Warum westliche Unternehmen Russland nicht verlassen
Trotz des öffentlichen und politischen Drucks gibt es gemäss einer Studie noch keinen Massenexodus westlicher Firmen aus Russland. Warum brechen nicht mehr internationale Firmen ihre Verbindung zu Russland ab?
Anfang März 2022, eine Woche nach Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine, wurde ABB das erste grosse Schweizer Unternehmen, das ankündigte, seine Geschäfte in Russland zu unterbrechen. Einige Monate später kündigte der multinationale Konzern an, Russland komplett zu verlassen.
Aber fast ein Jahr nach Kriegsbeginn ist das Unternehmen noch immer daran, «den Ausstieg so schnell wie möglich unter Einhaltung aller geltenden Gesetze und Sanktionen zu vollziehen», wie die Medienstelle gegenüber SWI swissinfo.ch sagt. Das Unternehmen hatte zwei Produktionsstätten und rund 750 Angestellte im Land, als der Krieg begann.
Die ABB ist nicht allein. Während grosse Namen wie McDonalds, Renault und Siemens gegangen sind, ist die überwiegende Mehrheit der Firmen aus EU- und G7-Ländern in Russland geblieben – oder hat die Pläne zu gehen nicht vollzogen, so eine letzte Woche veröffentlichte StudieExterner Link der Universität St. Gallen und der IMD Business School. Schweizer Unternehmen wurden in der Studie nicht berücksichtigt. In einer Nachfolgestudie sollen sie einbezogen werden.
Am 24. Februar 2022 waren gemäss der Datenbank Orbis 2405 Niederlassungen von 1404 Unternehmen aus dem EU- und G7-Raum in Russland aktiv. Für den späten November 2022 fanden die Verfasser der Studie, Simon Evenett und Niccolò Pisani, heraus, dass weniger als jedes zehnte Unternehmen eine Niederlassung in Russland geschlossen hat: nur 8,5%. In absoluten Zahlen sind das 120 Unternehmen.
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«Unsere Resultate sind überraschend. Sie zeigen, dass Unternehmen dem Druck von Regierungen, Medien und NGOs widerstanden haben, Russland seit Beginn des Konflikts zu verlassen», so Evenett gegenüber der Westschweizer Zeitung Le TempsExterner Link. Gleichzeitig bieten die Ergebnisse einen Reality Check dazu, wie schwierig es für Unternehmen ist, einen bedeutenden Markt inmitten geopolitischer Spannungen zu verlassen.
Der Krieg geht weiter und mit der Zeit lässt der öffentliche offenbar Druck nach. Entsprechend gibt es kaum Anzeichen, dass noch eine grosse Zahl Unternehmen Russland verlässt. Trotz Russlands unerbittlichem Angriff auf die Ukraine hat sich die Desinvestitionsquote gemäss der Studie im vierten Quartal 2022 kaum verändert.
Leicht zu sagen, schwer zu tun
Warum haben manche Unternehmen Russland verlassen, während andere kaum was verändert hat? Der Studie zufolge könnte es mit der Frage zusammenhängen, ob die russische Tochtergesellschaft Geld verdient.
Diese 8,5% der in Russland tätigen Unternehmen, die sich bis November aus dem Land zurückzogen, stehen nur für gerade mal 6,5% des Brutto-Gewinns aller in Russland tätigen Firmen gemäss der ORBIS-Datenbank. In profitablen Sektoren wie der Landwirtschaft und der Rohstoffförderung ist der Anteil der Rückzüge zudem geringer.
Dies bedeutet, dass «die ausscheidenden westlichen Unternehmen im Durchschnitt eine geringere Rentabilität aufwiesen», schreiben die Autoren der Studie. Was bedeuten könnte, dass es Unternehmen sind, die finanziell weniger zu verlieren hatten, die ihre Verbindungen kappten.
Die Studie zeigt auch, dass der Standort des Unternehmenssitzes in gewissem Mass eine Rolle spielt. Bei den Unternehmen mit Hauptsitz in den USA beträgt der Anteil etwa 18%. Im Gegensatz dazu haben nur rund 15% der japanischen Unternehmen und nur 8,3% der EU-Unternehmen Russland verlassen.
Unter den verbliebenen Firmen waren etwa italienische Firmen stärker vertreten. Dies bedeute aber nicht automatisch, dass amerikanische, britische oder französische Unternehmen anfälliger für den Druck der heimischen Regierungen sind, so die Autoren der Studie.
Die Gründe fürs Bleiben bei den 90% der Unternehmen, die noch immer Kapitalbeteiligungen in Russland halten, sind verschieden. Die Autoren vermuten, dass viele Unternehmen nicht von den Sanktionen betroffen sind und russische Kunden oder Mitarbeiter:innen nicht im Stich lassen wollen. So haben beispielsweise Pharmaunternehmen wie Roche und Novartis keine Pläne, sich aus Russland zurückzuziehen, da die Medizin aus humanitären Gründen von Sanktionen ausgenommen ist.
Unternehmen, die sich trotz Zusagen nicht zurückgezogen haben, seien möglicherweise nicht unaufrichtig oder wollten absichtlich Zeit gewinnen, so die Autoren der Studie. In einigen Fällen hat es sich als schwieriger erwiesen, einen Käufer für ihr Geschäft zu finden, oder die geplanten Veräusserungen wurden von den russischen Behörden blockiert», so Evenett gegenüber Le Temps.
Die Ergebnisse ergänzen eine von Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld zusammengestellte ListeExterner Link von Unternehmensreaktionen. Demnach haben mindestens 1000 Unternehmen öffentlich angekündigt, dass sie ihre Aktivitäten in Russland freiwillig in einem Masse einschränken, das über das durch die Sanktionen vorgeschriebene Minimum hinausgeht. Die Yale-Liste berücksichtigt alle Geschäftsaktivitäten in Russland, während die Studie des IMD und der Universität St. Gallen nur Kapitalbeteiligungen in Form von Tochtergesellschaften untersuchte, bei denen ein Verzicht oft mit höheren Kosten verbunden ist.
Schweizer Unternehmen?
Eine Recherche des Schweizer Fernsehens SRFExterner Link gibt Einblick in die Pläne von Schweizer Unternehmen: Unternehmen wie ABB, Holcim und Lindt & Sprüngli seien im Begriff sich zurückzuziehen.
Von den neun Unternehmen, die dem SRF geantwortet haben, haben zwei Unternehmen – Swatch und Geberit – keine Pläne, sich aus Russland zurückzuziehen. Ein Sprecher von Swatch sagte gegenüber SRF, dass der Uhrenhersteller «weiterhin die Hoffnung hat, dass dieser schreckliche Krieg zu einem Ende kommt. Unsere Niederlassung (zu 100% im Besitz von Swatch) existiert weiterhin, und wir haben unsere Mitarbeiter an Bord behalten».
Auf der Yale-Liste stehen 44 Schweizer Unternehmen, von denen vier weiterhin «business as usual» in Russland betreiben und keine Pläne für einen Kurswechsel angekündigt haben. Der Konsumgüterriese Nestle sowie Novartis und Roche gehören zu den acht Unternehmen, die «Zeit kaufen». Das heisst, sie haben erklärt, dass sie die Situation analysieren oder Investitionen in gewissem Umfang verschieben, sich aber nicht vollständig zurückziehen. Acht Unternehmen haben entschieden, sich vollständig aus Russland zurückzuziehen. Es ist unklar, in welchem Umfang sie dies tatsächlich getan haben.
Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl
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