlamentarischen Initiative «Ordnungsbussen statt Administrativ-Massnahmen bei Ablenkung im Strassenverkehr.»
Diese Massnahmen hätten nicht nur für die betroffenen Lenker und den Staat hohe Kosten zur Folge, begründete Hess den Vorstoss. Laut dem Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) handelt es sich «bei solchen Regelverstössen vielfach lediglich um minderschwere Fälle (z.B. die unerlaubte Verwendung von Telefonen oder Navigationsgeräten).»
Der Vorstoss sorgte bei einigen Verkehrssicherheits-Experten für Kopfschütteln. Im Februar dieses Jahres hat Hess die parlamentarische Initiative zurückgezogen. Sie sei zu wenig präzise formuliert gewesen, sagt er. Er werde vielleicht noch einmal einen Vorstoss in der gleichen Sache einreichen.
«Ich sage nicht, dass es gut sei, im Verkehr mit dem Handy zu manipulieren. Aber es ist in keinem Verhältnis, dass jemand deswegen gleich den Ausweis abgeben muss.» Wer im Beruf auf den Führerausweis angewiesen sei, werde dadurch zu hart bestraft.
Den Anruf von swissinfo.ch aufs Handy nimmt der rechtskonservative Parlamentarier im Auto entgegen: «Moment bitte, ich muss auf Lautsprecher umschalten. Ich bin unterwegs», sagt Hess und schiebt nach, dass er selber das Handy beim Autofahren nur zum Telefonieren mit Freisprechanlage benutze.
«Auch nicht mit Freisprechanlage»
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) empfiehlt, das Handy während der Fahrt überhaupt nicht zu nutzen, auch nicht mit Freisprechanlage. Solche Gespräche seien eine Ablenkung», erklärt BfU-Sprecher Marc Bächler.
Es mache einen Unterschied, ob die lenkende Person mit einem Mitfahrer spreche oder über die Freisprechanlage telefoniere. «Der Mitfahrer sieht, wenn man beispielsweise an eine schwierige Kreuzung kommt oder in eine heikle Situation gerät und hört auf zu reden.»
Laut BfU konnte in einer Meta-Analyse von 2008Externer Link (über 37 Studien) nachgewiesen werden, dass die Reaktionszeit von Lenkenden beim Sprechen mit Handy oder Freisprechanlage um rund 0,2 Sekunden ansteigt.
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