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Beim Atomausstieg eilt Deutschland voran

Ab Ende 2019 wird im AKW Mühleberg bei Bern kein Strom mehr produziert. Dann folgt die aufwändige Rückbauphase. Keystone

Deutschland treibt mit Hochdruck den Abschied von der Kernenergie voran. Den damit verbundenen Komplett-Umbau der deutschen Energieversorgung bekommt auch die Schweiz zu spüren. Sie fühlt sich noch nicht bereit für den raschen Ausstieg.

Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das die Berliner Bundesregierung 2011 als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima auf den Weg brachte. Ab Ende des Jahres 2022 soll in Deutschland keine Atomenergie mehr in die Stromnetze fliessen. Damit bleiben nunmehr sechs Jahre Zeit, bis das letzte Kraftwerk seinen Dienst quittiert.

Zum Vergleich: In der Schweiz würde bei einem Erfolg der Atomausstiegsinitiative der letzte Meiler 2029 vom Netz gehen. Scheitert sie, bleibt die Kernkraft, wenn auch in reduzierter Form, noch für einige Jahrzehnte Teil des eidgenössischen Energiemixes. Zeit, die das Land laut Energieministerin Doris Leuthard für den eigenen Umbau noch benötigt.

Mittlerweile spielt die Kernkraft für die deutsche Energieversorgung nicht mehr die gleiche tragende Rolle wie beim südlichen Nachbarn. In Deutschland stammten 2015 nur noch 14,1 Prozent des im Land erzeugten Stroms aus Atommeilern, in der Schweiz waren es fast 39 Prozent. Entsprechend schwieriger ist es für die Eidgenossenschaft, diese wichtige Energiequelle möglichst rasch zu ersetzen.

Dreckiger Kohlestrom

Berlin setzt derweil im Zuge der Energiewende auf den Ausbau erneuerbarer Energien aus Wind, Biomasse, Wasser und Sonne. Windkraftanlagen und Solarmodule werden massiv gefördert, in erster Linie durch eine feste Einspeisevergütung für den erzeugten grünen Strom. Auch durch diese Anreize ist der Anteil der erneuerbaren Energie an der Stromerzeugung zwischen 2010 und 2015 von 17 auf rund 30 Prozent gewachsen. Im Jahr 2050 sollen dann 80 Prozent des verbrauchten Stroms aus Wind, Sonne, Biomasse und Wasser stammen.

Atomausstieg in Deutschland

Bereits neun Jahre vor dem Unglück im japanischen Fukushima hatte die damals rot-grüne Bundesregierung in Berlin im Jahr 2002 den Atomausstieg beschlossen. Die darauf folgende schwarz–gelbe Regierung aus Christdemokraten und atomkraftfreundlichen Liberalen ruderte jedoch ein Stück zurück und vereinbarte im Jahr 2010 eine Laufzeitverlängerung für die Atommeiler. Die Kernkraft sei eine wichtige «Brückentechnologie» auf dem Weg zu einem neuen Energiemix, der stärker auf regenerative Energiequellen setzt. Im Schnitt sollten die Atommeiler zwölf Jahre länger laufen.

Die Reaktorkatastrophe in Fukushima am 11. 3. 2011 machte diese Entscheidung zur Makulatur. Im Juli des gleichen Jahres beschloss das deutsche Parlament mit dem 13. Atomnovellen-Gesetz einen beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft. Bereits 2011 wurden acht AKW stillgelegt. Bis zum Jahr 2022 soll das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz gegangen sein.

«Der Anstieg der erneuerbaren Energien gleicht die fehlende Atomenergie also problemlos aus“, sagt Christoph Podewils vom Berliner Think Tank «Agora EnergiewendeExterner Link«, der hauptsächlich von der Mercator Stiftung finanziert wird. Die Experten haben Szenarien durchgerechnet, wie man Deutschland möglichst rasch auf die grüne Stromschiene setzen kann.

Auf diesem Weg gibt es einen wesentlichen Unterschied zur Schweiz: Sie deckt fast 60 Prozent ihres Strombedarfs aus heimischer Wasserkraft und produziert ihre Energie damit erheblich klimafreundlicher als der deutsche Nachbar: Derzeit kommen in Deutschland 42 Prozent des Stroms aus klimaschädlichen Kohlekraftwerken, 18 Prozent werden mit Steinkohle betrieben, 24 Prozent mit Braunkohle.

