Drängen auf Preistransparenz irritiert die Pharmabranche
Italien hat bei der Weltgesundheits-Versammlung (WHA) einen Resolutionsentwurf für ein Ende der Geheimhaltung rund um die Medikamentenpreis-Gestaltung eingereicht. Der Entwurf sorgte bei gewissen Regierungen und Akteuren der Branche schon im Vorfeld für Aufregung. Die WHA diskutiert am Mittwoch über den Vorstoss.
Die von Italiens Gesundheitsministerin Giulia Grillo eingereichte ResolutionExterner Link fordert die Weltgesundheits-Organisation (WHO) und Regierungen weltweit zu mehr Transparenz in vier Bereichen auf: Medikamentenpreise, Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E), Daten zu klinischen Versuchen sowie Patentinformationen.
Italiens Entwurf wird unterstützt von Ägypten, Griechenland, Malaysia, Portugal, Serbien, Slowenien, Südafrika, Spanien, Tunesien, der Türkei und Uganda. Der Text war im Verlauf des normalen Verfahrens zum Einreichen von Resolutionen bei der Weltgesundheits-Versammlung (World Health AssemblyExterner Link, WHA) erst recht spät vorgelegt worden.
Eine hektische Überprüfung des Texts zeigte danach rasch starke Differenzen unter den Regierungen auf. Gleichzeitig stiess der Entwurf bei vielen Nichtregierungs-Organisationen auf Unterstützung und traf in Teilen der Pharma-Industrie einen empfindlichen Nerv.
Dass Dokumente aus Sitzungen, die hinter geschlossenen Türen stattfanden,Externer Link von einigen Medien öffentlich zugänglich gemacht wurden, trug dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Debatte zu lenken. Ein weiterer Grund, warum die Resolution so viel Aufsehen erregt: sie wirft ein Schlaglicht auf die gut behüteten Geheimnisse der Medikamentenpreis-Gestaltung.
Für die Schweiz sind die Diskussionen nicht nur als WHO-Mitgliedstaat von Belang, sondern auch als Sitz von einigen der weltweit grössten Pharma-Unternehmen, darunter Roche und Novartis.
Warum jetzt?
Der Zugang zu Arzneimitteln wurde lange als ein Thema betrachtet, das Entwicklungsländer betrifft, vor allem was Impfstoffe und die medizinische Grundversorgung angeht. Die Zunahme chronischer Krankheiten und teure, lebensrettende Behandlungen lösten aber unterdessen auch in reichen Ländern, die wegen der finanziellen Belastung des Gesundheitswesens besorgt sind, Debatten über den Zugang zu Medikamenten aus.
Das Gefühl der Dringlichkeit wächst, wenn man sieht, dass zum Beispiel ein Krebsmedikament 475’000 Dollar oder ein Medikament zur Behandlung Spinaler Muskelatrophie 4 Millionen Dollar kostet.
Unterstützer der Resolution argumentieren, Transparenz sei unerlässlich, um faire Medikamentenpreise festzulegen und Arzneimittel erschwinglicher zu machen. Ein Ende letzten Jahres veröffentlichter Bericht der OECDExterner Link über diese Industriebranche bekräftigte dies und hielt fest, «Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) und Preisgestaltung sind oft undurchsichtig und werfen berechtigte Fragen nach dem Wert einiger immer teurer werdenden Behandlungen auf.»
WHO-Definition für einen fairen Arzneimittelpreis
Ein ‹»fairer» Preis ist ein für Gesundheitssysteme und Patienten erschwinglicher Preis, der gleichzeitig einen ausreichenden Marktanreiz für die Industrie bietet, in Innovation und Herstellung von Medikamenten zu investieren.
Nora Kronig, Schweizer Botschafterin für internationale Gesundheitsfragen, erklärt gegenüber swissinfo.ch, in globalen Gesundheitskreisen werde seit Jahren über Transparenz diskutiert, aber es sei eine neue Entwicklung, Transparenz als Möglichkeit zu sehen, den Zugang zu Arzneimitteln zu verbessern.
