Viola Amherd – eine Unbeirrbare im höchsten Amt der Schweiz
Männliche Machtstrukturen bespielt sie souverän. Eitelkeiten sind ihr fremd. Viola Amherd, die erste Verteidigungsministerin der Schweiz, wird Bundespräsidentin.
Als sie in die Schweizer Regierung kam, nahm sie, was man ihr liess: das Verteidigungsministerium.
«Na ja, jetzt ist es so, dann mache ich das.» So reflektiert Viola Amherd den Augenblick in einem Porträt des Schweizer Fernsehens von 2020.
Sie hätte gehen können, sie blieb
Das Verteidigungdepartement VBS galt unter den Schweizer Regierungsressorts stets als schwer zu steuerndes Schiff. Ein Tanker, der auf Autopilot fährt und auch ohne Kapitän:in auskommt. Der zuständige Bundesrat, der als Departementsvorsteher fungierte, war allenfalls Ausführungsorgan der mächtigen Generalität.
Jetzt stand da eine Kapitänin. Dazu eine, die kritische Fragen stellte. Daran mussten sich die Kommandanten erst gewöhnen. Viele dachten, man könne Amherd aussitzen. Tatsächlich hätte sie in ein anderes Departement wechseln können. Doch sie blieb.
Wie funktioniert die Armee?
«Von unten nach oben wird auf jeder Stufe gefiltert, bis ganz oben nur noch gute Nachrichten da sind.» Das sagt Ständerat Pirmin Schwander, er ist Oberst im Generalstab, Mitglied der rechtskonservativen SVP. Die richtigen Informationen zu erhalten, um dieses Departement zu führen, sei fast nicht möglich.
Ihr Vorteil: Kein Stallgeruch
Amherd aber habe genau dies geschafft. Ohne Erfahrung im Wehrdienst hat sie die Männerbastion in den Griff gekriegt. «Kein Stallgeruch, das war ein Vorteil», sagt Schwander, der das Verteidigungsdepartement als Finanzpolitiker seit Jahren begleitet. Sie habe genauer hingeschaut als andere.
Auch Priska Seiler Graf, Sicherheitspolitikerin der Sozialdemokraten, anerkennt ihre Führungsqualitäten: «Sie hat im VBS eine Duftmarke gesetzt, was nicht einfach ist.»
Wer ist Viola Amherd?
Eine vielsagende Szene spielt sich in der Turnhalle der kleinen Berner Oberländer Ortschaft Mitholz ab. Über dem Dorf erhebt sich ein Berg, darin hat die Schweizer Armee über Jahrzehnte Munition entsorgt: 3500 Tonnen.
Es ist Februar 2020, ein kalter Abend. Viola Amherd muss den Bewohner:innen sagen, dass 170 von ihnen ihre Häuser für lange Zeit verlassen müssen. Es ist eine Katastrophe. Der Staat vertreibt sie. Es fliessen Tränen.
Lesen Sie hier unsere Reportage von 2020 aus Mitholz.
Amherd überbringt die Nachricht persönlich, ein Tisch in der Turnhalle, davor der Saal, gesammelter Groll. Dann ist die Information platziert, der offizielle Teil vorbei, es ist spät, und Amherds Limousine wartet draussen. Doch sie sucht nicht den Ausgang. Sie ist da. Sie hält das aus. Sie bleibt.
Ein warmer Fels aus Empathie.
Geboren 1962 in Brig im katholischen Wallis in eine katholische Familie. Der Vater führt ambitioniert sein Elektrofachgeschäft, expandiert damit rasant in die umliegenden Täler, plötzlich über hundert Angestellte. Die elterliche Ehe leidet.
«Als Frau muss man für sich kämpfen»
Als die junge Viola im Kollegium Spiritus Sanctus in Brig das Lateingymnasium absolviert, lassen sich die Eltern scheiden. Das passt nicht in die Walliser Lebensnorm von damals.
Die Mutter gibt der Tochter auf den Weg, sie solle selbständig bleiben, unabhängig. «Als Frau muss man für sich allein kämpfen», sagte die Mutter.
«Wir Bergler haben den Berg im Kopf», sagt Viola Amherd heute.
