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Was ein Scheitern des Rahmenabkommens die Schweiz kostet

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© Keystone / Gaetan Bally

Der wirtschaftsnahe Think Tank Avenir Suisse hat Berechnungen angestellt, wie teuer die Schweiz ein Scheitern des Rahmenabkommens zu stehen kommt. Die wirtschaftlichen Aussichten seien nicht rosig.

Heute kam es zum lang erwarteten Spitzentreffen in Brüssel. Bundespräsident Guy Parmelin sprach mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über das Rahmenabkommen. Der grosse Durchbruch blieb allerdings aus. Die Schweiz beharrt auf der Herausnahme der drei umstrittenen Punkte, was die EU weiterhin ablehnt.

Parmelin sagte vor den Medien, das Gespräch mit von der Leyen habe nicht die erhofften Fortschritte gebracht, auch wenn die Diskussion sehr offen gewesen sei. Die Schweiz könne das Abkommen, so wie es vorliege, nicht unterzeichnen. 

Laut dem EU-Chefsprecher hat das Treffen immerhin «politisch Klarheit gebracht».

Im Hinblick auf die «Volksinitiative gegen Masseneinwanderung» von 2014 berechneten Basler Forschende die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I. Das Ergebnis: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) würde um 7,1% oder 64 Milliarden Franken tiefer liegen als bei einem Weiterführen der Verträge mit der EU. Für einen einzelnen Bürger respektive eine Bürgerin bedeutete das in der damaligen Berechnung: Die Bilateralen I sind für jede Person pro Monat 540 Franken wert.

Nun hat Avenir Suisse versucht, eine ähnliche Berechnung für das Rahmenabkommen zu machen und wird demnächst eine Analyse publizieren.

Im Unterschied zur damaligen Berechnung geht es nicht um eine hypothetische Kündigung eines Abkommens, sondern um ein Nichtzustandekommen des Rahmenvertrags. Ein direkter Rückschluss ist entsprechend schwierig. Aber: «Wichtige Abkommen der Bilateralen I werden wohl nicht mehr aufdatiert werden. Die heute weitgehend gleichberechtigte Marktteilnahme wird zusehends zu einem Marktzugang abschwächt», sagt Patrick Dümmler, Senior Fellow und Forschungsleiter Offene Schweiz bei Avenir Suisse.

Ohne Rahmenabkommen verliere das bestehende Vertragswerk längerfristig seinen Wert, und dies schaffe Handelsbarrieren. So rechne allein die Medtech-Branche, die es Ende Mai als nächstes treffen werde, mit jährlichen Zusatzkosten von 75 Millionen Franken. «Die Maschinenindustrie wird voraussichtlich ab 2023 vor neuen technischen Handelshemmnissen stehen. Werden mit der Medtech-Branche vergleichbare Kosten angenommen, resultieren zusätzliche jährliche Belastungen von über einer halben Milliarde Franken», so Dümmler.

Statement von Bundespräsident Guy Parmelin am 23. April 2021 zum Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, bei dem keine Einigung über das Rahmenabkommen erzielt werden konnte:

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Branchen unterschiedlich betroffen

Ein Scheitern des Rahmenabkommens ist allerdings nicht für alle Wirtschaftszweige gleich schlimm. «Je stärker eine Branche auf den Schweizer Binnenmarkt fokussiert und je weniger handelbar eine Ware ist, umso geringer die Betroffenheit», sagt Dümmler. So seien sogenannt persönliche Dienstleistungen kaum betroffen. «Haareschneiden oder viele Gesundheitsdienstleistungen müssen vor Ort erbracht werden, ein fehlendes Rahmenabkommen hat darauf keinen Einfluss.»

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Keystone / Arne Dedert

Bei manchen Branchen, wie beispielsweise der Medtech-Branche, sind laut Dümmler bereits heute Kosten angefallen. Weil die EU schon seit Längerem drohte, das Abkommen über technische Handelshemmnisse nicht zu erneuern, hat sich die Branche auf dieses Szenario eingestellt. «Viele Firmen haben im EU-Raum eine Niederlassung gegründet, damit sie ihre Produkte dort zertifizieren können, diese Investitionen – Schätzungen gehen von 100 Millionen Franken aus – sind also bereits angefallen», sagt Dümmler. «Damit wird im EU-Ausland investiert und nicht in der Schweiz – das ist eine Konsequenz der zögerlichen Politik in Bundesbern.»

