Warum die Schweizer Börse chinesische Unternehmen verführt
Die Schweizer Börse SIX hat schon 13 chinesische Unternehmen begrüssen können. "Die historisch guten Beziehungen zwischen der Schweiz und China haben eine Schlüsselrolle gespielt", sagt CEO Jos Dijsselhof.
Im Besitz seiner Nutzer, also 120 Banken, betreibt SIX nicht nur die spanische und die Schweizer Börse, sondern bietet auch Service im Bereich Nachhandels-, Bank- und Finanzinformationsdienstleistungen an.
Mit 4044 Angestellten und einer Präsenz in 20 Ländern hat SIX 2022 einen Umsatz von 1,5 Milliarden Franken und einen Nettogewinn von 185 Millionen Franken erzielt. Das Interview mit Jos Dijsselhof, SIX-CEO seit Dezember 2017, fand in Zürich statt.
Jos Dijsselhof, 57, ist Niederländer und hat in den Niederlanden Abschlüsse in Informatik und Betriebswirtschaftslehre erworben. Ausserdem studierte er ein AMP (Advanced Management Program) an der französischen Business School INSEAD. Bevor Jos Dijsselhof im Dezember 2017 CEO von SIX wurde, hatte er eine lange und internationale Managementkarriere im Finanzsektor. Unter anderem war er Chief Operating Officer und Interims-CEO von Euronext in Amsterdam.
SWI swissinfo.ch: Fühlen Sie sich als Niederländer wohl in der Schweiz? Haben Sie die Absicht Schweizer zu werden?
Jos Dijsselhof: Ich bewundere die Schweiz und Zürich ist sicherlich eine der lebenswertesten Städte hier. Ich habe mich in diesem Land niedergelassen und mein Hochdeutsch verbessert sich stetig. Im Gegensatz zu dem, was man so hört, finde ich es einfach, in der Schweiz Freundschaften zu schliessen. Im Hinblick auf das Bürgerrecht stellt sich die Frage dann, wenn ich die Bedingungen für die Einbürgerung erfülle.
SIX bietet ein Angebot an Dienstleistungen, das breiter ist als jenes der Konkurrenz. Aus welchen Gründen – und warum macht es Ihnen die Konkurrenz nicht nach?
Zwischen unseren verschiedenen Aktivitäten gibt es wichtige Synergien. Tatsächlich imitiert uns die Konkurrenz nach und nach, aber dabei bremst sie aus, dass die Börse am profitabelsten bleibt. Weil unsere Mitbewerber:innen selbst an der Börse kotiert sind, im Gegensatz zu SIX, haben sie wenig Willen, wenig profitable Aktivitäten aufzunehmen.
Würden Sie sagen, Ihre echte Konkurrenz sind nicht die anderen Börsen, sondern die Unternehmen, die nicht reglementierte Transaktionen anbieten?
Ich bin absolut dieser Meinung. Unsere wahren Konkurrenten sind die Unternehmen, die sich auf Private Equity [Investition in Unternehmen, die nicht an der Börse kotiert sind] spezialisiert haben.
SIX ist in 20 Ländern präsent. Welches sind die Hauptfunktionen ihrer Filialen im Ausland?
Grosso modo haben wir 2000 Angestellte in der Schweiz, 1000 in Spanien und 1000 verteilen sich auf den Rest der Welt. In der Schweiz und in Spanien haben wir vor allem die typischen Aufgaben von einem Unternehmenssitz, verbunden mit der Business Development und IT. Die Hauptaufgabe unserer Filialen in anderen Ländern ist das Kommerzialisieren unserer Informations- und Wertpapierdienste.
2022 hat Ihre Börse 14 neue Unternehmen, darunter neun chinesische Unternehmen begrüssen können. Ist das die Ernte exzellenter chinesisch-schweizerischer Beziehungen, weit ab von den chinesisch-amerikanischen Spannungen?
Diese neun chinesischen Unternehmen sind in China bereits börsenkotiert. Im Rahmen einer neuen Vereinbarung [der China-Switzerland Stock ConnectExterner Link] zwischen SIX und den Börsen von Shenzen und Schanghai haben diese chinesischen Unternehmen die Möglichkeit erhalten, ebenfalls an unserer Börse kotiert zu werden, durch „International Certificates of Deposit“.
Natürlich haben die historisch guten Beziehungen zwischen der Schweiz und China eine Schlüsselrolle gespielt. 2023 haben wir übrigens bereits vier weitere chinesische Unternehmen willkommen heissen dürfen – andere Dossiers sind in Vorbereitung. Und gemäss gewissen Medien plant CATL, der Weltmarktführer bei den Autobatterien, fünf bis acht Milliarden Dollar über unsere Börse zu sammeln.
Ähnliche Vereinbarungen haben chinesische Börsen auch mit den Börsen von London und Frankfurt.
Tatsächlich. Wir haben diese europäischen Börsen aber nicht nur überrascht, sie konnten zudem bisher nur sehr wenige chinesische Unternehmen bei sich begrüssen.
Schaffen diese chinesischen Unternehmen Arbeitsplätze in der Schweiz?
Bis jetzt haben die Unternehmen Mittel über unsere Börse gesammelt, aber ich weiss, dass mehrere chinesische Unternehmen die Absicht verfolgen, Forschungszentren oder Fabriken in der Schweiz zu eröffnen, ebenso in der Europäischen Union.
