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Wer bestimmt, wer auf dem Sockel steht?

Philine Erni, Sarah Grossenbacher, Rachel Huber und Vera Ryser

Fragen der Denkmal-Kultur im öffentlichen Raum sind hochpolitisch. Entschieden werden sie aber meist in geschlossenen Expert:innengremien. Es ist Zeit, das zu ändern. Die Autorinnen plädieren für mehr Transparenz und neue Formen des Erinnerns.

Der schweizweite Frauenstreik 2019 und die länderübergreifende Black-Lives-Matter-Bewegung 2020 trugen auch in der Schweiz dazu bei, die Erinnerungspolitik neu zu hinterfragen. Denn: Im öffentlichen Erinnerungsraum fehlen Frauen, Menschen mit Migrationserfahrung und People of Color.

Stattdessen stehen auf den Sockeln in Bronze gegossene oder in Stein gemeisselte meist männliche, weisse Akteure, welche seit Jahrzehnten und Jahrhunderten für Schweizer Fortschritt, Innovation und Erfolg stehen.

Dabei wird ausgeblendet, dass ihr Erfolg und Reichtum unter anderem auf der Ausbeutung von Indigenen, der Haltung von Sklav:innen, respektive der Förderung des Sklav:innenhandels fusst.Es wurden diverse Forderungen laut, solche Statuen aus dem öffentlichen Raum in Museen zu transferieren oder sie umzudeuten, sie mit der bislang unsichtbaren Geschichte zu ergänzen oder auf den Kopf zu stellen.  

Statue Waldmanns wird vom Sockel genommen, 1999
Hier wird die Statue des ehemaligen Bürgermeisters Hans Waldmann vom Sockel gehoben, der den ganzen Sommer 1999 leer blieb. Keystone / Roger Doelly

Das Jahr 2021 stand zudem im Zeichen des 50-jährigen Frauenstimmrechts. Zahlreiche wissenschaftliche Tagungen sowie mediale Berichte und Artikel wie beispielsweise die NZZ am SonntagExterner Link zogen Bilanz: «Schweizer Museen zeigen zu rund 70 Prozent Kunst von Männern. Ist eine Strasse nach einer prominenten Person benannt, ist diese in neun von zehn Fällen männlich. Frauen hingegen sind in den Geschichtsbüchern weitgehend inexistent.»

Das Bedürfnis nach einer diverseren Erinnerungskultur ist evident. Aber wie lässt sich diese Vielstimmigkeit im Umgang mit den bereits bestehenden Denkmälern im öffentlichen Raum berücksichtigen?

Wer entscheidet? Und warum findet kein öffentlicher Diskurs statt?

Für bereits bestehende Denkmäler im öffentlichen Raum sind heute grundsätzlich die städtischen und kantonalen Stellen für Denkmalpflege verantwortlich – je nach Bedeutung des Objekts. Welche Bauten und Anlagen einen Schutzstatus erhalten und somit offiziell Teil der Erinnerungskultur werden sollen, liegt demnach vorwiegend in der Kompetenz der Denkmalpfleger:innen; ein öffentlicher Diskurs ist nicht vorgesehen – auch nicht bei Denkmälern im öffentlichen Raum, die aufgrund ihrer Symbolik eine grössere politische Tragweite aufweisen.¨

In der Stadt Zürich werden derzeit auf politischen Druck hin 26 Personendenkmäler durch die Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum (KiöR) beziehungsweise «knapp 40 Denkmäler»Externer Link von Historiker Georg Kreis überprüft.

Diese Prüfung ist generell begrüssenswert, allerdings stellen sich viele Fragen: Wer sind in diesem Fall die Expert:innen, wer wird beratend dazu geholt? Und warum findet kein breit abgestützter öffentlicher Diskurs statt, obwohl es sich um eine höchst politische Frage handelt: Wie wollen wir als Gesellschaft erinnern?

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Im Moment ist vor allem der Schutz und das Bewahren von Denkmälern geregelt. Selbst aktuell beauftragte Kunst im öffentlichen Raum wird für die Ewigkeit erstellt, ausser im Falle eines Schadens. Kann lediglich Aktivismus zu einer schnellen Entfernung führen?

