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Wer zahlt für neue Antibiotika?

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Im Jahr 2019 starben mehr als 1 Million Menschen an Antibiotikaresistenz, das sind mehr als an HIV/AIDS. Keystone / Chamila Karunarathne

Die Welt benötigt dringend neue Antibiotika. Doch Pharmariesen sperren sich – zu klein sind die Gewinne, die erzielt werden können. Finanzielle Anreize wären eine Lösung, sind aber umstritten. 

Der Mensch greift zu oft nach Antibiotika. Das führt dazu, dass Bakterien zunehmend Abwehrmechanismen entwickeln. Für einst heilbare Krankheiten wie Tuberkulose gibt es deshalb kaum mehr Behandlungsmöglichkeiten. Laut einer Studie, die im Januar im Fachjournal NatureExterner Link veröffentlicht wurde, starben allein 2019 rund 1,27 Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Infektionen, was die Zahl der Todesfälle durch Krankheiten wie Aids oder Malaria bei weitem übersteigt.

Schätzungen zufolgeExterner Link könnte die Antibiotika-Resistenz bis 2050 jährlich 10 Millionen Menschen töten. Zum Vergleich: In den zwei Jahren seit Ausbruch der Pandemie starben rund 6,2 Millionen Menschen an Covid-19. 

«Die Lücke zwischen den Instrumenten, die wir zur Bekämpfung der Resistenzen benötigen, und den Instrumenten, die uns momentan zur Verfügung stehen, wird immer grösser», sagt John Young, Leiter von Roche Pharma Research and Early Development. «Viele Unternehmen, die im Antibiotika-Bereich tätig sind, stehen vor grossen finanziellen Herausforderungen. Viele müssen Konkurs anmelden, weil es keinen echten Markt gibt.» 

Das Basler Konzern Roche war jahrzehntelang ein wichtiger Akteur in der Antibiotika-Sparte und entwickelte Verkaufsschlager wie Bactrim und Rocephin. Das Unternehmen zog sich 1999 aus dem Geschäft zurück, um schliesslich 2013 wieder einzusteigen.

Der Hauptgrund für die Kehrtwende war gemäss Young die dramatische Zunahme von hochresistenten Bakterien. Roche lässt derzeit zwei Antibiotika-Kandidaten testen. Zugleich arbeitet der Konzern an digitalen und diagnostischen Lösungen, um «das richtige Medikament für den richtigen Erreger zu finden». 

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Roche ist eines der wenigen grossen Pharmaunternehmen, das noch eigene Antibiotika-Forschung betreibt. Die meisten anderen, darunter Novartis, Sanofi und AstraZeneca, haben sich zurückgezogen. Kleine Unternehmen müssen in die Bresche springen. Sie sind für den Grossteil der Innovationen verantwortlich. Doch die meisten verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um neue Entdeckungen auf den Markt zu bringen.   

Die schwindende Zahl neuer wirksamer Antibiotika versetzt die Gesundheitsbehörden weltweit in Alarmbereitschaft. Um zu verhindern, dass sich eine schwelende Gesundheitskrise zu einer flächendeckenden Pandemie ausweitet, sind Pharmaunternehmen gefragt, die nicht nur neue Antibiotika entwickeln, sondern diese auch verkaufen.

Doch für die meisten ist die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben. Expert:innen diskutieren, wie die Grossen ins Boot geholt werden könnten. Viele tendieren inzwischen zu einer umstrittenen Lösung: Finanzielle Anreize für eine ohnehin schon hochprofitable Branche.

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Ein wirtschaftliches Dilemma

Die Rückkehr von Roche verleiht der Antibiotika-Forschung zumindest etwas Aufschwung. Und sie könnte auch andere Unternehmen sowie die Forschung am Standort Schweiz befruchten. Allein in Basel gibt es inzwischen 18 universitäre ForschungsgruppenExterner Link, die sich mit antimikrobiellen Resistenzen befassen, sowie Kooperationsprojekte wie den Nationalen Forschungsschwerpunkt NCCR AntiResist, der vom Schweizerischen Nationalfonds 17 Millionen Franken erhalten hat. 

