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Wahlen in Brasilien könnten Freihandel neuen Schwung geben

Pferd
Ein argentinischer Pferdetransport von La Banda zum Schlachthof Lamar bei Buenos Aires. ©jonás Amadeo Lucas

Lateinamerika öffnet sich Richtung Asien, während es bei den Freihandelsabkommen mit europäischen Ländern zu Verzögerungen kommt. Warum für die Schweiz, die ein Freihandelsabkommen ratifizieren will, die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien entscheidend sind.

Die Lula-Regierung sei die korrupteste in der Geschichte Brasiliens gewesen, schleuderte der amtierende Präsident Jair Bolsonaro seinem Kontrahenten, dem früheren Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva, in einem Fernseh-Duell entgegen. Dieser konterte: «Dieses Land, das ich regiert habe, ist ein Land, das der derzeitige Präsident zerstört.»

Fernsehduell
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro (rechts), sein Hauptkonkurrent, der ehemalige Präsident Luiz Inacio Lula da Silva (links) und die Kandidatin Simone Tebet (in der Mitte) an einer TV-Debatte in Sao Paulo am 28. August 2022. Keystone / Fernando Bizerra

Der Wahlkampf ist also eröffnet. Für die Schweiz ist der Ausgang der brasilianischen Wahlen im Oktober wichtig. Wer künftig Präsident Brasiliens ist, hat Einfluss darauf, ob die Schweiz Zugang zum lateinamerikanischen Markt erhält.

Verzögerungen beim Freihandelsabkommen

Zusammen mit den anderen EFTA-Staaten Norwegen, Liechtenstein und Island hat die Schweiz ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten ausgehandelt – dazu zählen derzeit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Noch ist aber unklar, wann das Abkommen ratifiziert werden kann.

Aus dem Archiv, Echo der Zeit vom 24.08.2019: Efta und Mercosur einigen sich auf Freihandelsabkommen

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Laut Staatssekretariat für Wirtschaft Seco kam es aufgrund des Regierungswechsels in Argentinien und der Corona-Pandemie zu Verzögerungen. Auch bestünden noch unterschiedliche Interpretationen des Inhalts, die bereinigt werden müssten.

Laut Manfred Elsig, Forschungsdirektor vom World Trade Institute der Universität Bern, wäre das Abkommen aus rein wirtschaftspolitischer Sicht für die Schweiz ratifikationsbereit, die Bedenken der schweizerischen Landwirtschaft punkto Liberalisierung etwa hätten grösstenteils ausgeräumt werden können. «Etwas schwieriger ist der Umstand, dass der jetzige brasilianische Präsident und dessen Amazonas-Politik in der Schweiz viel Kritik hervorgerufen hat. Nichtregierungsorganisationen sehen einen Handelsvertrag als falsches Signal.»

Tatsächlich gab es sowohl in Lateinamerika als auch der Schweiz Proteste gegen den Vertrag, der hüben als «neo-kolonialistisch» und drüben als «klimapolitischer Unsinn» bezeichnet wird.

Indigene mit Federschmuck in Bern
Delegierte der indigenen Bevölkerung aus Brasilien an einer Medienkonferenz 2019 in Bern. Gemeinsam mit der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) stellten sie ihre Forderungen an das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz (EFTA) und Brasilien (Mercosur) vor. Keystone / Peter Klaunzer

Daher wären NGOs nicht unglücklich, wenn das Freihandelsabkommen in einer Schublade verschwinden würde, wie eine Nachfrage bei Alliance Sud bestätigt, einem Zusammenschluss von Schweizer Nichtregierungsorganisationen der internationalen Zusammenarbeit.

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Umweltschutz versus Freihandel

Auch in der EU ist die Regenwaldabholzung in Brasilien einer der Stolpersteine für die Ratifizierung des Freihandelsabkommens, welches diese ihrerseits über Jahrzehnte mit Mercosur ausgehandelt hat. Das europäische Parlament pocht auf Nachbesserungen im Umweltbereich.

