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Warum nicht alle Kinderarbeit komplett verbieten wollen

Kinder und Kakaobohnen
In globalen Lieferketten wie Kakao oder Tee stecken je nach Region nur 9 bis 25% der Kinderarbeit. Michael Dwyer / Alamy Stock Photo

Das Scheitern eines wichtigen Abkommens zur Bekämpfung von Kinderarbeit in der Kakaoindustrie rückt das Tabuthema wieder ins Scheinwerferlicht. Was aber, wenn internationale Normen zur Kinderarbeit die Lebensbedingungen von Kindern sogar verschlechtern?

Der elfjährige Ghanaer Samuel Obini (eine fiktive Person, die auf Berichten von NGO und Beobachtenden in Ghana basiert) wird von seiner Mutter um sechs Uhr morgens sanft geweckt. Nach einem kleinen Frühstück mit Maisbrei macht er sich auf den Weg zum zwei Hektar grossen Familiengrundstück, um bei der Ernte der Kakaoschoten zu helfen. Es ist Haupterntezeit.

Etwa drei Monate im Jahr schwänzt Samuel die Schule, damit seine Familie genug verdienen kann, um seine Ausbildung zu finanzieren. Seine beiden älteren Brüder haben das Haus verlassen, um sich in der Stadt Kumasi Arbeit zu suchen. Seine beiden jüngeren Schwestern sind noch zu klein, um mithelfen zu können. Seine Eltern haben nicht das Geld, um Arbeiterinnen und Arbeiter zu beschäftigen.

Weil die Schoten am selben Baum zu unterschiedlichen Zeiten reifen, muss diese Arbeit von Hand gemacht werden. Samuel benutzt einen langen Stock mit einem Metallhaken am Ende, um die Kakaoschoten abzutrennen. Sobald die Schoten für den Tag geerntet sind, spaltet er sie mit einer kleinen Machete auf und schöpft das weisse Fruchtfleisch heraus, das die Kakaobohnen enthält.

Samuel ist kein Krimineller, aber was er tut, ist illegal. Während seines Tages auf der Farm hat er gemäss der ghanaischen Gesetzgebung gegen Kinderarbeit mindestens drei gefährliche Tätigkeiten ausgeübt: das Ernten von über dem Kopf hängenden Kakaoschoten mit scharfen Werkzeugen, das Aufbrechen von Kakaoschoten mit einem scharfen Messer und das Arbeiten ohne grundlegende Schutzkleidung.

Zudem ist Samuel unter dem gesetzlichen Mindestalter von 13 Jahren, das für so genannte «leichte Arbeiten» gilt. Würde seine Arbeit bekannt werden, würde keine der Schweizer Schokoladefirmen etwas mit den gerade geernteten Bohnen zu tun haben wollen. Denn sie würden damit Kinderarbeit fördern. Die Schokoladeindustrie ist an die Kinderarbeits-Politik aus dem fernen Genf gebunden, wo die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ihren Sitz hat.

Fehlgeschlagenes Engagement

In diesem Jahr begehen Genf und die ILO das Internationale Jahr zur Abschaffung der Kinderarbeit. 2021 markiert auch das Ende des Harkin-Engel-Protokolls – einer Vereinbarung aus dem Jahr 2001, an der die Regierungen der USA, der Elfenbeinküste und Ghanas, die ILO und Schokoladehersteller beteiligt waren.

Dessen Ziel war es, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit in der Kakaoindustrie zu beseitigen. Nachdem die Industrie jedoch die Fristen mehrfach verstreichen liess, wurde das Protokoll dahingehend geändert, dass die schlimmsten Formen der Kinderarbeit in den Kakaosektoren von Ghana und der Elfenbeinküste bis 2020 um 70% reduziert werden sollten.

Gründe für die Misserfolge sind unter anderem die fehlende Rückverfolgbarkeit, ein Mangel an lokalen Schulen, eine Zunahme der Kakao-Anbaugebiete und sich ändernde Definitionen von Kinderarbeit.

Die jüngsten Zahlen sehen nicht vielversprechend aus. Ein vom US-Arbeitsministerium in Auftrag gegebener Bericht für das Jahr 2020 bewertet die Fortschritte bei der Erreichung dieses Ziels. Demnach waren 2018-2019 in der Elfenbeinküste und in Ghana immer noch 1,56 Millionen Kinder in Arbeiten tätig, die im Zusammenhang mit Kakao stehen.

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Von diesen Kindern wurden 95% auch in gefährlichen Tätigkeiten eingesetzt. Weil die Methodik für die jüngste Erhebung anders war als bei früheren, ist es nicht möglich zu sagen, ob die schlimmsten Formen der Kinderarbeit im Vergleich zu 2010 tatsächlich um 70% zurückgegangen sind oder nicht.