SRF berichtete am 1. April 2021: Schweizer Maschinenindustrie befürchtet Massnahmen der EU

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Eine genaue Quantifizierung aller Effekte ist mit der heutigen Datenlage unmöglich, bedauert Avenir Suisse. Die Medtech-Branche sei aber kein Einzelfall. «Einzurechnen sind nicht nur die Kosten zur Überwindung neuer Marktzugangshürden, sondern auch die Verschlechterung der Wettbewerbsposition.» Dass keine neuen Marktteilnahmeabkommen geschlossen würden, schmälere das Wachstumspotenzial zusätzlich. Zum Beispiel will die EU ohne Rahmenabkommen kein Stromabkommen abschliessen.

Angesichts der hohen Kosten ist es aus der Aussenperspektive schwer verständlich, warum die Schweiz kein Rahmenabkommen will. «Im Ausland provoziert dieser Entscheid Kopfschütteln, weil wir unseren eigenen Unternehmen Steine in den Weg legen», meint Dümmler.

Wege aus dem Jammertal

Laut Dümmler sollten nicht nur die Kosten thematisiert werden, sondern auch Alternativen aufgezeigt werden. Die grosse Frage laute: «Wie können wir das Scheitern des Rahmenabkommens mit eigenen Anstrengungen wettmachen?»

«Ohne Alternative zum Rahmenabkommen verliert die Schweiz an Standortattraktivität.»

In Frage kommen laut Dümmler vor allem zwei Ansätze: Eine marktwirtschaftliche Fitness-Kur im Inneren, wie sie Avenir Suisse schon lange fordere, sowie umfassende Wirtschaftsabkommen mit Drittstaaten. «Wir sollten die Produktivität des Binnensektors steigern», so Dümmler. «Das wird aber dem Kleingewerbe und der Landwirtschaft nicht gefallen, weil dies mit Öffnungen und mehr Wettbewerb verbunden ist.»

Die Schweiz strebt schon seit Längerem Freihandelsabkommen mit den USA und mit den Mercosur-Staaten an. Avenir Suisse würde solche Abkommen begrüssen: «Gerade ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten würde einen Wachstumseffekt auslösen. Aber dafür müssten wir den Landwirtschaftssektor öffnen, was innenpolitisch ein grosser Stolperstein ist», so Dümmler. Die Aussichten seien also nicht rosig.

Am 2. September 2019 äusserte sich Patrick Dümmler gegenüber SRF Eco zu den Kosten der Abschottung:

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Wie geht es weiter?

Dümmler persönlich glaubt, dass der Bundesrat versuchen werde, das bisher mit den Bilateralen Erreichte zu sichern. Er habe aber keine valablen Alternativen im Falle eines Neins zum Rahmenabkommen aufgezeigt.

«Die Schweiz agiert wie der Frosch im Kochtopf.»

Bis sich die Schweiz mit der EU auf eine Neuordnung der Beziehungen geeinigt hat, kann es Jahre dauern. Kommentatoren warnen, in der Zwischenzeit würden die Bilateralen erodieren. Die EU hat nämlich angekündigt, keine neuen Verträge mit der Schweiz abschliessen und die bestehenden Abkommen nicht mehr aufdatieren zu wollen.

«Die Schweiz agiert wie der Frosch im Kochtopf: Wird die Temperatur nur langsam erhöht, bleibt der Frosch bis zum Siedepunkt im Wasser und sieht die Gefahr nicht kommen», so Dümmler. «Ohne ein zukunftsfähiges Vertragswerk droht eine schleichende Erosion der Marktteilnahme. Die wirtschaftlichen Folgen werden laufend zunehmen. Im Gegensatz zum Brexit gibt es keinen Knall auf einen bestimmten Stichtag hin», so Dümmler. «Ohne eine wirtschaftlich valable Alternative zum Rahmenabkommen verliert die Schweiz weiter an Standortattraktivität.»

Die Bewegungen autonomiesuisse und Allianz Kompass/Europa schätzen das Rahmenabkommen wirtschaftlich anders ein als Avenir Suisse, wie die Radiosendung Echo der Zeit von SRF am 12. Februar 2021 berichtete:

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