Wald und Ackerland
Das indigene Reservat Alto Rio Guama im brasilianischen Bundesstaat Para liegt neben einem abgeholzten Gebiet, das Viehzüchtern gehört. Copyright 2019 The Associated Press. All Rights Reserved.

Die EU hofft derzeitExterner Link, dass die Wahlen in Brasilien das Mercosur-Abkommen begünstigen werden und dass sie mit Hilfe Brasiliens die Zusatzvereinbarungen bis Ende Jahr unter Dach und Fach bekommt.

Das käme auch der Schweiz gelegen. Denn der Handelsstreit zwischen der EU und dem Mercosur trägt dazu bei, dass sich die Ratifizierung des EFTA-Abkommens in die Länge zieht. «Wir teilen grundsätzlich die Besorgnis der EU über die Umweltsituation und stehen in Kontakt mit der Europäischen Kommission», schreibt das Seco, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Situation beim EU-Mercosur-Abkommen eine andere sei. Dieses führe zu neuen Handelsströmen bei umweltsensiblen Produkten, wohingegen das Abkommen EFTA-Mercosur laut einer Studie der Universität BernExterner Link keine nennenswerten Auswirkungen auf die Umwelt haben werde. Gemäss den Modellrechnungen wäre durch das Freihandelsabkommen die Abholzung in den Mercosur-Staaten um 0.02% höher, im schlimmsten Fall um 0.1%. Die Autor:innen gehen aber von einem tieferen oder gar nicht vorhandenen Effekt aus.

Die Schweiz müsse nicht unbedingt auf den Abschluss der Verhandlungen der EU mit Mercosur warten, findet Elsig. Der Gegenwind in der EU scheine grösser zu sein als in der Schweiz.

Lula oder Bolsonaro?

In den Umfragen liegt Bolsonaro momentan zurück. Die EU setzt grosse Hoffnungen in Lula. Dieser hat gegenüber Reuters versprochenExterner Link, das Abkommen mit der EU überprüfen und mit Menschenrechts- und Umweltschutzklauseln ergänzen zu wollen, so dass es doch noch ratifiziert werden kann. «Wir gehen davon aus, dass auch die Regierung unter Lula ein Interesse an der Finalisierung des Abkommens hat», heisst es auch beim SECO.

Zwei Männer
Der frühere brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (links) tritt gegen den amtierenden Staatschef Jair Bolsonaro (rechts) bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober an. Keystone

Doch ist dies am Ende nur ein Wahlkampfversprechen? Philippe G. Nell, Ehrenbotschafter von der Handelskammer Schweiz-Lateinamerika, sagt: Lula habe während seiner ersten beiden Präsidentschaften den Schwerpunkt nicht auf den Freihandel im Rahmen von Mercosur gelegt, sondern auf Fortschritte im sozialen Bereich (Familienbeihilfen, Gesundheit, Zugang zu Bildung, Infrastruktur, Beseitigung von Hungersnöten, Erhöhung des Mindestlohns und Stärkung der Rechte der Arbeitnehmenden). Für eine mögliche neue Amtszeit plane Lula, sich auf die Stärkung der Süd-Süd-Zusammenarbeit mit Afrika und Lateinamerika zu konzentrieren.

«Lula und seine Partei der Arbeit werden also versuchen, den Wirtschaftsstandort Brasilien innerhalb Lateinamerikas zu stärken, ohne ihn durch Freihandelsabkommen mit Industrieländern noch mehr Konkurrenz auszusetzen.» Das bedeute, dass die Aussicht auf den Abschluss eines Freihandelsabkommens sowohl für die EU als auch für die EFTA-Länder im Falle einer neuen Präsidentschaft Lulas in weite Ferne rücken dürfte.

