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Viktoriia und Polina lernen intensiv Deutsch – wozu eigentlich?

Bei den Hausaufgaben
Viktoriia hilft Polina bei den Hausaufgaben – oder umgekehrt? Gaby Ochsenbein

Polina büffelt deutsche Vokabeln in der Schule, und ihre Mutter Viktoriia Bilychenko besucht seit Neustem fünfmal die Woche einen Deutsch-Intensivkurs. Gleichzeitig hoffen die Beiden auf ein baldiges Ende des Krieges, damit sie in die Ukraine heimkehren können. Eine absurde Situation!

Die 11-jährige Polina ist schon ziemlich gut im Konjugieren von Verben, sie kennt auch alle Farben, die Zahlen von 1-100 und Adjektive wie «dick und dünn, gross und klein, warm und kalt» und viele mehr. Das Kommunizieren ist allerdings noch immer schwierig, denn mit dem Hörverstehen hapert es, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Nach den Sommerferien kommt das Mädchen aus der Ukraine in die 6. Regelklasse im Quartier. Die Unterlagen wurden uns bereits zugeschickt.

Was bringt die Zukunft?

Viktoriia besuchte bislang zweimal in der Woche einen Deutschkurs. Das genügte ihr aber nicht, denn sie möchte rascher vorwärtskommen. Und so geht sie nun täglich von 8 – 10 in einen Intensivkurs an der Volkshochschule – neben ihrem Job als IT-Coach. «Irgendwie komisch», sagte sie mir eines Tages. «Ich bin hier in der Schweiz, keine Ahnung wie lange, und lerne Deutsch. Muss ich mir jetzt ein neues Leben aufbauen?»

Wer weiss das schon. Klar ist lediglich, dass die Beiden, wie alle anderen Flüchtlinge aus der Ukraine, hier zwar in Sicherheit, aber nicht zu Hause sind, denn zu Hause herrscht Krieg.

Borschtsch
Borschtsch, das ukrainische Nationalgericht, kommt regelmässig auf den Tisch. Gaby Ochsenbein

Eine absurde Situation. Aber trotz diesem Ausnahmezustand gibt es so etwas wie einen ganz normalen Alltag: kochen, essen, Hausaufgaben machen, arbeiten, schlafen, reden, spielen und Ausflüge am freien Wochenende. Da der öffentliche Verkehr seit Ende Mai für Geflüchtete aus der Ukraine nicht mehr gratis ist, hat sich der Radius der Beiden aus Kostengründen verkleinert. Sie gingen auf den Berner Hausberg Gurten, ins Zentrum Paul Klee, ich zeigte ihnen die Schule, die Polina ab Sommer besuchen wird, und das Freibad Marzili an der Aare.

Frau im Museum
Viktoriia im Zentrum Paul Klee in Bern. Gaby Ochsenbein

Auch im Botanischen Garten – quasi vor unserer Haustüre – kann man sich erholen, entspannen und viel über Pflanzen erfahren.

Botanischer Garten
Polina im Botanischen Garten in Bern. Gaby Ochsenbein

Mit Viktoriia unterhalte ich mich in der Regel auf Englisch, das klappt gut. Sie erzählt mir von ihrer Familie, ihrer Arbeit, wir reden über Unterschiede im Schulsystem, über beliebte Vornamen in unseren jeweiligen Ländern, über das Meer, über Essgewohnheiten oder was gerade so anfällt.

Ab und zu stellt mir Polina via Mutter Fragen zu meiner Person oder zur Schweiz. So wollte sie wissen, wieso die Schweiz so viele Bunker habe, wo sie sich als neutrales Land doch an keinen Kriegen beteilige. Oder sie sagt lustige Dinge wie, dass der Appenzeller Käse wie Urgrossvaters Füsse rieche. Das kann ich zwar nicht beurteilen, mag diesen Käse aber auch nicht besonders.

Angst und Bangen

Zusammen sprechen Mutter und Tochter Russisch, nicht etwa Ukrainisch. Das ist offenbar üblich im Süden und Osten des Landes, bedeutet aber keineswegs, dass Viktoriia Putin wohlgesinnt wäre. Doch die russische Kultur und Literatur mag sie wegen des Krieges auch nicht verteufeln. Sie gehören zu ihrem Leben.

In Mykolajiw, wo die Beiden herkommen, spitzt sich die Lage merklich zu, denn der Süden des Landes ist hart umkämpft. Und Viktoriias Bruder wurde im Juni als Reservist eingezogen. Zurzeit befindet er sich in der Gegend von Lwiw im Westen des Landes und meldet sich ab und zu über sein Mobiltelefon. Trotzdem: Seine Schwester macht sich grosse Sorgen, auch um ihren Mann, in diesem Kriegssommer in Europa.

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