«Dies ist für Mitgliedstaaten wichtiger geworden, weil sie sich den grossen Herausforderungen seltener Krankheiten und teurer Behandlungen für Krankheiten wie Krebs stellen müssen», sagt sie.
In der Schweiz stiegen die Kosten für Medikamente pro Person zwischen 2014 und 2017 um 13%, auf 814 Franken. Der Anstieg geht vor allem auf teure Kombinationstherapien gegen Krebskrankheiten zurück, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Anfang Monat bei einer Pressekonferenz erklärte. Das BAG schätzt, dass fast die Hälfte der rund 90 Zulassungsanträge im letzten Jahr Behandlung betrafen, die pro Person Kosten von mehr als 100’000 Franken pro Jahr verursachen.
Ende letzten Jahres hatte die Schweizer Regierung (Bundesrat) ein Programm zur KosteneindämmungExterner Link vorgelegt, das den Ernst der Lage berücksichtigt.
Aber nicht nur in der Schweiz gibt es heisse Debatten zu dem Thema. Im Februar mussten sieben Führungskräfte von Top-Pharmafirmen bei einer dreistündigen Anhörung vor dem US-SenatExterner Link Red und Antwort stehen.
Auch Investoren läuten die Alarmglocke. An der jährlichen GeneralversammlungExterner Link der Novartis, einige Tage nach der Anhörung im Senat, erklärte die Schweizer Aktionärsvereinigung Actares, das Krankenversicherungs-System werde wegen der hohen Preise für lebensrettende Medikamente praktisch in «Geiselhaft» genommen.
Knackpunkte
Die Schweiz legt MedikamentenpreiseExterner Link aufgrund eines Vergleichs mit neun anderen Ländern und Verhandlungen mit einzelnen Herstellern fest. Es ist jedoch allgemein bekanntExterner Link, dass viele Staaten von Unternehmen besondere Rabatte für gewisse Arzneimittel erhalten. «Das bedeutet, dass der Preiskorb, den wir für den Vergleich nutzen, falsch ist. In gewisser Weise sind wir Verlierer, weil wir die einzigen sind, die transparent sind», sagt Kronig.
Doch die Branche drängt zurück und argumentiert, Transparenz könnte unerwartete Konsequenzen haben. Roche und Novartis verwiesen swissinfo.ch für die Perspektive des Sektors an den Weltverband der Pharmabranche (International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and AssociationsExterner Link, IFPMA) in Genf.
IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni argumentiert, die «Verpflichtung zur Offenlegung von vertraulichen Rabatten und anderen kommerziellen Preisvereinbarungen würde nicht den Patienten zugutekommen, sondern würde Unternehmen neue Belastungen auferlegen, könnte Preisdifferenzen untergraben, die ärmeren Ländern zugutekommen, und den Wettbewerb auf dem Markt stören».
In einigen aktuellen ForschungsberichtenExterner Link wird auch die Sorge geäussert, Preistransparenz, vor allem für Medikamente unter Patentschutz, könnte die Verbreitung solcher Produkte in ärmere Länder verlangsamen.
Wie transparent ist die Schweiz?
Aufgrund des ÖffentlichkeitsgesetzesExterner Link, das 2006 in Kraft trat, kann jeder Schweizer Bürger, jede Schweizer Bürgerin Zugang zu allen öffentlichen Dokumenten verlangen. Es gibt einige Ausnahmen in Fällen von laufenden diplomatischen Verhandlungen, dem Schutz der Privatsphäre und der nationalen Sicherheit.
Was die Medikamentenpreise angeht, erklärt Nora Kronig, Schweizer Botschafterin für internationale Gesundheitsfragen: «Wir sind eines der wenigen Länder, die bei den Preisen völlig transparent sind. Es gibt keine geheimen Verhandlungen.» Angesichts der schwierigen Verhandlungen mit Pharmaunternehmen führte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kürzlich Rabatte ein, die für etwa 20 unterschiedliche Behandlungen gelten.
Das bedeutet, dass es für gewisse Medikamente zwei verschiedene Preise gibt. Diese Doppelpreis-Liste zog wegen mangelnder Transparenz Kritik von einigen NGO nach sichExterner Link, nachdem die RundschauExterner Link des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehens SRF vor einigen Monaten darüber berichtet hatte.
