Raphaël Grand: «In den USA kann die Polizei auch eine Gefahr für Journalisten sein»
In der Schweiz verfügen nur noch wenige Medien über ein eigenes Korrespondentennetz im Ausland. Wer sind diese Menschen, die sich entscheiden, im Ausland zu leben, um ihren Landsleuten über die Welt zu berichten? Und wie ist ihr Verhältnis zur Schweiz als Medienschaffende? SWI swissinfo.ch porträtiert fünf von ihnen. Erste Station: die USA.
Wenn Sie zu den Hörern und Hörerinnen von La Première gehören, einem Radioprogramm des Westschweizer Radio und Fernsehens (RTS), werden Sie mit seiner Stimme vertraut sein. Zuerst aus Shanghai in China und jetzt aus Washington D.C. in den USA, ist Raphaël Grand im Verlauf von sieben Jahren zu einer führenden Figur der internationalen Nachrichtenwelt geworden.
Kein Kindheitstraum
Der heute 39 Jahre alte Walliser hatte ursprünglich nicht vor, in den Medien zu arbeiten. Nach dem Besuch des Gymnasiums, das er mit der naturwissenschaftlichen Matura abschloss, wollte er an der damaligen Ingenieurschule Lausanne (heute Haute École d’Ingénierie et de Gestion de Canton de Vaud, HEIG-VD), studieren.
Um das tun zu können, musste er ein einjähriges Praktikum absolvieren, weil er nur einen akademischen Hintergrund hatte. Deshalb begann er, bei Rhône FM zu arbeiten, einem lokalen Radiosender im Wallis. Seine Ingenieursausbildung schloss er schliesslich erfolgreich ab – und mit einer Gewissheit: «Dieser Job war nichts für mich», erzählt er.
Darauf beschloss Grand, die Journalistenschule in Lausanne zu besuchen. Danach folgte eine Weltreise mit seiner Frau, während er als freier Mitarbeiter für das RTS-Programm «Un dromadaire sur l’épaule» (wörtlich: Ein Dromedar auf der Schulter) tätig war. Nach der Rückkehr nach Hause träumten beide davon, «Reisen mit Berufs- und Familienleben verbinden zu können».
Das erste Sprungbrett
Im Jahr 2013 bot sich die perfekte Gelegenheit dazu. Die Stelle des Korrespondenten in China wurde frei. «Es gab nicht viel Konkurrenz um diese Stelle in China. So schaffte ich es, meinen ersten Posten im Alter von 32 Jahren zu bekommen.»
Er begann noch in der Schweiz, Chinesisch zu lernen. Und setzte das nach der Ankunft in China mit einer Stunde Unterricht pro Tag fort. Aber er arbeitete dort, «wie alle Journalisten, mit einem Fixer. Diese Personen haben die Rolle eines Übersetzers und Assistenten. Ohne sie wäre es unmöglich, zurecht zu kommen», sagt er.
Als sie nach China aufbrachen, waren Grand und seine Frau bereits Eltern eines zweieinhalbjährigen Jungen und eines neun Monate alten Mädchens.
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«China ist ein Land voller Unbekannter, extrem aufregend, aber die Politik des Staats bedeutet auch, dass es keine Debatte und letztlich überhaupt keine Politik gibt.» So beschloss die Familie, auch wegen des mit der Umweltverschmutzung verbundenen Gesundheitsrisikos für die Kinder, sich nach neuen Horizonten umzuschauen.
Durch einen glücklichen Zufall wurde zu der Zeit die Korrespondentenstelle in Washington frei. «Die USA sind der Heilige Gral für Korrespondenten. Es ist ein prestigeträchtiger Ort, ein Deckname für Macht, der Sitz der führenden Weltmacht. Doch bevor man diese Position erlangt, muss man sich erst einmal beweisen, was mir mein Aufenthalt in China ermöglicht hatte.»
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Keine Zeit für Musse
Die Familie Grand zog im Sommer 2017 in die Nähe von Washington um. Ein totaler Szenenwechsel nach den Jahren in Shanghai. «Glücklicherweise besuchten die Kinder eine zweisprachige chinesisch-englische Schule. Sie hatten also keine Anpassungsprobleme.»
Für seine Frau war die Situation komplizierter. In der Schweiz hatte sie als Kleinkindererzieherin gearbeitet, aber das Journalistenvisum ihres Mannes erlaubte ihr nicht, in den USA zu arbeiten. Sie entschied sich deshalb für ein Psychologiestudium. «Für mich muss sich auch der Partner oder die Partnerin entwickeln und von der Erfahrung profitieren können, auch wenn die Möglichkeiten zwangsläufig begrenzt sind», sagt er.
Über ein Land wie die USA zu berichten, das praktisch einen Kontinent umfasst, erfordert Reaktionsfähigkeit von Seiten des Journalisten, aber auch Selbstaufopferung und Flexibilität von Seiten der Person, die ihr Leben mit ihm teilt. Insbesondere, wenn das Paar auch Kinder hat. «Meine Frau und ich sind ein Tandem. Ohne sie könnte ich diesen Job nicht so ausüben wie ich es heute tue», sagt Grand dankbar.
Das Land ist riesig und verfügt über einen unerschöpflichen Vorrat an Themen für Reportagen und Berichte. Wenn er für eine Reportage unterwegs ist, können die Tage sehr lang sein. Denn der aufsässige Präsident Trump «hört nie auf». Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass der Journalist sich nach seiner Rückkehr in ein Hotel nochmals an die Arbeit machen muss, weil in Washington etwas passiert ist.
