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Warum die Entwicklungshilfe noch immer nicht vom Kolonialismus loskommt

Weisse Menschen begutachten ein Projekt in einem afrikanischen Land
Die ehemalige niederländische Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit Lilianne Ploumen begutachtet 2013 ein Projekt in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Solche Pressebilder sind meist für ein Heimpublikum gemacht, dass keine Einheimischen Teil der Delegation sind, ist dennoch auffällig. Ton Koene/Alamy Stock Photo

Die internationale Gemeinschaft ist sich einig: Die humanitäre Hilfe soll stärker von Organisationen vor Ort geleistet werden. Doch der Prozess kommt nur schleppend voran, auch in der Schweiz. Woran liegt das?

Nach der Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 zeigte sich ein in der humanitären Hilfe altbekanntes Muster: Viele internationale Organisationen waren nicht vorbereitet und hatten Schwierigkeiten, in der geforderten Geschwindigkeit auf die Situation zu reagieren.

Demgegenüber stand eine starke Zivilgesellschaft, die sich rasch mobilisierte und auch Spenden ausserhalb formaler Strukturen generieren konnte, etwa durch kirchliche Akteur:innen oder Privatspenden.

Bis heute leisten ukrainische Organisationen und Gruppen noch immer einen Grossteil der humanitären Hilfe, insbesondere in schwer zugänglichen Gebieten. Gleichzeitig gingen laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN-OCHA) bis Mitte November 2023 von den sieben Milliarden US-Dollar an humanitärer Hilfe, nur 0,8 ProzentExterner Link direkt an lokale Organisationen.

Diese Zahlen sind weit entfernt von den Verpflichtungen des Grand Bargain aus dem Jahr 2016. Damals haben sich Geberländer, UN-Agenturen und NGOs an der humanitären Uno-Weltgipfelkonferenz in Istanbul darauf geeinigt, die betroffenen Länder stärker in die Planung und Durchführung der humanitären Massnahmen miteinzubeziehen.

Konkret sollten 25% aller gesprochenen Mittel direkt an nationale oder lokale Organisationen fliessen. Weltweit wird dieses Ziel bis heute nicht annähernd erfüllt.

Kritik kommt verstärkt von den Empfängerländern selbst: Ein halbes Jahr nach dem Angriff Russlands wendeten sich zahlreiche ukrainische Organisationen der Zivilgesellschaft mit einem offenen BriefExterner Link an die internationale Gemeinschaft mit dem Titel: «Für alle, die der Ukraine wirklich helfen wollen».

Dabei platzierten sie eine Reihe von Vorschlägen, wie das gehen könnte, zum Beispiel mit weniger Bürokratie und Neutralitätsgeboten. «Wir können es uns nicht leisten, ständig weitere Anträge und sich wiederholende Wirkungsanalysen bis zu einer bestimmten Frist auszufüllen», steht dort. Oder: «Es sollte den lokalen Akteuren überlassen werden, ihre eigenen Ansätze und Prioritäten zu bestimmen und sie sollten nicht noch an ihrer Arbeit gehindert werden, weil sie in den Augen der internationalen Geldgeber nicht neutral sind.»

Die Schweiz: minimal besser

Auch aus der Schweiz gingen vergangenes Jahr nur knapp fünf Prozent des Budgets der humanitären Hilfe direkt an lokale Organisationen.

Dabei gibt es laut Pascal Richard von der Sektion Multilaterale Humanitäre Angelegenheiten bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) genügend Gründe, die sogenannte Lokalisierung der humanitären Hilfe voranzutreiben: «Lokale Akteure kennen sich vor Ort besser aus, haben oft den direktesten Zugang zu den Betroffenen und sind auch lange nach einer Katastrophe noch präsent. Und sie entlasten unsere Arbeit, denn international fehlt es an Ressourcen, um die gegenwärtigen Bedürfnisse weltweit decken zu können.»

Eine Konferenz mit zahlreichen Besuchenden
Wie gelingt die Lokalisierung der internationalen Zusammenarbeit? Die institutionellen Hürden sind der DEZA wohlbekannt, die Lösungswege jedoch nicht einfach zu identifizieren. Christian Brun/Keystone

Was einfach klingt, kommt in der Praxis sehr schleppend voran. Auch Richard räumt ein: «In akuten humanitären Krisen ist es oft einfacher, auf die Zusammenarbeit mit etablierten, internationalen Organisationen zurückzugreifen.» Er sehe es aber als Aufgabe der DEZA, dass lokale Akteure künftig verstärkt zuerst als Umsetzungspartner berücksichtigt werden. Wo dies nicht möglich sei, sollen konkrete Pläne zur Anpassung dieser Praxis entwickelt werden.

Als positives Beispiel nennt er Myanmar, wo im Jahr 2022 die humanitäre Hilfe der DEZA erstmals mit mehr lokalen als internationalen Partner zusammengearbeitet habe. Gleichzeitig setze sich die Schweiz mit gezielter Lobbyarbeit dafür ein, dass der FondsExterner Link des UN-OCHA in Myanmar künftig 50 Prozent seines Budgets an lokale Akteure vergebe.

Das Problem der Rechenschaftspflicht

Benoît Meyer-Bisch von der Sektion Frieden, Gouvernanz und Gleichstellung bei der DEZA gibt zu bedenken: «Grosse Geldgeber haben nun einmal den Auftrag, Rechenschaft darüber abzulegen, wie ihre Gelder verwendet werden.» Darum sei es teilweise schwierig, die Kontrollmechanismen zu entschlacken.