Im Video: Die Bevölkerung von Brig feiert ihre Bundespräsidentin
Als Jugendliche in Brig lernt Amherd die Frau kennen, die später zu ihrer Mentorin wird: Brigitte Hauser-Süess, acht Jahre älter, der Ehe wegen ins Wallis gezogen. Sie unterrichtet die Gymnasiastinnen in Brig in Steno und Schreibmaschine.
Amherd lernt bei ihr. Sie schreibt eine Matura-Arbeit über Anarchie, studiert später Jura in Freiburg. Hauser-Süess hingegen geht bald in die Politik nach Bern. Sie wird eine entschiedene Frauenförderin, die erfolgreichste der Schweiz.
Einstieg in die Politik
1999 das Gesellinnenstück: Brigitte Hauser-Süess manövriert die erste Bundesrätin ihrer Partei, Ruth Metzler, ins Amt.
Schon zuvor, 1992, hat Hauser-Süess Viola Amherd in die Lokalpolitik gebracht. «Du kannst dich nicht über fehlende Chancen für Frauen beschweren, aber dann Nein sagen, wenn du eine Chance bekommst.»
So überzeugte die Mentorin die 29-jährige Juristin Viola Amherd, für die Exekutive ihrer Stadt zu kandidieren.
Neben ihrem Amt arbeitet Amherd in den 1990er-Jahren auch als Anwältin und Notarin. Sie lebt im selben Haus wie ihre 14 Jahre ältere Schwester und deren Tochter. Bei jeder Nachfrage bezeichnet sie sich als Single, «das ist schön so. Ich bin frei», sagt sie einmal der Zeitung «Blick».
1993 verwüstet ein Hochwasser das Stadtzentrum von Brig. Stadträtin Amherd beweist sich als effiziente Krisenmanagerin.
Kämpferisches Frauengespann
Ihre Mentorin Brigitte Hauser-Süess kämpft in diesen Jahren für das Recht auf Abtreibung, auch im tief katholischen Wallis. Gegner brandmarken sie bald als «Babymörderin». Sie klagt wegen Ehrverletzung. Freundin Viola ist ihre Anwältin. Sie gehen bis vor Bundesgericht, wo das kämpferische Frauengespann gewinnt.
Amherd verschafft sich im Wallis Profil, wird Stadtpräsidentin, verschlankt dort die Exekutive und erhält im Jahr 2005 einen Sitz im Parlament von Bern.
In der nationalen Politik angekommen, fordert sie, dass die Schweiz den Schutz von Kindern und Jugendlichen in die Verfassung schreibt. Auch weitere Vorstösse zielen auf mehr Schutz für Kinder und Jugendliche: Es geht um Sexting, Sorgerecht, Cybergrooming, Kinderprostitution und Jugendschutz bei Medien.
Ein Motiv dahinter: Amherd hat als Scheidungsanwältin Frauen vertreten, Familiengeschichten kennengelernt. 2009 fordert sie auch mehr Betreuungsplätze für Demenzkranke in der Schweiz. Das hat einen tragischen Hintergrund: Sie pflegt mit ihrer Schwester aufopfernd die demente Mutter.
Zudem setzt sie sich für die Anliegen ihres Kantons und für die Berggebiete ein.
Mitte-Nationalrat Martin Candinas ist im Parlament in Bern eine Zeitlang ihr Sitznachbar, ein Parteikollege.
Was ist Amherds grösste Stärke?
«Sie hat immer den Blick fürs Ganze und den Instinkt fürs Mögliche», sagt Candinas heute.
Bis in die Regierung
2018 wird Viola Amherd in den Bundesrat gewählt. Es ist auch ein Sieg von Brigitte Hauser-Süess, die inzwischen Präsidentin der CVP Frauen Schweiz ist. Längst hat sie die Mechanik Berns verstanden, bespielt diese virtuos.
Hauser-Süess, die Frauenförderin aus dem Wallis, hat nicht nur die Bundesrätin Ruth Metzler gemacht. Auch zwei weiteren Bundesrätinnen hat sie jetzt, 2018, gedient: Eveline Widmer Schlumpf und Doris Leuthard. Fast ein Jahr investiert sie dann, um die nächste CVP-Frau in die Schweizer Regierung zu bringen: Viola Amherd.