Warum generieren die chinesischen Unternehmen, die bei SIX kotiert sind, so wenig Börsentransaktionen?
Bis jetzt werden ihre Papiere an unserer Börse in der Tat wenig gekauft und verkauft. Wenn diese Unternehmen jedoch stärker physisch in der Schweiz und Europa aktiv werden, werden sie sicher auch «Roadshows» [Investorenreisen] in Europa durchführen, was sich dann positiv auf ihr Handelsvolumen an der Börse auswirkt.
Glauben Sie, dass sich einige Schweizer Unternehmen auf der Grundlage des «China-Swiss Stock Connect» für die Kotierung an den Börsen in Shanghai oder Shenzhen entscheiden werden?
Das hoffe ich, aber noch ist es nicht passiert. Aber man muss auch vergleichen, was vergleichbar ist, denn die Zahl der börsenkotierten Unternehmen in China ist etwa 400-mal höher als jene in der Schweiz.
Wie schätzen Sie die Risiken ein, die sich aus Ihrer Nähe zu China ergeben?
Die Vorhersage geopolitischer Risiken ist keine einfache Sache. Wegen bestimmter Entwicklungen werden manchmal nationale Massnahmen ergriffen, beispielsweise Sanktionen gegen Russland. Selbstverständlich halten wir uns an alle rechtlichen Bedingungen. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf die Bedürfnisse der Unternehmen. Unsere Aufgabe ist es nicht, Politik zu machen oder Stellung zu Regierungen zu beziehen. Wenn ein Unternehmen die gesetzlichen Anforderungen für eine Börsenkotierung erfüllt, wird es an der Börse zugelassen.
Planen Sie für das geografische Gleichgewicht ähnliche Vereinbarungen, zum Beispiel mit Schwellenländern wie Indien oder Brasilien?
Zurzeit nicht, weil wir mit unseren verschiedenen laufenden Projekten zu beschäftigt sind. Zu einem späteren Zeitpunkt ist dies aber möglich, sofern die Schweizer Behörden und die möglichen Partnerländer uns unterstützen. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die spanische Börse, die zur SIX gehört, ein ähnliches Abkommen, Latibex, mit lateinamerikanischen Ländern hat.
Sind Sie, abgesehen von den chinesischen Unternehmen, etwas überrascht über die geringe Anzahl von Neuzulassungen an der SIX?
Insgesamt war das Jahr 2022 tatsächlich ein schlechtes Jahr für Börsenneulinge, vor allem wegen der geopolitischen Unsicherheiten und der niedrigen Bewertungen. Glücklicherweise wissen wir, dass viele Unternehmen nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, um an die Börse zu gehen.
Einige Unternehmen haben sich kürzlich von der Schweizer Börse zurückgezogen, zur Förderung von Innovation und Langfristigkeit, wie diese sagen. Was halten Sie davon?
Unternehmen, die von der Börse gehen, sind ein völliges Randphänomen. Ich spüre sogar eine Gegenbewegung, denn eine Börsenkotierung bietet zahlreiche Vorteile, zum Beispiel die Transparenz, die Präsenz und natürlich die Möglichkeit, sich ohne Zinsen zu finanzieren, wie es bei Bankkrediten der Fall ist.
Einige junge, wachstumsstarke Schweizer Unternehmen, etwa On, AC und immune, sind wegen der grösseren Nähe zu den Investoren und zum amerikanischen Markt in den USA an die Börse statt in der Schweiz.
Wenn die USA wirklich ihr Hauptziel sind und sie mit US-Unternehmen wie Nike verglichen werden möchten, kann ich ihrer Argumentation folgen, auch wenn ich dies etwas widerwillig tue.
Vor zwei Jahren hat SIX die Swiss Digital Exchange (SDX), also die digitale Börse der Schweiz, lanciert. Wie wichtig ist die SDX in Bezug auf das Volumen?
Mit dieser Initiative waren wir Vorreiter. Heute macht diese digitale Börse nur 3 bis 5 % des Volumens unserer traditionellen Börse aus, aber die SDX ist ein Generationenprojekt. Wir werden so schnell vorankommen, wie es unsere Kund:innen wünschen.
Sind Sie immer noch zufrieden mit der Übernahme der spanischen Börse BME?
Auf jeden Fall. Wir haben die BME vor drei Jahren erworben, um unseren Umsatz, unsere Profitabilität und die Anzahl unserer Kund:innen zu erhöhen. Politisch gesehen war es auch ein Weg, um einen Fuss in die Europäische Union zu bekommen. Zur Vermeidung zu hoher Investitionen haben wir die IT-Systeme für die Börsenkotierung unserer beiden Börsen noch nicht integriert, aber langfristig bin ich sicher, dass wir dies tun werden.
Planen Sie, weitere ausländische Börsen zu kaufen?
Organisch streben wir ein jährliches Wachstum von 4 % an und wollen gleichzeitig unsere Margen von 31 % [Ergebnis 2022] auf 40 % erhöhen. Was Akquisitionen angeht, so sind wir offen für Gelegenheiten in allen unseren Geschäftsbereichen und nicht nur an Börsen, sofern unsere Synergie- und Rentabilitätskriterien erfüllt sind. Im Moment jedenfalls gibt es in Europa kaum Börsen zu kaufen, also werden eventuelle Übernahmen in diesem Bereich eher aussereuropäisch sein.
Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl
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