Der brasilianische Senator Nelsinho Trad ist Präsident der im April 2022 gegründeten parlamentarischen Freundschaftsgruppe Brasilien – SchweizExterner Link. Er weist darauf hin, dass zwar der Präsident durch die Festlegung seiner Aussenhandelspolitik eine wichtige Rolle spielen werde, dass aber der Kongress, also das Parlament, internationale Abkommen ratifiziere. «Der Kongress hatte noch keine Gelegenheit, über die Ratifizierung des Freihandelsabkommens zwischen dem Mercosur und der EFTA zu diskutieren.» Er sei aber überzeugt, dass das Parlament dieses Abkommen annehmen werde. Die parlamentarische Gruppe Brasilien – Schweiz sei ein Instrument des Austauschs zwischen den Parlamenten und könne zur Diskussion im Senat beitragen.

Gemeinsamer Markt des Südens

Der Honorarkonsul Philippe G. Nell gibt auch zu bedenken, dass die anhaltende Krise in Brasiliens Nachbarland Argentinien mit einer der höchsten Inflationsraten der Welt und ernsthaften Problemen der Zahlungsbilanz die Regierung nicht dazu veranlassen werde, ihre Wirtschaft weiter für den internationalen Wettbewerb zu öffnen.

Der kürzlich gewählte argentinische Präsident Fernandez verlangt mehr Marktzugeständnisse beim EU-Importregime und damit auch bei der EFTA. «Eine ähnliche Stossrichtung gäbe es auch bei einer Wahl von Lula in Brasilien», meint Elsig. Obwohl Lula mehr Verständnis für Umweltschutz aufbringe, wolle er sicherlich einen besseren Marktzugang für die eigene Industrie und Agrarwirtschaft erreichen.

«Zum anderen ist es für Mercosur als Zollunion wichtig, wieder einmal Handlungsfähigkeit zu zeigen, dass Verträge im Verbund erfolgreich ausgehandelt werden können», so Elsig. Es gehe also auch um das Integrationsprojekt Mercosur und eine einheitliche Positionierung der Mitgliedsstaaten in Handelsfragen. «Die Bestrebungen Uruguays, mit China ein separates Handelsabkommen auszuhandeln, haben bereits zu erheblichen internen Spannungen geführt.»

Asien statt Europa

Es mehren sich die Zeichen, dass sich Mercosur prioritär nach Asien und nur noch sekundär nach Europa öffnen könnte: Kürzlich hat Mercosur die Verhandlungen mit Singapur über ein Freihandelsabkommen abgeschlossen und entsprechende Verhandlungen sind auch mit Südkorea in Gange. Brasilien möchte derweil mit Indonesien über ein Abkommen sprechen und Uruguay will – notfalls im Alleingang – Freihandel mit China betreiben.

Südamerika verfügt über Rohstoffe, produziert Lebensmittel und ist ein grosser Markt. Dies macht die Region nicht zuletzt angesichts der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs zu einem wirtschaftlich interessanten Partner.

Sonnenblumen
Sonnenblumen kurz vor der Ernte in der Nähe von Ines Indart, Argentinien. Keystone / Diego Giudice

Die EU gab kürzlich bekanntExterner Link, dass sie das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur als Priorität festgelegt hat, um in Lateinamerika gegenüber China Boden gut zu machen.

Auch die Schweiz will am Abkommen festhalten: «Wir sind bestrebt, das Abkommen so bald wie möglich zu finalisieren», versichert das SECO. Ein verbesserter Zugang zu den Mercosur-Märkten sei für die Schweizer Wirtschaft von grosser Bedeutung. «Gerade in turbulenten Zeiten wie diesen sind stabile Rahmenbedingungen für unsere Exportwirtschaft von zentraler Bedeutung.» Mit dem Abkommen werden nach Angaben der Regierung mittelfristig rund 95 Prozent der schweizerischen Ausfuhren in die Mercosur-Staaten zollbefreit.

«Es ist noch zu früh, das Abkommen zu schubladisieren», meint auch Manfred Elsig vom World Trade Institute der Universität Bern. Es brauche nicht viel, damit der EFTA-Mercosur-Vertrag genügend politischen Support erhalte – auf beiden Seiten.

In diesem Fall hätten NGOs zu früh auf ein Scheitern dieses Kontinente-übergreifenden Wirtschaftsvertrags gehofft.

Editiert von Balz Rigendinger

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