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Das grosse Ding – Teil 2

Fluchtwagen der Posträuber von Zürich
Den Fluchtwagen zündeten die Posträuber von Zürich ausgerechnet neben einer Feuerwehrwache an – er brannte nur wenige Minuten. Keystone

Als die Hintergründe des "Jahrhundert–Postraubs" bekannt werden, weicht die anfängliche Bewunderung für die Täter Spott und Häme. Ein Täter nach dem andern geht der Polizei ins Netz. Doch mehr als die Hälfte der Beute bleibt spurlos verschwunden.

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Nachdem die Polizei vermeldet hatte, dass vierzehn Personen festgenommen worden seien, titelt der Blick: «So dumm waren die Posträuber!»

In der Tat zeigt sich in den folgenden Wochen, dass die Posträuber und ihre Helfer von kaum zu überbietender Stümperhaftigkeit waren: Der Postbeamte, der die Insider-Informationen lieferte, liess sich von den Überwachungskameras filmen, als er den späteren Tatort fotografierte.

Zwei Räuber tranken vor dem Überfall neben der Fraumünsterpost einen Espresso, und der Kellner konnte der Polizei die noch nicht abgewaschenen Tassen samt DNA–Spuren übergeben. Ein anderer verlor am Tatort eine Foto mit seinen Fingerabdrücken.

Fluchtauto
Der beim Jahrhundert-Postraub benutzte weisse Fiat «Fiorino» brannte nur wenig aus, In der Garage der Zürcher Kantonspolizei wurde er auf Spuren untersucht. Keystone

Den Fluchtwagen fackelten die Täter ausgerechnet neben einer Feuerwehrstation ab, der Brand wurde innert Minuten gelöscht, und zahlreiche für die Fahndung wertvolle Spuren blieben erhalten.

Vier Millionen im Müllsack

Die Männer waren vom Wert der Beute völlig überfordert und hatten weder ein Versteck noch einen Plan. Überstürzt teilten sie die Beute auf und machten sich aus dem Staub.

Industriegelände
In diesem Hinterhof an der Uetlibergstrasse 113 (Zuerich-Wiedikon) soll die Beute in einer Autowerkstatt erstmals aufgeteilt worden sein. Keystone

Domenico Silano wartete eine geschlagene halbe Stunde an einer Bushaltestelle, bis ihn ein Freund abholte. Mangels Tasche trug er seine vier Millionen in einem Müllsack mit sich.

Ein anderer versteckte 18 Millionen im Schlafzimmerschrank einer guten Bekannten, dann setzte er sich mit seiner Freundin nach Mailand ab, wo er ausgedehnten Shoppingtouren frönte und die Suite im Nobelhotel, die fünfhundert Franken pro Nacht kostete, bar aus der Hosentasche bezahlte.

Zwei Täter flüchteten nach Spanien, wo sie teure Cabriolets fuhren, in Casinos zockten, eine Villa gegen Bargeld kaufen und Millionenbeträge auf ein Bankkonto einzahlen wollten.

Verkleidet «wie eine Indianerfrau»

Lauter Fehler macht auch der noch immer flüchtige vierte Räuber. Er hinterliess nicht nur seine Fingerabdrücke auf einer der Geldkisten, die am Tatort zurückblieb. Als die Berliner Polizei am 16. Oktober 1997 sein BMW-Cabriolet stoppt, trägt er eine Frauenperücke mit langen schwarzen Haaren. Mehrere Ausweise im Wagen tragen zwar alle sein Foto, sind aber auf unterschiedliche Namen ausgestellt. Er habe bei der Verhaftung, lässt die Polizei verlauten, ausgesehen «wie eine Indianerfrau». 

Auffallend ist nicht nur, wie dilettantisch die Räuber und ihre Helfer sind. Auffallend ist auch ihre Herkunft. Sie haben italienische, spanische, serbische, tunesische oder libanesische Wurzeln. Die Schweizer unter ihnen sind eingebürgert – wie die beiden Frauen, welche die Presse als «Italoschweizerinnen» bezeichnet – oder stammen aus binationalen Familien.

Sie sind die sprichwörtlichen kleinen Leute, die in der Schweiz des ausgehenden 20. Jahrhunderts mehrheitlich Ausländer sind: Hilfsarbeiter und Kellner, Verkäufer und Autohändler. Sie heissen Marcello, Hassan oder Zoran und leben in den Aussenquartieren oder in der Agglomeration, die von denen, die nicht dort wohnen, gern als «gesichtslos» bezeichnet wird.

Das Schweigen von Seebach

Die Fäden liefen laut Polizei in Zürich-Seebach zusammen. Also schwärmen die Journalisten in diese ihnen unbekannte Welt aus. Der Spielsalon Il Pollicione – sinngemäss für «goldener Daumen» – ist versiegelt, sein Besitzer wird als Drahtzieher verdächtigt und sitzt in U-Haft.

