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«Vor dem Fondue sind wir alle gleich»

Semih Yavsaner
Der türkisch-schweizerische Kabarettist Semih Yavsaner in seiner Rolle als Müslüm. Keystone

Genau genommen kennt niemand in der Schweiz Semih Yavsaner – er tritt immer als Comedian "Müslüm" auf. Müslüm ist laut, behaart, trägt schrille Hawaiihemden – kein Durchschnittsschweizer. SWI swissinfo.ch hat mit dem Mann hinter der Figur gesprochen.

Semih Yavsaner ist längst nicht der einzige Schweizer Comedian, der seinen Migrationshintergrund zum Thema macht. Charles Nguela, ein schweizerisch-kongolesischer Stand-Up-Comedian, Johnny Burn, ein Komiker mit kambodschanischem Migrationshintergrund und Bendrit Bajra, ein junger Entertainer mit kosovo-albanischen Wurzeln, sind ebenfalls sehr präsent in der Schweizer Comedy-Szene – vor allem auch auf Social Media.

Semih Yavsaner agiert als Kabarettist mit Stand-Up-Elementen, Gesang, Bewegung und Improvisation.  Yavsaner spricht mit SWI swissinfo.ch über Müslüm, «ethnischen Humor» und seine Grenzen.

Ihre Figur hat eine Mono-Augenbraue und einen Monsterschnauz, das soll den Klischee-Türken widerspiegeln: Sie spielen mit Stereotypen. Fürchten Sie nicht, dass Ihr Ansatz zur Verhärtung bestehender und schwieriger kultureller Bedingungen für in der Schweiz lebende ausländische Muslime beitragen könnte?

Die Ästhetik von Müslüm ist doch alles andere als klischiert. Ich kenne keinen Türken, der in einem pinkfarbigen Anzug durch die Gegend läuft. Gerade dadurch, dass ich in dieses Kostüm reinschlüpfe, emanzipiere ich mich von diesen Stereotypen. Denn die Figur begibt sich eben gerade in Bereiche, die fernab von Kebap-Essen, Türstehern und schnellen Autos liegen. Ich versuche, die Figur in Spannungsfeldern zu platzieren, die ihr Angst einflössen, dort wo sie eigentlich nicht hingehört, z.B. in die Aula der Universität Zürich, wo Winston Churchill 1954 seine Ansprache zu Europa hielt. Der Ausländer sieht so, dass das alles möglich wäre.

In der Schweiz ist die Migration ein sehr kontroverses Thema, das selten zum Lachen bringt. Bringt Müslüm auch Migranten zum Lachen?

Das ist genau das grosse Missverständnis. Ich denke, Müslüm erreicht die Menschen, weil er ihnen eben nicht nur das Lachen beibringen will. Die Zuschauer sollen am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen. Meine Absicht ist nicht, dass sie über das Anderssein lachen – sie sollen auch die dunklen Seiten erfahren, auch das wohnt in mir.

Als der Berner Fussballclub Young Boys Meister wurde, hatten Sie einen Auftritt. Und Sie – oder besser gesagt «Müslüm» – wurde beschimpft und mit Flaschen beworfen. Wie ist er mit der Situation umgegangen?

Das war für ihn wahrscheinlich bisher das Unangenehmste, das er und ich je erleben mussten. Ich habe versucht, die Band und mich zu schützen. Da musste man irgendwie auf der Bühne sein und den Flaschen ausweichen. Das war alles andere als schön.

Warum wurden Sie angegriffen?

Ich wollte mit Müslüms Perspektive begründen, wieso die meisten Schweizer Fussball-Nationalspieler die Nationalhymne dezent oder gar nicht mitsingen. Die Idee war, die Nationalhymne mit «Trittst im Morgenrot daher» anzustimmen und dann abrupt nach dem Anfangssatz zu stoppen und dem Publikum die Frage stellen: «Jetzt mal ehrlich, wer von diesen 11 Migranten tritt schon freiwillig im Morgenrot daher? Das ist doch das gängigste Klischee überhaupt!» – Das wäre die Pointe gewesen. Doch nach dem Anstimmen der Nationalhymne, dachten die meisten Fans, wir singen jetzt gemeinsam die ganze Hymne, statt nur den Anfang.

