Sind die Eliten in Davos mit einer «Rebellion des Mittelstands» konfrontiert?
Es ist eine Zeit der Nervosität für die globalen Führungskräfte, die in Davos am Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums zusammenkommen. Die Resultate von Urnengängen in Grossbritannien, den USA und Italien im vergangenen Jahr werden als Herausforderung der Mittelschicht an das politische Establishment interpretiert.
In den Niederlanden, Deutschland und Frankreich stehen in diesem Jahr Wahlen an. Verschiedene globale Führungskräfte, darunter Frankreichs Präsident François Hollande, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanadas Premierminister Justin Trudeau entschieden sich, nicht ans WEF zu reisen, sondern sich um Anliegen und Sorgen ihrer Wählerinnen und Wähler zu Hause zu kümmern.
Auch die Schweiz, die als Bastion für komfortables Leben, Reichtum und betuliche Politik gilt, machte in jüngster Zeit Erfahrungen mit politischer Polarisierung und kontroversen Abstimmungen.
Das World Economic Forum (WEF) ist entschlossen, sich dieser Herausforderung zu stellen und stellte die diesjährige Veranstaltung unter das Motto «Anpassungsfähige und verantwortungsvolle Führung».
Als Führungskraft, «muss man zuhören, muss mit den Menschen interagieren, die einem die Führung anvertraut haben», erklärte WEF-Gründer Klaus Schwab im Vorfeld. «Es reicht aber nicht aus, nur zuzuhören, man muss auch agieren, muss verantwortungsvoll sein, muss mutig genug sein, Entscheidungen zu treffen, um den Zustand der Welt zu verbessern.»
Wirtschaftliche Entwicklung müsse immer an soziale Verantwortung gebunden sein. «Wir hoffen, dass die Welt nun besser auf diese Botschaft hören wird, als sie es in den vergangenen Jahren getan hat», fügte Schwab hinzu.
Louis Perron, ein Schweizer Politologe, der eine Reihe von Schweizer und ausländischen Kunden berät, glaubt, dass die Eliten im Westen heute den Preis für ihre verpfuschte Antwort auf die sich rasch wandelnde Welt bezahlen, in der sich die Menschen immer mehr Sorgen machen um Arbeitsplätze, Immigration und ihr künftiges Wohlergehen.
«Die Leute sagen etwas, das die Eliten nicht verstehen. Und statt ihre Botschaft anzupassen, sagen Führungskräfte immer wieder dasselbe, einfach lauter. Das führt zu einer Diskrepanz zwischen Nachfrage und politischem Angebot, und daher stimmen die Leute für etwas Anderes», sagt Perron gegenüber swissinfo.ch.
«Jede Wahl- oder Abstimmungskampagne ist ein Kampf um die Definition dessen, worüber wir abstimmen. Und zunehmend verlieren Regierungsparteien diese Schlacht.» Und wenn Führungskräfte einmal anfingen, die Auseinandersetzungen zu verlieren, werde es für sie sehr schwierig, verlorenen Boden wieder gut zu machen, fügt der Politologe hinzu.
Schweizer Volksabstimmungen
Der Entscheid der britischen Stimmberechtigten, aus der Europäischen Union auszutreten, gepaart mit der Ablehnung der politischen Clinton-Dynastie zu Gunsten des Aussenseiters Donald Trump in den USA, wird als Beweis einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit dem etablierten Führungssystem betrachtet.
Auch in der Schweiz reden die Stimmberechtigten immer wieder mit. In den vergangenen Jahren wurden dem Stimmvolk einige Abstimmungen vorgelegt, die darauf abzielten, etablierte Praktiken zu verändern. Dabei ging es unter anderem um einen Mindestlohn, um Veränderungen der Nationalbankpolitik oder um die Art und Weise, wie öffentliche Dienstleistungen betrieben werden sollen.
Viele dieser Begehren scheiterten, aber die Annahme von Vorlagen wie der «Abzocker»-Initiative (gegen überhöhte Saläre für Topmanager) oder der Initiative gegen Masseneinwanderung in den letzten Jahren sorgten bei politischen und wirtschaftlichen Führungskräften für Kopfschmerzen. Was die Schweizer Wirtschaftswelt veranlasste, einzuräumen, dass sie sowohl zu Politkern als auch den Stimmberechtigten wieder einen Bezug herstellen müsse.