Doch die Finanzierung ist eine grosse Herausforderung. Die meisten Projekte werden durch Zuschüsse bezahlt, und wenn diese auslaufen, enden auch die Projekte. Das bedeutet, dass vielversprechende Wirkstoffe oft nicht einmal die Phase der klinischen Tests erreichen, geschweige denn an Patient:innen verabreicht werden können. 

Seit 2014 wurden nur 14 neue Antibiotika von den europäischen und US-Behörden zugelassen. Davon gelten nur drei als «neuartig». Bei den übrigen handelt es sich um Derivate bestehender Antibiotika, von denen viele vor 30 Jahren entwickelt wurden. Viele sind nur begrenzt wirksam, weil sich die Bakterien den chemisch vergleichbaren Varianten schnell anpassen.

Die Entwicklung komplett neuer Wirkstoffe ist mit grossen Risiken und Kosten verbunden. Rund 95 Prozent der Produkte scheitern bereits in der klinischen Phase, und die Umsätze reichen in der Regel nicht aus, um die getätigten Investitionen zu amortisieren. Gemäss einer Erhebung von 2017Externer Link belaufen sich die Kosten für die Entwicklung eines Medikaments auf rund 1,5 Milliarden US-Dollar, während Branchenanalysten davon ausgehen, dass es einen Umsatz von rund 46 Millionen US-Dollar pro Jahr erzielen könnte. 

Grosse Pharmaunternehmen sind bereit, bei der Entwicklung von Krebsmedikamenten Risiken einzugehen, weil die finanziellen Anreize dort so gross sind. Aber für Antibiotika gibt es keine. Sie werden oft mit Feuerwehrautos verglichen: Sie stehen unbenützt herum und werden nur in Notfällen eingesetzt. 

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Im Gegensatz zu Impfstoff-Hersteller:innen können sich die Antibiotika-Hersteller:innen nicht auf den Massenabsatz verlassen. Zudem müssten die Medikamente auch erschwinglich sein, denn Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen sind oft am stärksten betroffen.

Den Markt wiederbeleben 

Die schlechten Renditen für Investor:innen haben eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt: Je weniger Risikokapitalgeber:innen und Pharmariesen bereit sind, in die Antibiotika-Forschung zu investieren, desto weniger Start-ups und Projekte entstehen, in die investiert werden könnte.

«Die gesamte Antibiotika-Pipeline muss neu belebt werden», sagt Douglas Häggström, Leiter der Inkubator-Organisation INCATE, die an der Universität Basel angesiedelt ist. Das Konsortium, das letztes Jahr gegründet wurde und unter anderem Roche als Sponsor gewinnen konnte, unterstützt Forschungsprojekte im Frühstadium und hilft ihnen, die verschiedenen Finanzierungsstufen zu durchschreiten.

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In jedem Quartal werden 2 bis 4 Antibiotika-Start-ups ausgewählt, welche eine geschäftliche Beratung sowie einen Zuschuss von 10 000 Euro erhalten. Eine Auswahl gewinnt schliesslich eine grössere Finanzierung von bis zu 250 000 Euro. Bis 2023 möchte INCATE 50 Unternehmen helfen. Auch andere gemeinnützige Finanzierungseinrichtungen wie die von der US-Regierung geförderte CARBX versuchen, die Innovation in Antibiotika-Markt zu beschleunigen.  

«Wenn es nur vier Unternehmen gibt, in die man investieren kann, dann ist das keine Branche, in die man einsteigen will, aber wenn es 50 gibt, dann wird es für Risikokapitalgeber:innen oder Pharmaunternehmen interessant», sagt Häggström. «Unser Ziel ist es, den gesamten Prozess effizienter zu gestalten.»

Es geht nicht ohne die Grossen

Die Art von Investitionen tragen zwar dazu bei, «das Getriebe zu ölen», wie Häggström es formuliert. Doch es müsse mehr geschehen. Die Hoffnungen ruhen auf dem milliardenschweren AMR-Aktionsfonds, der während der Covid-19-Pandemie eingerichtet wurde.