«Ich erinnere mich, dass ich in Selma, im Bundesstaat Alabama, einmal die Gelegenheit hatte, eine Person zu treffen, die an einem der MärscheExterner Link von 1965 mit Martin Luther King teilgenommen hatte. Dann musste ich sie mitten in einem Interview verlassen, um eine Duplex-Schaltung in die Schweiz zu machen, weil der damalige Aussenminister von Donald Trump zurückgetreten war.»
Ost gegen West
Grand räumt ein, dass es ihm am Anfang schwer fiel, einen Rhythmus zu finden, da nichts vorhersehbar war. Und, anders als man denken könnte, ist es als Journalist in den USA nicht unbedingt einfacher als in China.
Die Schweiz geniesst in China ein sehr gutes Image, während man in den USA als Journalist aus der Schweiz praktisch «ein Niemand ist. Es ist fast unmöglich, ein Interview mit einem Parlamentarier zu bekommen, weil man diesem weder in Bezug auf das Publikum noch auf Wahlen von Nutzen ist». Der Wettbewerb zwischen den vielen Medien verschärft das Problem zusätzlich.
Deshalb zieht Grand es vor, Herr und Frau Jedermann zu treffen. «All diese Menschen haben eine Geschichte. Und manchmal erzählt die kleine Geschichte die grosse», sagt er. Und fügt mit einem Lachen hinzu: «Ich bin nicht sicher, ob dieses Zitat von mir ist!»
Er glaubt, dass einfache Menschen offener und ehrlicher reden als Persönlichkeiten. Und würden dadurch zu «besseren ‹Instrumenten› in der Berichterstattung über eine Situation».
In China wurde er regelmässig von der Polizei festgenommen, hatte aber nie ernsthafte Probleme. «Hier ist der Sicherheitsapparat wichtig.» Da die Pressefreiheit in der US-Verfassung verankert ist, stellt die Berichterstattung an sich kein Sicherheitsproblem dar. «Es ist allerdings immer eine besondere Erfahrung, bei Treffen mit Donald Trump anwesend zu sein, weil er systematisch mit dem Finger auf Journalisten zeigt und sie beschuldigt, Fake News zu verbreiten.»
In den sieben Jahren, die er als Korrespondent im Ausland verbrachte, hinterliessen mehrere Ereignisse bei ihm ihre Spuren: Der Taifun Haiyan und die Tausenden von Toten in Tacloban auf den Philippinen im Jahr 2013 (er war gerade erst in Shanghai angekommen), das Erdbeben in Nepal im Jahr 2015 oder die Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang (eine seiner letzten Reportagen in China, während der er viel Ärger mit der Polizei hatte).
Das aktuellste prägende Ereignis war in Minneapolis (Hauptstadt des Bundesstaates Minnesota im Norden der USA). Am 25. Mai starb dort der Afroamerikaner George Floyd bei seiner Festnahme durch weisse Polizeibeamte. Eine Welle von Protesten folgte und Grand ging nach Minneapolis, um von dort über die Ereignisse zu berichten.
«Die Polizei setzte Tränengas ein und begann, auf Demonstranten zu schiessen. Auch die Presse wurde ins Visier genommen, und mehrere Kollegen wurden verletzt. Da wurde mir klar, dass die Polizei hier auch eine Gefahr für Journalisten sein kann.»
Zum Glück verlaufen die meisten seiner Reportagen reibungslos; seine Schweizer Staatsbürgerschaft hat ihm auch schon einmal aus der Patsche geholfen: Er war wegen eines Hurrikans unterwegs in den Südosten des Landes, als er wegen zu schnellen Fahrens von einem Polizisten angehalten wurde. Dieser bemerkte seinen Akzent und fragte ihn, ob er Franzose sei. «Nein, Schweizer», antwortete Grand, worauf der Polizist ausrief: «Oh, Roger Federer! Haben Sie einen schönen Tag!» und ihn einfach weiterfahren liess.
An die Zeit nach Washington denkt Grand noch nicht. «Ich werde jetzt erst mal versuchen, die nächsten Präsidentschaftswahlen und die Trump-Ära zu überleben. Danach werden wir sehen.»
Im Jahr 2019 lebten mehr als 81’000 Schweizerinnen und Schweizer in den USA. Das Land liegt damit, gemessen an der Zahl der Schweizer Expats, hinter Frankreich und Deutschland an dritter Stelle.
Auch die Schweizer Wirtschaft wendet sich zunehmend den USA zu, die 2019 nach der Europäischen Union ihr zweitgrösster Exportmarkt waren.
Die Schweiz und die USA unterhalten seit dem 19. Jahrhundert diplomatische Beziehungen. Bereits 1822 eröffnete die Schweiz ihre ersten Konsulate in Washington und New York. Sechzig Jahre später, 1882, richtete die Schweiz in Washington ihre erste aussereuropäische Botschaft ein.
Im Rahmen eines SchutzmachtmandatsExterner Link übernimmt die Schweiz regelmässig die Rolle einer Botin zwischen den USA und Iran, wo sie seit 1980 die Interessen Washingtons vertritt.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
Folgen Sie Raphaël Grand auf Twitter: @raphaelgrandExterner Link
Der Podcast Washington D’ici, produziert in Zusammenarbeit mit den Korrespondenten der öffentlich-rechtlichen französischen Radiosender (@diciwashingtonExterner Link), ist hierExterner Link zu finden.
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