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Warum in der Schweiz fast nie gestreikt wird

Männer mit Transparenten vor einem SBB-Gebäude
Einer der wenigen Streiks der Schweiz in den letzten Jahren: 2008 legten Mitarbeitende von SBB Cargo die Arbeit nieder. Das Bild zeigt ihre letzte Aktion, bevor sie am 9. April in Bellinzona pünktlich um 7.00 Uhr an die Arbeit zurückkehren. Keystone / Urs Flueeler

Tausende auf den Strassen, lahmgelegter öffentlicher Verkehr und geschlossene Schulen. Kurz: Streik. In den Nachbarländern gibt es ihn oft, in der Schweiz sind Streiks hingegen selten. Die Schweizer Mentalität ist dabei entscheidend.

Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) listet die Schweiz bei arbeitskampfbedingten Ausfalltagen ganz weit unten. Nur gerade einen Ausfalltag verzeichnet die Schweiz jährlich pro 1000 Beschäftigte.

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Doch warum ist dieser Wert so tief? Wollen oder dürfen Schweizer nicht streiken? In der Schweiz unterstehen rund 2.1 Millionen Arbeitnehmende einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Das ist fast jede zweite Arbeitnehmerin. GAV sehen oft eine Friedenspflicht vor, die besagt, dass Arbeitnehmerinnen während der Dauer eines Gesamtarbeitsvertrags nicht streiken dürfen.

Machen GAV mundtot?

“Diese Friedenspflicht umfasst alle Bereiche, die im GAV geregelt sind”, präzisiert der Professor für Arbeitsrecht, Roger Rudolph. GAV regeln sehr viele Bereiche im Arbeitsverhältnis. Somit sind den Arbeitnehmenden oft die Hände gebunden, sie dürfen gar nicht auf die Strassen.

Werden Arbeitnehmende mit GAV also mundtot gemacht? “Das kann man so nicht sagen”, entgegnet Rudolph. Er gibt zu bedenken, ein GAV komme nur zustande, wenn eine Gewerkschaft bereit sei, ihn anzunehmen. Diese Auffassung teilt Stefan Heini vom Arbeitgeberverband und fügt an: “Es sind die Gewerkschaften, die möglichst überall GAV möchten.”

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Auch ein Blick ins Ausland zeigt: Ein hoher GAV-Abdeckungsgrad verhindert Streiks keineswegs. So ist dieser in Deutschland und Frankreich höher als in der Schweiz. Zudem kann ein GAV gekündigt werden oder er läuft automatisch aus, und entsprechend entfällt die Friedenspflicht.

“Sozialpartnerschaft ist stark verankert”

Wenn nicht die GAV die Streiks in der Schweiz verhindern, was verhindert sie dann? Für den Arbeitgeberverband und den Arbeitnehmerverband Travail Suisse ist klar: Es sind Konsensentscheide. In der Schweiz spricht man miteinander und versucht eine Lösung zu finden, mit der alle leben können. “Die Schweiz hat eine lange Tradition der Kompromissbereitschaft”, so Heini.

Der Beitrag von SRF zum Bahnstreik in Deutschland:

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Gleich sieht das Thomas Bauer von Travail Suisse: “Die Sozialpartnerschaft ist in der Schweiz stark verankert.” Damit ist das partnerschaftliche Miteinander zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden gemeint. Die Sozialpartner hätten in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass die Sozialpartnerschaft funktioniert, indem sie wichtige Herausforderungen lösen konnten.

“Streiks sind destruktiv und lassen nur Verlierer zurück”

Gemeinsame Lösungen reduzieren das Eskalationspotential, weil sie breit abgestützt sind. So ist Widerstand eher selten. Hinzu kommen die direktdemokratischen Mittel, die es in der Schweiz gibt. Sind die Sozialpartner mit einer Lösung einmal unzufrieden, können sie sich teils mit einer Volksinitiative oder einem Referendum wehren und müssen nicht zu Streiks aufrufen.

Heini ist sich zudem sicher: “Streiks sind destruktiv und lassen in der Regel nur Verlierer zurück.” Dass Streiks Verlierer:innen hinterlassen, sieht auch Bauer so, aber: “Streiks sind als letztes Mittel wichtig”. Es sei aber zentral, dass Lösungen innerhalb der Sozialpartnerschaft gefunden werden.

Was sicherlich auch Streiks verhindert, ist der Wohlstand in der Schweiz und dass es den Arbeitnehmenden in der Schweiz im Vergleich zum Ausland eher gut geht. Sind Arbeitnehmende zufrieden, gibt es keinen Grund zum Streiken.

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