Solcher Vandalismus legt den Finger auf die Wunde, löst aber das Problem der einseitigen Besetzung des öffentlichen Raumes höchstens punktuell. Denn wie die seit den 1970er-Jahren von Feminist:innen geforderte Umbenennung von Plätzen und Strassen zeigt, hat sich strukturell wenig getan: Den Forderungen wird bis heute viel zu selten nachgekommen.

Dabei sind ein öffentlicher Diskurs und Einbezug ebenso möglich wie sinnvoll. Viele Städte und Gemeinden haben in den letzten Jahren Erfahrungen mit Partizipationsprozessen gesammelt, ob mit Befragungen, Round Tables oder Workshops, spielend oder auf Spaziergängen, digital oder analog. Wieso werden diese Verfahren nicht auch bei öffentlichen Denkmälern eingesetzt?

Was müssen wir neu denken? Oder verlernen?

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die aktuelle Restitutionsdebatte, wo die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr mit beachtlichem Erfolg eine «Geste der Rückgabe» einfordern.

«Gesten der Entfernung» und/oder der «Ergänzung» könnten ein ernstzunehmender Anfangspunkt für eine neue Denkmalkultur darstellen und zu einer neuen Beziehungsethik zwischen den über- und unterrepräsentierten Teilen unserer Gesellschaft beitragen: einem Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit.

Dies würde voraussetzen, dass auch in der Geschichte «alles fliesst»; so beschreibt der Historiker Achim Landwehr, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Beziehung stehen und dass historische Narrative immer ein Konstrukt aus der gegenwärtigen Perspektive seien. Ein solcher Geschichtsbegriff stellt in der Konsequenz die heute angenommene ewige Gültigkeit von Denkmälern in Frage.

Im Sinne einer zeitgemässen Denkmal- und Erinnerungskultur müssen sich Städte und Gemeinden proaktiv für eine neue Beziehungsethik im öffentlichen Raum einsetzen, um ihre Denkmäler nicht bloss zu schützen, sondern zu erneuern. 

Dass sich Städte – wenn auch zögerlich und noch viel zu sehr in ihren eigenen Strukturen gefangen, für eine neue Denkmalkultur zu interessieren beginnen, zeigen einige jüngere Entwicklungen, etwa die vor kurzem erfolgte Ausschreibung der Stadt Neuchâtel Externer Linkzur Ergänzung der Statue de Purys oder die Aktivitäten der Projektgruppe RiöRExterner Link (Rassismus im öffentlichen Raum) der Stadt Zürich .

Eine zeigemässe Denkmalkultur erfordert, dass bisherige Fachjurys Macht abgeben; es braucht mehr partizipative Strategien sowie allgemein mehr Transparenz bei diesen Prozessen. So wäre es endlich möglich, den öffentlichen Raum unserer Städte in der Gegenwart zu verankern und uns von einer falsch verstandenen Idee von «Erbe» zu verabschieden, das im ewigen Dienst des Erinnerns einer von der Vergangenheit hinterlassenen Ordnung steht.  

Zwingli-Statue wird entfernt
Keystone / Walter Bieri

Das Bestehende würde ergänzt durch Leistungen und Lebensrealitäten, die Teil unserer Gesellschaft sind, aber im öffentlichen Raum nicht erinnert werden und somit unsichtbar bleiben: Frauen, Frauen, LQBTQIA+-, People of Color, aber auch erinnerungspolitische Tabus wie (Zwangs)arbeiter:innen oder das Saisonnierstatut. Voraussetzungen für eine diverse, intersektionale Denkmal- und Erinnerungskultur wäre, dass diese «Anderen» politische, juristische, institutionelle und kulturelle Teilhabe erhalten.    

Für alle, die einen Teil dazu beitragen wollen: Zentral ist der Akt des Sichtbarmachens. Dazu braucht es Grundlagenforschung. Aber auch Edit-a-Thons oder Hashtags wie #aufschrei, #metoo und #blacklivesmatter. Vielleicht sind dies Vorbilder einer zukünftigen Erinnerungskultur: Sie sind partizipativ und digital, ephemer und volatil.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorinnen und des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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