Anders als die CO2-neutrale Atomenergie schlägt die Kohle erheblich auf die Klimabilanz. «Beim Atomausstieg haben wir die Herausforderungen bewältigt», sagt Christoph Podewils. Die nächste grosse Aufgabe für Deutschland sei es nun, auch aus der dreckigen Kohlekraft auszusteigen. Nur so könne man die Klimaschutzziele erreichen, auf die auch Deutschland sich verpflichtet hat.

Widersprüche der Energiewende

Doch ein Ende der fossilen Brennstoffe ist in Deutschland noch nicht in Sicht: Erst vor wenigen Wochen verkaufte der schwedische Energieriese Vattenfall seinen deutschen Braunkohletagebau an einen tschechischen Investor. Der kratzt nun in der Lausitz östlich von Berlin weiter mit gigantischen Maschinen die Kohle aus der Erde und hält daran fest, auch in Zukunft ganze Dörfer umzusiedeln.

Hier offenbaren sich die grossen Widersprüche des Energiewendelandes Deutschland, das sich mit dem Ausbau von Solar- und Windkraft rühmt und Atomstrom abschaltet, zugleich aber noch massiv von der traditionellen schmutzigen Kohleenergie abhängt und die mit ihr verbundenen Jobs in strukturschwachen Gebieten wie Brandenburg protegiert.

Derweil verläuft der Atomausstieg nach Plan und wird von dem erwartbaren Widerstand der Atom-Konzerne begleitet. Zuletzt einigte sich eine 19-köpfige Kommission aus Vertretern der Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbände auf einen Vorschlag, wie einst die Endlagerung der Brennstäbe finanziert werden soll.

Das Resultat: Die Konzerne stellen dazu 23,3 Milliarden Euro in einen Fonds für die Zwischen- und Endlagerung ein. Der Staat übernimmt im Gegenzug die Haftung für das strahlende Erbe. Darüber hinaus finanzieren die Betreiber aus ihren Rückstellungen den milliardenteuren Rückbau der Atommeiler. Im Frühjahr 2017 will der Bundestag über den Vorschlag der Kommission abstimmen.

Mehr als 20 Jahre nach seiner Stilllegung ist der milliardenteure Rückbau des ehemaligen DDR-Kernkraftwerks in Lubmin noch nicht abgeschlossen. Keystone

Atomkonzerne klagen

Auf einem anderen Blatt steht, ob die Konzerne Anrecht auf Entschädigung haben, weil sie gezwungen werden, ihre profitablen Atomkraftwerke vorzeitig vom Netz zu nehmen. Die drei Energieriesen Eon, RWE und Vattenfall haben vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage auf Entschädigung wegen Enteignung eingereicht. Den Unternehmen werden durchaus Erfolgschancen eingeräumt. Ähnliche Klagen der Konzerne fürchtet die Schweizer Energieministerin Doris Leuthard auch bei einem vorzeitigen Abschalten der Schweizer Atommeiler.

Sie kritisiert zudem, dass der deutsche Nachbar derzeit Strom im Überfluss produziere und billig ins Ausland verkaufe. Besonders an sonnigen und windigen Tagen drängt der Öko-Strom mit Vorrang in die Netze. Was Deutschland selber nicht an Energie benötigt, fliesst in die Nachbarländer und zwar zu Preisen, mit denen die Schweizer Wasserkraft nicht konkurrieren kann.

Dabei kann sich die Schweiz die Quelle des gekauften Stroms nicht aussuchen. Und so ist es durchaus wahrscheinlich, dass er aus dreckiger deutscher Kohle stammt, wie Felix Matthes , Experte für Energie- und Klimapolitik am Freiburger Öko-InstitutExterner Link bestätigt.

«Die in der Schweiz ausfallenden Strommengen werden aus zusätzlicher Erzeugung der bestehenden Kapazitäten bereitgestellt – und das wären dann Steinkohle- oder Erdgaskraftwerke.» Sprich: Deutsche Kraftwerke laufen auf Touren, wenn das Schweizer Netz Bedarf signalisiert. Doch dazu gibt es, so Felix Matthes, eine Alternative, nämlich Öko-Strom aus Schweizer Quellen: «Wenn die Schweiz im Zuge des Atomausstiegs die eigenen regenerativen Erzeugungskapazitäten ausbaut, dann passiert das nicht.»

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