Wie hart diese Arbeit war, erklärte Hauser-Süess später in einer Frauenrunde in Chur: «Als Viola als Nationalrätin über Lastwagen sprach, wurden in der Zeitung Bilder über Lastwagen gezeigt. Als es um Seilbahnen ging, zeigte man Seilbahnen.» Bei Männern nicht: «Da zeigt man immer den Mann.»
Politprofi Hauser-Süess begleitete Amherd durch alle Gruben der Medien und Hürden des Politbetriebs – bis ins Amt.
Beim ersten Flug mit einem Armeehelikopter wählt Bundesrätin Amherd ihre Heli-Crew mit Bedacht: Drei Frauen fliegen sie nach Davos ans WEF.
Sie will den Frauenanteil in der Armee erhöhen und kämpft als Sportministerin für mehr Frauen in Führungspositionen der Sportverbände.
«Bis Gleichstellung erreicht ist»
Auf Frauenförderung angesprochen, sagt die Bundesrätin in der SRF-Rundschau: «Wenn die Qualifikationen gleich sind, dann werde ich für jeden einzelnen Posten der Frau den Vorzug geben, bis wir die Gleichstellung erreicht haben.» Viola Amherd ernennt Brigitte Hauser-Süess zu ihrer persönlichen Beraterin.
Im Alltagsgeschäft gewinnt sie mit ihrer Neugier und der Exaktheit einer Notarin schnell den Respekt des Armee-Kaders. Das Parlament überzeugt sie mit Dossier-Kenntnissen und Pragmatismus.
Die Kernaufgabe ihres Departements integriert sie derweil nahtlos in ihren Wertekompass: Vom Schutz von Familien zum Schutz der Bevölkerung ist es für sie ein kleiner Schritt.
Beliebt, nicht abgehoben
2020 kann sie das Schweizer Stimmvolk überzeugen, 6 Milliarden für einen neuen Kampfjet zu sprechen – in einer Zeit, in der ein konventioneller Krieg in Europa kaum vorstellbar ist.
Sie ist im Volk beliebt, wirkt weder eitel noch abgehoben. Sie ist keine Charismatikerin, aber sie sagt immer das Richtige und wirkt stets echt.
Gegenwind entsteht, als der Typen-Entscheid für den budgetierten Kampfjet bekannt wird: Die Schweiz kauft den F-35, des US-Herstellers Lockheed Martin. Georg Häsler, Verteidigungskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, lobt den tiefen Preis, den die Schweiz dafür ausgehandelt hat.
«Undurchsichtig bleibt aber, warum sie mit dem Anbieter aus Frankreich noch so lange weiterverhandelte», sagt Häsler. Damit habe sie im Verhältnis zu Frankreich Geschirr zerschlagen.
Dann kam der Überfall Russlands auf die Ukraine. «Da verstand sie sehr schnell, dass die Schweiz international kooperieren muss», sagt Häsler.
Erneut schafft sie es, dem Schweizer Volk den Wert von Sicherheitspolitik zu verkaufen.
Sie organisiert für die Armee 32 Milliarden Franken, ein Rekordbudget. Sie exponierte sich auch – etwa mit der Schaffung eines Staatssekretariats für Sicherheitspolitik. «Das nahmen ihr die Nato-Feinde und die Russland-Freunde in der Schweiz übel», sagt Häsler.
Ende 2023 gerät sie auch für personelle Entscheide in die Kritik. Sie hält es aus.
Das Schweizer Bundespräsidium wird im Turnus für ein Jahr vergeben, die Macht dieses Amts ist begrenzt. Amherd will die Zeit nutzen, um die internationale Einbettung der Schweiz zu festigen. Verhandlungen mit der EU stehen an.
Jahr des Abschieds
Begleitet wird sie weiterhin von Brigitte Hauser-Süess. Doch im Herbst 2024 wird ihre Mentorin 70. Dann muss sie – so ist die Regel – den Bund verlassen.
Ihre Präsidentschaft wird für Viola Amherd damit auch zu einem Jahr des Abschieds.
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