Die DEZA investiere daher zunehmend in die Stärkung der Kapazitäten von lokalen Akteur:innen, das heisst, sie begleite sie in der selbstbestimmten Organisationsentwicklung sowie im Projektmanagement. «Mit diesen Fähigkeiten erhalten lokale NGOs wiederum einfacher Zugang zu Finanzmitteln anderer Geber», so Meyer-Bisch.

Etwas einfacher als bei der Humanitären Hilfe gestalte sich die Lokalisierung in der Entwicklungszusammenarbeit. Zähle man die lokal geführten Aktionen der DEZA in diesem Bereich mit, seien es 16% des Gesamtbudgets, das ohne Umwege an lokale Partner gehe. Aber auch da gibt es Luft nach oben. Und im Entwurf der neuen Strategie der Internationalen Zusammenarbeit 2025 bis 2028 steht dazu bisher nur, dass ihre Umsetzung «soweit möglich durch lokale Akteure erfolgen solle». Ein Systemwandel klingt anders.

Die DEZA beschäftige sich schon lange mit dem Prozess der Lokalisierung, betonen Meyer-Bisch und Richard. «Wir wollen und sollten das aber in Zukunft noch expliziter tun.» Deshalb habe die DEZA kürzlich eine interne Arbeitsgruppe lanciert, die den Prozess vorantreiben wolle.

Die Dekolonisierung der Hilfe?

Nur mit lokalen Akteur:innen zusammenzuarbeiten, sei allein noch keine Lokalisierung der Entwicklungszusammenarbeit, sagt hingegen Hafid Derbal, Programmkoordinator für Simbabwe, Südafrika und Mosambik bei der Organisation Terres des hommes Schweiz und Themenverantwortlicher für sexuelle Gesundheit und Rechte.

«Konsequent gedacht geht es bei dem Prozess darum, bestehende Machtstrukturen in Frage zu stellen und die Entscheidungshoheit vom Norden in den Süden zu verlagern.» Die Geberländer müssten kritische Fragen stellen, von der Hoheit über die Finanzmittel über die Programmplanung bis hin zu Rassismus in den eigenen Reihen.

Wie genau das aussehen könnte, ist eine Debatte, die Nichtregierungsorganisationen in der Schweiz in den letzten Jahren verstärkt führen. Das Schlagwort dazu lautet «Dekolonisierung der Entwicklungshilfe». Schliesslich gehe es laut Derbal darum, «koloniale Denkmuster zu hinterfragen, die teils noch tief in unseren Strukturen vorhanden sind.»

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Im April 2023 unternahm Terre des hommes Schweiz einen Schritt in diese Richtung: Der bisherige Nationalkoordinator für Simbabwe und Südafrika, Tayson Mudarikiri, wurde zum Co-Programmkoordinator für Südafrika, Simbabwe und Mosambik ernannt. Seither sei es Mudarikiri, der den Lead für die Programmgestaltung vor Ort hat.

Er selbst gebe bei Bedarf vor allem noch Feedback, sagt Derbal. Das sei eine sinnvolle Erleichterung für beide Seite. «Bisher musste ich als sein Vorgesetzter alles absegnen, obwohl sich Mudarikiri vor Ort viel besser auskennt.»

Die Organisation habe auch andere Schritte unternommen, um die Entscheide in die Partnerländer zu verlagern. So seien es neu die Partner:innen vor Ort, die die Jahreskonferenz planten und über die Prioritäten für die Arbeitsschwerpunkte der neuen Strategie mitentscheiden würden.

Via die Plattform «Youth Speak» sollen ausserdem Jugendliche, die Hauptzielgruppe von Terre des hommes Schweiz, die Programminhalte mitbeeinflussen können.

Tayson Mudarikiri sagt auf Anfrage: «Ich fühle mich wertgeschätzt und bin froh, dass ich nun die gleiche Arbeit machen darf wie die Mitarbeitenden aus dem globalen Norden.» Gleichzeitig sei seine Co-Leitungsposition nur ein Puzzleteil des Prozesses. «Die Organisation hat ihren Hauptsitz in der Schweiz und ich bin trotzdem noch ein Vertreter ihrer Positionen und ihrer Strategie.»

Den grössten Handlungsbedarf sieht Mudarikiri bei den Geldgebern: «Geld bedeutet immer ein Machtungleichgewicht», sagt er. «Solange die Spender:innen ihre Gelder jeweils nur unter bestimmten Bedingungen vergeben, bleibt dieses Ungleichgewicht bestehen.» Ein gutes Zeichen wäre für Mudarikiri, wenn die Partner:innen freier wären zu entscheiden, wo und wie sie die Ressourcen einsetzen wollen.

Auch Hafid Derbal identifiziert bei den Gönner:innen den grössten Handlungsbedarf. Seine Rolle sehe er deshalb in den nächsten Jahren unter anderem darin, die Geldgeber für das Thema zu sensibilisieren. Das bedeute auch, wegzukommen von einer kolonial aufgeladenen Bildsprache. «Wir arbeiten mit Akteuren des Wandels, nicht mit Opfern.»

Editiert von Marc Leutenegger

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