Mit dem Geld sollen bis 2030 zwei bis vier neue Antibiotika auf den Markt gebracht werden. Der Fonds, der seinen Europasitz in Basel hat, wird von den 20 grössten Pharmaunternehmen unterstützt. Die Verantwortlichen gaben am 4. April die erste Investitionsrunde bekannt: Zwei Start-ups, die momentan neue Antibiotika testen, werden unterstützt.

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Trotz der Bemühungen haben kleine Unternehmen Mühe, Fuss zu fassen und sich im Markt zu halten. Deshalb wird von vielen Seiten gefordert, dass die schwerreichen Pharmakonzerne Hand bieten, um sicherzustellen, dass sich die Investitionen auszahlen.  

«Wir müssen die Grossen zurück an den Tisch holen», sagt Gesundheitsökonomin Chantal Morel von der Universität Genf, die sich seit über zehn Jahren mit dem Antibiotika-Markt beschäftigt. «Das geht aber nur, wenn man klare Anreize schafft.»

Gutscheine für Marktexklusivität

Doch wie gelingt das? Gefragt sind Lösungen, bei denen die finanziellen Anreize von der Verkaufsmenge abgekoppelt werden. Das erstmals 2016 vorgestellte Modell «Pay to PlayExterner Link«, bei dem Unternehmen Aufschläge zahlen müssen, wenn sie nicht in Forschung und Entwicklung investieren, wurde von der Branche schnell verworfen.

Am 12. April kündigte Grossbritannien ein Abonnementmodell an: Die nationale Gesundheitsbehörde zahlt Unternehmen im Voraus einen bestimmten Betrag für Antibiotika, anstatt sie auf der Grundlage der verkauften Menge zu vergüten. Im Rahmen des Pilotprojekts erhielten die US-Firma Pfizer und das japanische Unternehmen Shionogi Verträge über die Lieferung eines neuen Antibiotikums über einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren.

Die Zukunft wird zeigen, ob dieses Modell Chancen hat. Expert:innen kritisieren, dass allein der Aufbau des Programms sechs Jahre gedauert hat – eine lange Zeit in Anbetracht der Dringlichkeit des Problems.

Heiss diskutiert wird vor allem auch der Vorschlag, Gutscheine für Marktexklusivität anzubieten: Das Unternehmen entwickelt ein Antibiotikum, bringt dieses auf den Markt und erhält dafür von der Zulassungsbehörde einen Gutschein für eine zusätzliche Marktexklusivität von einem Jahr.

Diesen Gutschein könnte auf andere Produkte übertragen werden, zum Beispiel eine Krebsbehandlung. Und er könnte auch an ein anderes Unternehmen verkauft werden. 

Die Lobbyist:innen argumentieren, dass dies ein schneller und politisch durchsetzbarer Weg sei. Er hätte jedoch zur Folge, dass Patient:innen und insbesondere Versicherer und Gesundheitssysteme mehr zahlen müssten, weil sie länger auf billigere Generika warten müssten.

Bisher hat kein Land den Vorschlag unterstützt, aber Expert:innen und Behörden, die anfangs skeptisch waren, stehen der Idee zunehmend offen gegenüber. «Sie erscheint auf den ersten Blick falsch. Warum Geld in einen Sektor pumpen, der schon sehr lukrativ ist?», sagt Morel. «Aber wir diskutieren bereits seit Jahren über das Problem, und es hat sich so wenig getan. Covid-19 hat gezeigt, dass der Preis für Anreize im Vergleich zu den Kosten einer Pandemie sehr klein ist.» 

Alle von SWI befragten Expert:innen sagen, dass sie eine Überarbeitung des Pharmamodells und ein allgemeines Umdenken in der Gesellschaft in Bezug auf die Bedeutung der Antibiotika-Forschung bevorzugen würden. Aber der Wettlauf gegen eine drohende globale Krise hat sie zunehmend ungeduldig gemacht. 

«Solche Anreize sind vielleicht das notwendige Übel, damit das System wieder in Gang kommt», sagt Jean-Pierre Paccaud von GARDP, einer gemeinnützigen Forschungs- und Entwicklungsinitiative in Genf, die neue Therapien für bakterielle Infektionen entwickelt. «Ich glaube nicht, dass sie nachhaltig sind, aber eine bessere Lösung existiert zurzeit nicht.»
 

Editiert von Nerys Avery

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