Die Informationen zu den RabattpreisenExterner Link sind zwar verfügbar, NGO argumentieren aber, sie seien schwierig zu finden und zu berechnen.
Zu anderen Aspekten der Resolution gibt es noch heftigere Debatten. «Transparenz ist ein bedeutender Teil der Vertrauensbildung, aber es gibt auch Fälle, in denen sie kontraproduktiv sein kann. Wir müssen uns fragen, ob Transparenz den Zugang erleichtert oder erschwert», sagt Kronig.
Cueni erklärt, die Transparenz der Kosten von F&E könnte die Einführung von innovativen Behandlungen beeinträchtigen und den Zugang der Patienten zu dringend benötigten und lebensrettenden neuen Medikamenten verzögern.
Für Kronig besteht nicht genügend Klarheit darüber, welche Auswirkungen die Offenlegung von F&E-Kosten auf die Innovation haben könnte. Und sie verweist darauf, die Schweiz berücksichtige die F&E-Kosten bei den Preisverhandlungen zurzeit nicht als Faktor.
Was bei Patrick Durisch von der Nichtregierungs-Organisation Public Eye auf Kritik stösst: «Wie kann irgend eine Behörde, nicht nur in der Schweiz, einen Preis festlegen, ohne zu wissen, wie viel investiert wurde. F&E-Kosten werden noch immer als Geschäftsgeheimnis betrachtet. Sogar das BAG, dessen Aufgabe die Festlegung der Preise ist, weiss nicht, wie hoch die F&E-Kosten sind. Wie soll man da einen fairen Preis festlegen?»
Gibt es den fairen Preis?
Was ein fairer Medikamentenpreis ist, wurde zur Frage, welche die Diskussionen zum Thema Transparenz überschatten. In der Regel haben Unternehmen hohe Preise unter Hinweis auf die dringend benötigten Investitionen für F&E verteidigt. Aber mehr Studien der WHOExterner Link, der Schweiz und anderer Länder zeigen, dass die Preise von den Kosten getrennt sind, und die Gewinne der Pharmaunternehmen weiter zunehmenExterner Link.
Unternehmen wie Novartis und Roche erklärten sogar, Kosten seien nicht der beste Weg, Preise festzulegen. Angesichts von neuen gentherapeutischen Behandlungen, die Krankheiten mit einer einzigen Behandlung heilen, fordern sie eine Umstellung auf ein werteorientiertes Modell, das auf den Ergebnissen beim Patienten und den Einsparungen für Gesundheitssysteme und Spitäler fusst.
Cueni bekräftigt dies mit der Aussage, die Konzentration auf F&E-Kosten und andere Beiträge sage nichts über den Wert aus, den Medikamente für Patienten und Gesundheitssysteme böten. Solche Modelle werden die Berechnungen angesichts der unbequemen Frage, wie viel ein Leben wert ist, jedoch kaum vereinfachen.
Durisch sagt: «Stellen Sie sich vor, wenn wir für alle Güter eine werteorientierte Preisgestaltung anwenden würden. Welchen Wert würden sie einer Schwimmweste oder einem Airbag zuordnen? Und wie viel ist ein Leben wert?»
Nach Ansicht von Durisch ist eine werteorientierte Preisgestaltung eine Strategie der Pharmaindustrie, um die Aufdeckung ihrer tatsächlichen Investitionskosten vermeiden zu können. «Bei [einer werteorientierten Preisgestaltung] gibt es keine Grenzen, praktisch jeder Patient, der an einer tödlichen Krankheit leidet, ist bereit, für ein Medikament viel zu bezahlen. Man nimmt so schlicht und einfach Patienten in Geiselhaft. Und man nimmt Regierungen in Geiselhaft.»
Wie auch immer der Entscheid der WHA-Generalversammlung in Genf zu der von Italien vorgelegten Resolution ausfallen wird: Es ist unwahrscheinlich, dass das Thema in naher Zukunft wieder in den Hintergrund tritt.
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(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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