Der Bericht hält jedoch fest, dass der Anteil der Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren, die in der Kakaobranche arbeiten, in den letzten zehn Jahren von 31% im Jahr 2008/2009 auf 45% im Jahr 2018/2019 gestiegen ist.

Die Studie ergab auch, dass wie Samuel 94% der Kinder, die im Kakaoanbau arbeiten, entweder für ihre Eltern oder andere Verwandte tätig sind.

James Sumberg ist Experte für die Beschäftigung afrikanischer Jugendlicher in ländlichen Gebieten am Institute of Development Studies in Grossbritannien. Er ist der Meinung, dass nicht allein die ihnen aufgetragenen Arbeiten definieren sollten, ob Kindern Schaden zugefügt wird, sondern dass diese Bestimmung auch den sozialen Kontext umfassen sollte, in dem diese Arbeiten ausgeführt werden.

«Es ist ein Unterschied, ob das Kind unter einem drakonischen Akkordregime steht, bei dem es tausend Kakaoschoten knacken muss, sonst bekommt es kein Mittagessen», sagt er. «Oder ob es ein paar Schoten knackt, weil es sich als Teil der Familie fühlen und einen Beitrag leisten will.»

Ggrafik Kinderarbeit
Kai Reusser / swissinfo.ch

Was ist Kinderarbeit?

Heisst das, die Richtlinien der ILO sind zu starr, um umgesetzt zu werden? Die ILO definiert Kinderarbeit ganz allgemein als Arbeit, die «geistig, körperlich, sozial oder moralisch gefährlich und schädlich für Kinder ist; und/oder ihre Schulbildung beeinträchtigt».

«Kinderarbeit ist nicht Haushaltsarbeit», sagt Benjamin Smith, ein Spezialist für Kinderarbeit bei der ILO. Stattdessen konzentriere sich die ILO auf Situationen, in denen Kinder zu jung für die Art der Arbeit seien oder gefährlichen Arbeiten ausgesetzt würden, die ihre Gesundheit oder Sicherheit gefährden.

Extreme Fälle umfassen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit, einschliesslich Sklaverei, Zwangsrekrutierung für bewaffnete Konflikte, kommerzielle sexuelle Ausbeutung und illegale Aktivitäten wie Drogenhandel.

Neil Howard, der an der Universität Bath über Kinderarbeit forscht, hält das Konzept der Kinderarbeit selbst für problematisch, speziell die Art und Weise, wie die Behörden versuchen würden, Kinder davor zu schützen.

«Das Konzept der Kinderarbeit wurde von wohlmeinenden Politikern erdacht, grösstenteils im Westen vor allem gemeinsam mit der ILO, um Kinder zu schützen. Aber ohne sie dabei zu befragen», sagt er.

Er sagt, die politische Reaktion bestehe meist darin, bestimmte Arbeiten zu verbieten, was viele Kinder schlechterstelle. Für den Forscher hingegen ist es eine Frage der Nutzen-Kosten-Abwägung in der jeweiligen Situation.

«Natürlich haben Aufgaben wie das Pflücken von Kakaoschoten auch ihre Schattenseiten. Aber in Anbetracht der Umstände, unter denen viele arme westafrikanische Kinder auf dem Land leben, ist es nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern sogar eine überlebenswichtige Fähigkeit für sie. Denn der Kakaoanbau wird wahrscheinlich jene Arbeit sein, die sie schliesslich als Erwachsene machen werden», sagt er.

Laut Smith von der ILO steht es den Ländern frei, deren Richtlinien auf ihre eigenen nationalen Gegebenheiten zuzuschneiden. Auch obliege es den einzelnen Regierungen zu entscheiden, was als gefährliche Arbeit gelte.

Sumberg argumentiert jedoch, dass viele nationale Gesetze fast eins zu eins aus den Empfehlungen der ILO-Konventionen übernommen würden, sodass diese Flexibilität nicht zum Tragen komme.

Klar ist, dass es eine Kluft zwischen den von der ILO inspirierten nationalen Gesetzen und Vorschriften in Ghana und der Elfenbeinküste und dem Schicksal vieler Kinder in diesen Ländern gibt.

Viele der Faktoren, die dazu beigetragen haben, die Kinderarbeit in der industrialisierten Welt zu beseitigen sind in vielen Teilen der Welt nicht vorhanden. Zum Beispiel die Mechanisierung von Industrie und Landwirtschaft oder die Tatsache, dass der Ernährer oder die Ernährerin der Familie einer qualifizierten Arbeit nachgeht.