In einer im November 2016 veröffentlichten Studie befasste sich die UBS mit der Ansicht, dass die Unzufriedenheit der Stimmberechtigten von der Mittelschicht angetrieben werde. Dieses beobachtete Phänomen sei in westlichen Ländern deutlich ausgeprägt, erklärte die Schweizer Grossbank. In aufstrebenden Volkswirtschaften hingegen wachse der Mittelstand und werde wohlhabender, hiess es in der Studie.
Die UBS zeigte sich aber auch überzeugt, dass der Mittelstand in der Schweiz einen Sonderfall im Westen darstelle. Die Schweizer Regierung habe gute Arbeit geleistet, um die Einkommensunterschiede zu mildern, indem die Leute mit niedrigen Löhnen bei Steuern und Sozialleistungen begünstigt würden.
Zudem hätten das gut ausgebaute duale Ausbildungssystem mit Berufslehren und der liberale Arbeitsmarkt geholfen, Arbeitsplätze zu bewahren, hiess es in der Studie.
Gewerkschaften sehen es anders
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) ist mit dieser rosigen Einschätzung allerdings nicht einverstanden. In einem Positionspapier hatte der SGB im vergangenen Jahr beklagt, dass untere und mittlere Einkommensklassen von den schwindelerregenden Erhöhungen der Krankenkassenprämien sehr viel stärker betroffen seien als die hohen Einkommensklassen.
Untere Einkommensklassen sind auch abhängiger von den schrumpfenden Pensionstöpfen, um im Alter durchzukommen, als Reiche, die auf andere kumulierte Investitionen zurückgreifen können, wenn sie in den Ruhestand treten.
Gewerkschaften schlossen sich mit Politikern aus dem links-orientierten Lager zusammen und lancierten ein Referendum gegen eine Reform der Schweizer Unternehmensbesteuerung, die Vorlage kommt nächsten Monat zur Abstimmung. Die Reformgegner appellieren direkt an die mittelständischen Stimmberechtigten, die Reformen abzulehnen: Denn bei einer Annahme würden die Kosten, die anfielen, um multinationale Unternehmen in der Schweiz zu behalten, dem Mittelstand aufgehalst.
Wie auch immer die Referendums-Abstimmung ausgehen wird, Luis Perron ist überzeugt, dass die Stimmberechtigten in der Schweiz sich generell zurückhaltender verhalten als jene in Nachbarländern.
«Die Leute in der Schweiz tendieren dazu, nicht einfach aus Wut oder zu ihrem eigenen Vorteil abzustimmen, sondern sind offener, ein Argument für das Gemeinwohl in Betracht zu ziehen. Daher stimmen sie meist im Einklang mit den Empfehlungen der Regierung ab», sagt Perron.
«Stimmberechtigte in anderen Ländern haben aber nicht dieselben Möglichkeiten, ihrem Protest Ausdruck zu geben, daher können Wahlen dort oft auch zu extremeren Resultaten führen.»
Die Führungskräfte, die vom 17. bis 20. Januar in Davos zum Jahrestreffen des WEF zusammenkommen, werden darüber diskutieren, wie ein solches Schicksal vermieden werden könnte.
WEF Davos 2017
Das 47. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos findet vom 17. bis 20. Januar statt. Mit 3000 Führungskräften aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Religion, Wissenschaft und Kunst wird eine Rekordzahl an Delegierten erwartet.
Xi Jinping wird der erste chinesische Präsident sein, der am WEF-Jahrestreffen in Davos teilnimmt; er steht an der Spitze einer grossen Delegation aus China.
Zu den anderen einflussreichen Führungskräften gehören die britische Premierministerin Theresa May, US-Vizepräsident Joe Biden, IWF-Chefin Christine Lagarde, IKRK-Präsident Peter Maurer und UNO-Generalsekretär António Guterres.
Ebenfalls in Davos anwesend sein werden etwa 1000 Topmanager und Unternehmensbosse, darunter Bill Gates (Microsoft), Sheryl Sandberg (Facebook) und Jack Ma (Alibaba).
Mit Ausnahme von Justizministerin Simonetta Sommaruga reisen dieses Jahr alle Bundesrätinnen und Bundesräte nach Davos.
Das Treffen wird sich neben Populismus, politischer Polarisierung und Globalisierung mit verschiedenen weiteren Themen befassen, darunter Umwelt, die andauernden Konflikte in Syrien und Irak, Genderfragen, Bildung und Gesundheit.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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