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Sexuelle Belästigung: «Wir müssen die Unternehmenskultur ändern»

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© Keystone / Gaetan Bally

Nachdem in der Schweiz mehrere Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bekannt wurden, verraten zwei Expertinnen, wie man geschlechtsspezifischer Gewalt besser vorbeugen kann. Gesetze gebe es zwar, aber es sei wichtig, das Bewusstsein bei Unternehmen und der Justiz zu schärfen.

Mehrere Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz erschütterten im vergangenen Jahr die Schweiz, der wichtigste davon beim Westschweizer Radio und Fernsehen RTS (eine Unternehmenseinheit der SRG, zu der auch swissinfo.ch gehört).

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Eigentlich verbietet seit 1996 das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und MannExterner Link jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts am Arbeitsplatz.

Ein genauerer Blick zeigt aber, dass die Opfer nur selten einen Prozess gewinnen. Eine Studie über die Rechtsprechung des BundesgerichtsExterner Link (die höchste Instanz) zeigt, dass 71% der Entscheidungen in Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu Ungunsten der Arbeitnehmenden ausfallen.

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Karine Lempen ist ordentliche Professorin am Lehrstuhl für Zivilrecht an der Universität Genf mit den Schwerpunkten Arbeitsrecht und Gleichstellung. ©thierry Porchet

«In knapp der Hälfte der Fälle wird das Vorliegen einer sexuellen Belästigung nicht anerkannt. Entweder weil der Sachverhalt nicht erstellt ist oder weil die Handlung vom Gericht nicht als Belästigung eingestuft wird», sagt Karine LempenExterner Link, Professorin am Lehrstuhl für Zivilrecht der Universität Genf und Mitautorin der Studie. «Die Verwendung von Ausdrücken wie ‹ma petite bichounette› [mein kleines Herzchen] oder ‹mistinguette› [Schätzchen] werden beispielsweise nicht als Belästigung angesehen.»

Das Gesetz muss verbessert, aber vor allem angewendet werden

Im Gegensatz zur Gleichbehandlungsrichtlinie der Europäischen Union (EU) sieht das Schweizer Recht keine reduzierte Beweislast für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vor. Die Schweizer Gesetzgebung könnte daher laut Lempen verbessert werden, indem bei dieser Art von Diskriminierung die Beweislast gelockert würde und die Opfer eine Belästigung nicht beweisen, sondern nur plausibel machen müssten. «Davon abgesehen enthält das Gesetz eine gute Definition von sexueller Belästigung und sieht spezifische Entschädigungen vor, die bis zu sechs Monatsgehältern betragen können», so die Expertin. Die Entschädigung ziele darauf ab, den von der Person erlittenen Schaden zu beheben, aber auch die Arbeitgebenden zu bestrafen, die ihre Mitarbeitenden nicht ausreichend geschützt hätten.

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«Um die Fälle von sexueller Belästigung zu senken, müssen wir jetzt sicherstellen, dass das Gesetz richtig angewendet wird», sagt Lempen. Die Mitarbeitenden sollen sich ermutigt fühlen, ihre Rechte geltend zu machen. «Damit dies geschieht, müssen wir mit Sensibilisierungsmassnahmen die Unternehmenskultur verändern, um zu zeigen, wie schädlich dieses Phänomen für das Unternehmen selbst ist», sagt die Professorin. «Wir müssen auch Juristinnen und Juristen zu den Besonderheiten dieses Gesetzes schulen und die Justiz für die Existenz von Stereotypen sensibilisieren, die unbewusst die Art und Weise beeinflussen, wie wir bestimmte Tatsachen beurteilen.»

Prävention und Massnahmen im Unternehmen

Laut Caroline Dayer, Expertin für Prävention von Gewalt und Diskriminierung, ist es für Unternehmen unerlässlich, ein kohärentes, relevantes und konsistentes System einzurichten. «Für die Prävention ist es schon eine Herausforderung, die Definition von sexueller Belästigung, ihre verschiedenen Formen und die rechtlichen Grundlagen zu kennen», betont sie. «Arbeitgebende müssen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht nur stoppen, sondern auch Präventionsmassnahmen ergreifen.»

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Caroline Dayer ist Forscherin, Trainerin und Beraterin für die Prävention und Behandlung von Gewalt und Diskriminierung. Caroline Dayer

Das Management sollte daher laut Dayer dem Personal eine klare Botschaft und eindeutige Informationen geben. «Jeder sollte wissen, dass sexuelle Belästigung auch in Form von Worten, Gesten und Handlungen geschehen kann; dass die Gefühle des Opfers entscheidend sind, nicht die Absicht der handelnden Person; dass ein einziges Mal reicht. Klärung ermöglicht die Identifikation, die das Handeln möglich macht.»

Das Management müsse auch für eine angemessene Schulung von Führungskräften und Personen in Vertrauenspositionen sorgen. Dayer betont, die Führung müsse in Fällen von sexueller Belästigung eingreifen, um diese zu stoppen und nachzuverfolgen.

Damit die Massnahmen wirksam seien, dürften Opfer keine Angst haben, sich zu äussern. Daher müssten Ansprechpersonen benannt und geschult werden und es müssten konkrete Massnahmen ergriffen sowie Sanktionen verhängt werden. «Zum Beispiel darf nicht die belästigte Person entlassen oder versetzt werden», so Dayer.

«Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat nicht nur auf individueller Ebene schädliche Auswirkungen, sondern auch kollektiv, da sie negative Beziehungen und ein feindseliges Klima schafft und die Entwicklung von Fähigkeiten und Karrierewegen untergräbt. Es ist also eine Frage der Berufskultur», sagt Dayer.

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Ein internationaler Mentalitätswandel?

Die Wahrnehmung von sexueller Belästigung ändert sich auch auf globaler Ebene. Im Jahr 2019 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eine Konvention zu Gewalt und BelästigungExterner Link. Karine Lempen sieht darin einen wichtigen Schritt nach vorn: «Die Konvention definiert Belästigung sehr breit und unabhängig davon, ob sie am Arbeitsplatz oder im Zusammenhang mit der Arbeit auftritt. Wenn Ihr Chef Sie per Textnachricht belästigt, wirkt sich das genauso negativ auf die Arbeitsbedingungen aus, wie wenn er oder sie dies tut, während er oder sie physisch mit Ihnen im selben Raum ist.»

Die Konvention hat zudem einen breiten Anwendungsbereich, sie richtet sich zum Beispiel explizit auch an Auszubildende. «Ich denke, dass diese Art von Konvention sich positiv auf die Wahrnehmung von Belästigung auf nationaler Ebene auswirkt», sagt Lempen.

Sibilla Bondolfi

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