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«Merkel ist ein erstaunliches Phänomen»

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Auch beim einzigen Fernsehduell zwischen den beiden Kandidaten schnitt Kanzlerin Merkel besser ab. AFP

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gilt als unerschütterlich, sachlich, vorsichtig, bescheiden. Tim Guldimann, ehemaliger Botschafter in Berlin, Sozialdemokrat und einziger Auslandschweizer-Nationalrat, charakterisiert die seit 12 Jahren amtierende Kanzlerin zudem als hochintelligent, humorvoll, uneitel – und "natürlich" als Machtmenschen.

swissinfo.ch: Wenn man den Umfragen glaubt, ist das Rennen gelaufen: Kanzlerin Angela Merkel geniesst einen komfortablen Vorsprung auf ihren Herausforderer Martin Schulz von der SPD. Das muss Sie als langjähriges SP-Mitglied schmerzen…

Tim Guldimann: Natürlich schmerzt das, vor allem nach der enormen Aufbruchsstimmung in der Sozialdemokratischen Partei zu Beginn des Jahres. Merkel hat im November lauwarm ihre Kandidatur angemeldet, ohne dass man gewusst hätte, wieso sie das tut. Sie schien amtsmüde, und es gab kurzzeitig eine Wechselstimmung: Da kam Schulz, der heilige Martin als Retter der SPD. Kurzzeitig erreichte er bessere Umfrageresultate als Merkel. Danach ist die ganze Schulz-Begeisterung verpufft. Merkel hat heute einen enormen Vorsprung, der Wahlausgang ist klar der Wahlkampf langweilig.

Kampf ums Kanzleramt 

Angela Merkel von der CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands) ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Die in der DDR aufgewachsene 63-jährige Politikerin will ein viertes Mal zur Kanzlerin gewählt werden. Ihr Herausforderer ist der Europapolitiker Martin Schulz von der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Am 24. September 2017 fällt die Entscheidung.

swissinfo.ch: Kanzlerkandidat Martin Schulz verspricht in seinem Wahlkampf soziale Gerechtigkeit, gleiche Bildungschancen für alle, gerechte Löhne und Rentensicherheit. Wieso kann er nicht punkten?

T.G.: Die SPD war in der grossen Koalition inhaltlich enorm erfolgreich. Das begann nach der Wahlniederlage der SPD 2013 bereits mit dem Koalitionsvertrag, den Sigmar Gabriel auf Augenhöhe mit Merkel aushandeln konnte. In der Regierung hat die SPD inhaltlich viel erreicht. Trotzdem gelingt es ihr als Juniorpartnerin der Koalition nicht, diesen Erfolg in Umfragen und den bevorstehenden Wahlen umzusetzen.

Zweitens verkörpert Merkel Kontinuität und Stabilität, die zurzeit durch keine drohenden Probleme erschüttert werden: In der Flüchtlingsfrage ist es relativ ruhig, es herrscht Vollbeschäftigung und die Euro-Krise scheint überwunden. Und so kann Merkel erfolgreich weiterverwalten.

swissinfo.ch: Die 63-jährige Merkel gilt als uncharismatisch, unscheinbar und spröde, aber auch als knallharte Machtpolitikerin. Was für ein Mensch ist sie?

T.G.: Sie ist nicht spröde, sie ist sehr humorvoll, hochintelligent, sehr präzis und als Politikerin enorm professionell. Mit ihren profunden Dossier-Kenntnissen ist sie immer schlagfertig. Natürlich ist auch ein Machtmensch, sonst wäre sie nicht dort, wo sie ist. Und dabei ist sie uneitel und damit auch unanfechtbar.

swissinfo.ch: Von Merkels Seite sind im Wahlkampf weder Beschimpfungen noch Schmutzgeschichten zu hören, Attacken lässt sie unbeantwortet, Kritik an sich abprallen. Ist das Strategie oder schlicht und einfach Merkels Naturell?

T.G.: Es ist beides, und beides sehr erfolgreich.

swissinfo.ch: Woher kommt das parteiübergreifende, grosse Vertrauen in die «ewige» Kanzlerin, in «Mutti» Merkel?

Tim Guldimann
Tim Guldimann, Sozialdemokrat, Nationalrat, ehemaliger Botschafter in Berlin und Teheran. Keystone

T.G.: Es ist Merkel gelungen durch ihre unaufgeregte Führungsfähigkeit, in einem politischen Rahmen, der stabil ist, diese Kontinuität nochmals auszuspielen. Es ist ein erstaunliches Phänomen. Zudem ist sie eine Frau in der Rolle der Mutter, die für alle sorgt.

swissinfo.ch: Deutschland geht es wirtschaftlich bestens. Ist es so, dass von einer guten wirtschaftlichen Lage in der Regel die amtierende Regierung profitiert?

T.G.: Allgemein schon, wobei natürlich der Erfolg in Deutschland auch ein Erfolg der SPD in der grossen Koalition ist. Aber das zahlt sich, wie gesagt, nicht aus für die SPD – für die Kanzlerin schon.

swissinfo.ch: Ein Sieg von Merkel muss für sie als Sozialdemokrat bitter sein…

T.G.: Man könnte sich ja damit trösten, dass Merkel mit ihrer Politik nach links gerutscht ist. So kann man sie in der Flüchtlingsfrage von links nicht attackieren, in der Vollbeschäftigung auch nicht. Hinzu kommt, dass Schulz nicht der Machtmensch ist, den es im Wahlkampf für einen Angriff gegen Merkel gebraucht hätte. Das TV-Duell vom letzten Sonntag entartete zum Duett, als wäre es die Ouvertüre für eine fortgesetzte grosse Koalition.

swissinfo.ch: Wenn alles beim Alten bleibt: Was bedeutet das für die Schweiz und die Beziehungen zu Deutschland?

