Zum Tod von Lee Scratch Perry: Der Reggae-Visionär, den es in die Schweiz verschlug
Lee "Scratch" Perry ist im Alter von 85 Jahren verstorben. Er galt als einer der besten und unberechenbarsten Musikproduzenten Jamaikas. Die letzten dreissig Jahren lebte Perry mit der Schweizerin Mireille Campbell-Rüegg in Einsiedeln.
Sein vielleicht grösstes Vermächtnis ist der Einfluss, den er auf den Sound des wohl bekanntesten Reggae-Musikers aller Zeiten Bob Marley hatte. Von Lee «Scratch» Perry zu einer spirituelleren Herangehensweise gedrängt, kopierte Marley einige seiner Gesangsphrasen, entwickelte einen neuen, vom Bass dominierten Sound und begann eine Reihe neuer Songs zu produzieren, die ihn zum internationalen Star machen sollten.
Perry und Marley trennten sich im Streit, noch bevor Marley als Solokünstler wirklich gross rauskam. Aber es war Perrys Unorthodoxie, die den jungen Musiker mitformte. Streitigkeiten waren in Perrys Umfeld nichts Ungewöhnliches. Einer seiner langjährigen Spitznamen war «der Unruhestifter» (The upsetter).
Perry bewegte sich zeitlebens auf einem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Er wurde als Sohn einer Feldarbeiterin und eines Strassenarbeiters in der ländlichen jamaikanischen Stadt Kendal in bittere Armut hineingeboren. Er verliess die Schule früh, lebte auf Wanderschaft und schlug sich im Nordwesten des Landes als professioneller Tänzer, Dominospieler und Bulldozerfahrer durch. In den 60er-Jahren zog er nach Kingston und fand dort Anschluss an die Musikszene.
Perry war ein musikalischer Laie. Er fand jedoch Wege, Dinge zu tun, die ausgebildeten Musikern nicht einfielen – und die sie regelmässig als undurchführbar ablehnten, bis sie sie endlich ausprobierten und sich vom Gegenteil überzeugen liessen. Sein exzentrischer Stil brachte ihn Mitte bis Ende der 1970er-Jahre als Reggae-Produzent an die Spitze. Und von seinem sagenumwobenen Black Ark StudioExterner Link in der Hauptstadt Kingston aus beherrschte er die jamaikanische Musikszene.
An seinem winzigen, quadratischen Arbeitsplatz, der mit seltsamen Artefakten vollgestopft war, erzeugte er einen unverwechselbaren Sound. Die Arche war auch eine der Wiegen des Dub-Stils. Zusammen mit seinem Mitarbeiter King Tubby experimentierte Perry mit dem Reggae, reduzierte die Musik auf das Wesentliche und setzte sie in neuer Form wieder zusammen, indem er eine Kakophonie aus Soundeffekten, Hall und elektronischen Effekten darüber legte.
Das alles nahm ein jähes Ende. Ein Brand zerstörte die Arche und damit den Ort seines kreativen Wirkens. Obwohl er nach dem Brand wegen Brandstiftung verhaftet wurde, wurde er aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen, und die genauen Umstände des Vorfalls wurden nie geklärt. Perry selbst trug nicht zur Aufklärung bei, er zog es immer vor, in Reimen und Rätseln zu sprechen.
Nach dieser Episode zog Perry in die USA, dann weiter nach Amsterdam, London und schliesslich in die Schweiz. Hier heiratete er 1991 Mireille Campbell-Rüegg, mit der er zwei Kinder hatte.
Sein Leben und Wirken strahlte fortan von Einsiedeln aus und fand unter anderem auch seinen Niederschlag in einem 15-jährigen Dokumentarfilmprojekt des Regisseurs Volker Schaner. In «The Vision Of ParadiseExterner Link» begleitet er den Musiker durch die ganze Welt. Einsiedeln spielt im Film eine grosse Rolle. Immer wieder ist das Kloster Einsiedeln zu sehen, die Schwarze Madonna, Kühe und Berge.
Am 5. Dezember 2015 wurde Perrys Aufnahmestudio in der Schweiz durch ein Feuer beschädigt. Über viele Jahre hatte der selbsternannte Prophet mit spiegelbesetztem Hut und bemalten, mit Bibelseiten ausgekleideten Stiefeln hier seine neue Arche – die Blue Ark aufgebaut. Eine Ansammlung von Symbolen und Zeichen. Materialien, die er verbrannt, bemalt, geschichtet, collagiert, verklebt, Sonne, Wind und Regen ausgesetzt und vergraben hat. Diese Lebenssammlung, sein «geheimes Labor» sei nun wieder zerstört, liess er damals wissen. Auf seiner Facebookseite schrieb er: «I am so sad and my wife is so mad.» (Ich bin so traurig, und meine Frau ist so wütend.)
2020, nicht lange vor seinem Tod, kehrte das Paar nach Jamaika zurück.
Lee «Scratch» Perry
(Rainford Hugh Perry) wurde 1936 in Kendal, Jamaika geboren. Er starb am 29. August 2021. Perry lebte und arbeitete zwischen Einsiedeln in der Schweiz und Negril, Jamaika. Als Musiker und Produzent hat er mit Künstlern wie Bob Marley and the Wailers, Junior Murvin, den Beastie Boys, The Clash und vielen anderen zusammengearbeitet und wurde 2003 mit einem Grammy für das beste Reggae-Album ausgezeichnet. Zu seinen jüngsten Projekten zählen «Lee ‹Scratch› Perry im Haus zur Liebe, Schaffhausen» (2018) und «Jamaica Jamaica! in der Philharmonie de Paris» (2017).
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