Ich kann es jedoch abstrahieren und sagen, dass das Müslüm angetan wurde. Er ist für mich eine Art Schutzschild. Als Semih hätte ich es wahrscheinlich nicht überlebt. So kann ich mich beruhigen. An jenem Tag hat Müslüm wegen diesem Missverständnis sowas wie Rassismus erlebt und war sehr betroffen. Ich muss aber sagen, dass das ein Einzelfall gewesen ist.

Müslüm
Müslüm an einem Konzert 2016 . © Keystone / Alessandro Della Valle

In der Schweiz werden Sie manchmal als politisch motiviert oder als sozial engagiert wahrgenommen, sie selbst sagen von sich in einem Lied, sie seien «sozial wie Nelson Mandela» – sind sie ein politischer Künstler?        

Es ist unmöglich, eine solche Frage zu beantworten. Wo fängt die Politik an?

Ich denke, sie fängt im Alltag an, mit dem, was wir tragen, was wir essen, was wir tun. Eigentlich ist alles, was uns ausmacht, zwangsläufig in irgendeiner Weise politisch. Ich interessiere mich aber nicht für die konventionelle Art von Politik, wo es immer um die Interessen geht. Ein System, in dem Lobbyismus toleriert wird, ist an sich schon entlarvend. Ich möchte auch nicht für eine Partei sprechen, dann habe ich Dauerzensur. Wie soll ich mich als Künstler in diesem politischen Raum entfalten können? Das ist unmöglich. Darum interessiert mich das nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Figur viel auslösen durfte. 

Wie zeigt sich dieser Einfluss konkret?

Beispielsweise, durch ein krankes Kind im Spital, das mein Lied «Süpervitamin» hört, oder den Sterbebegleiter, der mir schreibt, seine Patientin hätte bis zum letzten Augenblick «La Bambele» gehört. Hier gibt es unendlich viele Beispiele.

Es wird regelmässig über die Grenzen des Humors diskutiert, wenn es um Minderheiten, ethnische oder religiöse Gruppen geht. Was ist Ihre Haltung dazu? Setzen Sie sich selbst Grenzen?

Ich habe mich als Müslüm nie um irgendwelche Pseudo-Tabus geschert. Ich vermeide solche Themen, denn sie interessieren mich einfach nicht. Es ist dann zu offensichtlich, ich meine die Komponente, welche dabei mitschwingt. Es ist wie mit Corona heutzutage. Jeder spricht von Corona. Und dann geht man auf die Bühne und erzählt irgendwelche Witze darüber. Erste Pointe Terroranschläge, zweite Pointe Corona…. Das ist nicht mein Ding. Mich interessiert das nicht. Ich sehe mich vielmehr als Kabarettist. Die Kunst lässt sich nicht kategorisieren.

Wie tolerant ist Ihr Publikum in der Schweiz gegenüber Ihrem Humor?

Unheimlich tolerant, finde ich. Das ist wahrscheinlich der höchste Luxus, der einem Künstler zukommen kann. Ich kann alles in Frage stellen. Ich habe unendlich viel «Freedom of Speech», viele Möglichkeiten, die hier in Sachen Leben und freies Denken vorherrschen. Das tut mir gut. Und das Schweizer Publikum erlaubt es mir, auf der Bühne auch mir Gutes zu tun, indem es mir den Raum gibt, uneingeschränkt stattzufinden und zu sein, und indem es eine Bereitschaft mit einbringt, seine Konstrukte und Normen temporär abzulegen.

Seit einigen Jahren prägen immer mehr europäische Künstlerinnen und Künstler ausländischer Herkunft die Comedy-Szene. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Ich denke, die Menschen sehnen sich auch danach, dass es das Andere gibt, nicht nur den Flüchtling, des Asylanten, den Gastarbeiter usw., sondern auch den Künstler.

Wie finden Sie den Begriff «Ethnic Comedy»?

Abtörnend, so wie «Integration» auch, weil all diese Begriffe immer mit einer offensichtlichen Absicht aufgeladen sind. Ich darf nicht in diesem Wort «Integration» steckenbleiben. Meine Figur darf nicht ständig mit Wörtern wie «ausländisch», «Migrationshintergrund» und «Integration» assoziiert werden.

Diese Wörter sind mit einer gewissen Negativitätstendenz aufgeladen. Die Kunst gehört so verpackt, dass sie die Lust am Sein weckt – diese Wörter lassen nur sehr schwierig was «Neues» entstehen. Sie verhindern jeden kathartischen Effekt.

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