Gleich daneben ist die Bar, die seinem Bruder gehört. «Acht Plastiktische draussen auf dem Trottoir. Drinnen eine Stehbar. Links und rechts davon etwa ein Dutzend Tische. Schummriges Licht, nüchterne Einrichtung,» liest man im Blick über das Etablissement, in dem sich nun die Reporter die Klinke in die Hand geben. Meist mit wenig Erfolg.

«Nur Schweigen in der Dago–Bar», titelt der Tages–Anzeiger. «Die Stammgäste bereiten den Fremden einen frostigen Empfang: Einer der Männer springt vom Stuhl auf und schreit: ‹Was wollen Sie!› Ob jemand etwas zur Verhaftungsaktion vom Sonntag sagen könne, hier und im Spielsalon nebenan. Zwanzig Männer schweigen. Der Wortführer ruft: ‹Ich verstehe nicht.› Und lauter: ‹Hauen Sie ab!› Ob jemand den verhafteten [M.V.] kenne. Der Chef schaut finster in die Runde und murmelt: ‹Che vuole?’’Inzwischen haben sich weitere Gäste erhoben, die Stimmung im Lokal wird bedrohlich.»

Auskunftsfreudiger ist der Posträuber, der in Mailand in Untersuchungshaft sitzt. Im Exklusiv–Interview im Blick spielt er den Robin Hood der Vorstädte: «Wir haben nicht die geringste Gewalt angewendet. Niemandem wurde ein Haar gekrümmt. Es gab weder Tote noch Verletzte. Und das Geld, das wir erbeutet haben, haben wir nicht irgendwelchen Leuten auf der Strasse oder solchen, die dafür arbeiten mussten, weggenommen.» Er würde, beteuert er, einen solchen Überfall jederzeit wieder machen, «dann allerdings mit andern Leuten.» 

Ein gutes Jahr nach dem Postraub zieht sich das Netz auch um Domenico Silano, den fünften im Bund zusammen. Auch er wäre nach dem Überfall um ein Haar geschnappt worden. Doch als die Polizei in Paris seinen Pass als plumpe Fälschung erkannte, schaffte sie ihn nach Italien aus.

Silano flüchtete über Venezuela nach Miami, gab sich als Hotelierssohn aus, der Englisch lernen will. Er mietete eine luxuriöse Wohnung, verkehrte in teuren Restaurants und Clubs, doch glücklich war er nicht, zu sehr vermisste er seine Freundin in der Schweiz. Schliesslich rief er sie an – und die Zürcher Polizei hörte mit. Am 3. Dezember 1998 stürmen schwerbewaffnete Cops seine Wohnung. Scharfsinnig folgert die Neue Zürcher Zeitung: «Die Liebe brachte ihn zur Strecke.»

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Fast zur selben Zeit wird bekannt, dass in Brescia zwei Männer ermordet wurden, welche die Adressen von zwei Posträubern auf sich trugen. Man geht davon aus, dass sie einen Teil der Beute in Sicherheit bringen sollten.

«Es war wie ein Spiel»

Im Herbst 1999 stehen die fünf «Jahrhundert–Posträuber» vor Gericht. Keiner bestreitet seine Beteiligung am Raub, lieber spielen sie die naiven Trottel, als welche die Presse sie hingestellt hat.

Täterfoto El Bast Hassan
Fahndungsfoto von Hassan El Bast. Keystone

«Es war wie ein Spiel», behauptet einer. «Niemand von uns glaubte so recht, dass es klappt.» Und der Besitzer des Spielsalons in Seebach beteuert: «Wir sind nicht professionell.

Professionelle hätten die Flugtickets in den Taschen gehabt.» Doch sie werden, obwohl sie nur Spielzeugpistolen und eine ungeladene Kalaschnikow benutzten, zu Zuchthausstrafen zwischen 4 3/4 und 5 1/2 Jahren verknurrt.

Der jüngste, der beim Überfall 19 jährig war, wird auf unbestimmte Zeit in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen.

Nach dem Prozess spricht der Bezirksanwalt von «viel versprechenden Ansätzen» bei der Fahndung nach der restlichen Beute. Der Verbleib von 27 Millionen ist bis heute nicht geklärt.

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Beschlagnahmte Beute aus dem Jahrhundertraub in der Zuercher Fraumuensterpost

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Das grosse Ding

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Vor zwanzig Jahren wurde die Fraumünster-Post in Zürich überfallen. Die Täter erbeuteten 53 Millionen Franken. Ein Teil davon wurde nie gefunden.

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