«Das TV-Duell vom letzten Sonntag entartete zum Duett, als wäre es die Ouvertüre für eine fortgesetzte grosse Koalition.»

T.G.: Nichts Neues. Selbst wenn die SPD die Regierung anführen würde – was ja unmöglich ist. Es gibt in der deutschen Aussenpolitik eine Kontinuität, unabhängig von der Koalition und der Partei. Bilateral ändert sich für die Schweiz mit Merkel nichts.

Wir müssen uns nicht der Illusion hingeben, dass die Schweiz für Berlin so wichtig ist, wir sind nicht auf der Agenda: Die Steuerfrage ist mit dem Automatischen Informationsaustausch (AIA) gelöst. Und der Fluglärmstreit um Zürich Kloten ist nicht die Flughöhe von Merkel – im Widerspruch zu Illusionen von Schweizer Politikern. Die Frage wird vielmehr sein, was in Europa passiert.

swissinfo.ch: Europa steht vor grossen Herausforderungen: Brexit, Flüchtlings- und Finanzkrise, Probleme zwischen Nord und Süd, Ost und West. Wer ist besser für den Zusammenhalt der EU? Merkel oder Schulz?

T.G.: Die Frage stellt sich nicht. Es wird keinen Kanzler Schulz geben. Merkel bleibt Kanzlerin.

Beim Zusammenhalt Europas sind zwei Fragen zentral, die auch unser Verhältnis zu Deutschland beeinflussen: Das eine ist die Kooperation mit Paris. Gelingt es Macron seine Arbeitsmarktreform durchzusetzen? Falls ja, hat er eine gute Ausgangslage, um mit Deutschland zusammen auch eine Reform der EU auf Augenhöhe anzugehen. Scheitert er mit dieser inneren Reform, ist er auch geschwächt, um in Europa die Rolle zu spielen, die er gerne möchte.

Das zweite ist England: Da geht es um die Frage, ob es einen geregelten Brexit gibt, ob der Austritt im Fiasko endet oder England am Schluss doch irgendwie in der EU bleibt. In jedem Fall wird Deutschland auch dabei eine wichtige Rolle spielen.

Die deutsche Politik gegenüber der Schweiz wird deshalb auch davon abhängen, wie es mit Europa weitergeht. Geht Europa den Weg einer Stärkung des Binnenmarktes, dann ist das wirtschaftlich gut für uns. Wir müssen dafür aber die institutionelle Frage lösen (institutionelles Rahmenabkommen). Setzt Europa verstärkt auf Vereinbarungen zwischen verschiedenen Regierungen – wie schon bei Schengen – dann schafft auch das neue Chancen für die Schweiz – immer vorausgesetzt, dass wir das institutionelle Problem lösen.

swissinfo.ch: Dann bleibt der Schweiz nur abzuwarten?

T.G.: Nein, wir sollten uns im europäischen Kontext für unsere Interessen aktiv engagieren. Dafür können wir deutschen Goodwill ausnützen. Deutschland ist mehr als andere EU-Staaten bereit, uns einzubeziehen, mit uns zu sprechen, unsere Probleme anzuschauen. Wir sollten uns aber keinen Illusionen hingeben. Diese Gesprächsbereitschaft bedeutet nicht, dass Berlin unsere Positionen teilt. Wir müssen begreifen, dass wir ein grosses Interesse daran haben, am Binnenmarkt angedockt zu bleiben. Aber das alles gibt es nicht zum Nulltarif. Dafür müssen wir die offenen Fragen mit der EU lösen. Die Frage ist nicht: ‹Bleibt Frau Merkel, hilft sie uns?› Nein! Wir müssen uns selbst helfen.

Tim Guldimann wurde 1950 in Zürich geboren. Seine Studien in Volkswirtschaft führten ihn nach Santiago de Chile, Mexiko und Stockholm.

Von 1976 bis 1979 arbeitete er am Max-Planck-Institut in Starnberg (D).

Zwischen 1979 und 1981 war er mehrmals zu Forschungszwecken in der Sowjetunion, in London und New York.

1982 trat er in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein. Von 1991 bis 1995 war er u.a. verantwortlich für Forschungsverhandlungen mit der EU. Zudem lehrte er an den Universitäten Bern, Zürich und Freiburg.

1996 bis 1997 war er Leiter der OSZE-Unterstützungsgruppe in Tschetschenien und handelte einen Waffenstillstand aus.

In den beiden darauffolgenden Jahren war er Leiter der OSZE-Mission in Kroatien.

Von 1999 bis 2004 war Guldimann Schweizer Botschafter in Teheran und vertrat in dieser Funktion auch die Interessen der USA in Iran.

Von 2004 bis 2007 lehrte er an verschiedenen europäischen Universitäten. 
Ab 2007 war er erneut für die OSZE tätig: Ein Jahr lang leitete er die OSZE-Mission und war stellvertretender Sonderbeauftragter des UNO-Generalsekretärs im Kosovo.

2014 berief ihn der damalige OSZE-Vorsitzende, der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter, zum OSZE-Sondergesandten für die Ukraine.

Von Mai 2010 bis Mai 2015 war er Schweizer Botschafter in Berlin.

2015 wurde er als erster Auslandschweizer in den Nationalrat gewählt. Guldimann lebt in Berlin.

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