Ghana illegal activities
ICI

Schokoladenfirmen fahren harte Linie

Neben der ILO und den nationalen Regierungen sind die Schokoladeunternehmen ein weiterer grosser Akteur, der Einfluss darauf hat, wie Kinderarbeits-Politik vor Ort umgesetzt wird.

«Die öffentliche Wahrnehmung des Produkts und die Werte rund um die Marke sind unglaublich wichtig. Die Leute, welche die Marke verwalten, müssen viel Zeit damit verbringen, sie zu wahren und zu schützen», sagt Sumberg über die Strategien der Unternehmen betreffend Kinderarbeit.

Deshalb entscheiden sich viele Firmen, die unter Beobachtung von Medien, NGO, Konsumentinnen und Konsumenten stehen, für eine harte Linie. Der Schweizer Schokoladehersteller Lindt & Sprüngli teilte SWI swissinfo.ch per E-Mail mit, dass seine Lieferanten an die Beschränkungen der Kinderarbeit «gemäss der Definition der ILO und der UNO-Konvention und/oder der nationalen Gesetze, je nachdem, was strenger ist», gebunden seien.

Barry Callebaut, ein grosser Schweizer Schokoladeproduzent, entscheidet sich ebenfalls für die strengste Option und legt das Mindestalter für die Beschäftigung gemäss der ILO-Konvention 138 auf 15 Jahre fest (bzw. 14 Jahre für Länder, deren Wirtschafts- und Bildungseinrichtungen unzureichend entwickelt sind). Das Unternehmen akzeptiert das von der lokalen Gesetzgebung vorgeschriebene Mindestalter nur, wenn es höher ist als das von der ILO vorgeschriebene.

Howard von der University of Bath sagt, diese Strenge seitens der Unternehmen sei vor allem darauf zurückzuführen, dass Schokolade «von reichen Leuten in Europa konsumiert wird, die nicht gerne an die Tatsache denken, dass Kinder an der Herstellung beteiligt sind». Dies führe dazu, dass die Kakaoindustrie überproportional in den Fokus des gesamten Rahmens der Kinderarbeits-Problematik gezerrt werde.

Tatsächlich zeigen die neuesten Untersuchungen der ILO, dass mehr Kinderarbeit in der Produktion von Nicht-Exportgütern wie Mais, Reis oder Maniok vorkommt als in der Produktion von Exportgütern.

Diese Produktionen werden selten überwacht und betreffen oft Minderjährige, die gefährliche Arbeiten ausführen. Kinderarbeit in der Subsistenz-Landwirtschaft, in häuslicher Leibeigenschaft und in der Dienstleistungs-Branche sei ein grosser Teil des Problems, erhalte aber oft nicht so viel Aufmerksamkeit wie Kinderarbeit in globalen Lieferketten, sagt Smith.

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Keine einfachen Antworten

Die Schokoladebranche ist sich einig, dass Kinderarbeit ein komplexes Problem ist, das mit der ländlichen Armut zusammenhängt, und ein einfaches Arbeitsverbot für Kinder nicht die Lösung ist.

Eine 2019 durchgeführte Wirkungsanalyse des Engagements von Lindt & Sprüngli zeigte, dass die ghanaischen Bäuerinnen und Bauern mit einem Jahreseinkommen von nur rund 2500 US-Dollar, das zu 70% aus dem Kakaoanbau stammt, kaum über die Runden kommen.

Die Studie ergab auch, dass wegen des Trainings des Unternehmens zur Verhinderung von Kinderarbeit teilweise geringere Ernteerträge resultierten. Dies, weil dadurch die Arbeitskraft innerhalb einer Familie reduziert wurde.

«Es gibt keine einfachen Lösungen. Stattdessen brauchen wir koordinierte Anstrengungen von vielen Akteuren, die mehrere Lösungen bringen», sagt Nick Weatherill, Geschäftsführer der International Cocoa Initiative. Diese koordiniert die Aktionen der grossen Schokoladeunternehmen.

Smith von der ILO verweist auf ein von Ghana und der Elfenbeinküste eingeführtes System, bei dem die Unternehmen zusätzlich 400 Dollar pro Tonne Kakao zahlen, die unter den Bäuerinnen und Bauern umverteilt werden.

«Jene Unternehmen, die sich bereit erklärt haben, an diesem Programm teilzunehmen, lassen ihren Worten auch Taten folgen, wenn es um die Beendigung von Kinderarbeit in der Lieferkette geht», sagt er.

Sumberg drückt sich noch unverblümter aus: «Die effektivste Strategie ist vielleicht die schmerzhafteste für die Kakaoindustrie: den Produzenten und allen entlang der Lieferkette einen fairen Lohn zu zahlen», sagt er.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Anand Chandrasekhar

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