Wie es der Schweizer Wirtschaft geht: Der Check-up des dritten Quartals
Ein verlangsamtes Wachstum, glückliche Hoteliers und Pharmariesen, die eine neue Ära einläuten: Dies sind nur einige der Entwicklungen, die die Schweizer Wirtschaft im dritten Quartal 2023 geprägt haben. Unsere Bestandesaufnahme nach Sektoren.
1) Die Schweizer Wirtschaft hinkt, bleibt aber nicht stehen
Nach einem starken Jahresbeginn befindet sich die Schweizer Wirtschaft nun in einer Phase der Stagnation. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird laut der jüngsten Prognose Externer Linkdes Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) für das Gesamtjahr 2023 voraussichtlich 1,3% betragen, gegenüber 2,1% im Vorjahr. Die Schweiz schneidet jedoch besser ab als ihre Nachbarn: Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für die Eurozone ein Wachstum von 0,7%.
Die Schweiz leidet unter der schwachen Weltkonjunktur und den Schwierigkeiten, mit denen zwei ihrer wichtigsten Handelspartner, Deutschland und China, zu kämpfen haben. Die deutsche Industrie könnte sich stärker als erwartet abschwächen, was die Schweizer Exporte belasten könnte. Der Bund rechnet auch mit einer deutlichen Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft aufgrund der «Krise im Immobiliensektor, der hohen Verschuldung des Landes und der allgemeinen Flaute bei Unternehmen und Haushalten».
Die Nachrichten über die Inflation sind gemischt. Während sich der Preisanstieg in den letzten Monaten verlangsamt hat, wird er im letzten Quartal dieses Jahres nach den Prognosen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) wieder auf 2% ansteigen. Im September gab die Währungsinstitution bekannt, dass sie den Leitzins bei 1,75% belassen würde, schloss aber eine weitere Anhebung nicht aus, um mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten.
Wie andere fortgeschrittene Volkswirtschaften ist die Schweiz zudem weiterhin mit einem Mangel an Arbeitskräften konfrontiert. Ende August, als das Bundesamt für Statistik (BFS) die jüngsten Erhebungen Externer Linkvornahm, waren über 120’000 Stellen unbesetzt. Die Arbeitslosigkeit dürfte jedoch aufgrund der geringen Wirtschaftsdynamik und der hohen Zinssätze langsam wieder ansteigen. Das SECO prognostiziert für das Gesamtjahr eine Arbeitslosenquote von 2% und für das nächste Jahr einen Anstieg auf 2,3%.
Mehr
So steht es um die Schweizer Wirtschaft im zweiten Quartal
2) Die Schweizer Uhrenindustrie übersteht Krisen ohne zu murren
In den ersten neun Monaten des Jahres überstieg der Export von Schweizer Zeitmessern die Marke von 19 Milliarden Franken und lag damit um 8,6% über dem Niveau von 2022, wie der Verband der Uhrenindustrie (FH) Ende Oktober mitteilte. Diese Ergebnisse übertrafen die Erwartungen der Analyst:innen: Die Bank Vontobel hatte beispielsweise für dieses Jahr ein Wachstum zwischen 1 und 3% prognostiziert.
«Die Rückkehr der Tourismus-Gäste in Märkte wie Frankreich, Hongkong oder Japan ist einer der Hauptgründe für dieses ausgezeichnete Wachstum. Darüber hinaus ist die Nachfrage nach hochwertigen Schweizer Uhren weiterhin stark», betont Jean-Philippe Bertschy, Uhrenexperte bei der Bank Vontobel. Besonders ausgeprägt ist dieses Wachstum des Einkaufstourismus in Hongkong, wo die Exporte seit Januar um 25,9% gestiegen sind.
Nach Monaten des starken Anstiegs verlangsamten sich die Exporte im September jedoch (3,8% im Jahresvergleich). Jean-Philippe Bertschy erwartet bis Ende des Jahres eine gewisse Normalisierung, vor allem in den USA, dem wichtigsten Absatzmarkt für «Swiss Made»-Uhren, wo der Uhren-Hype nach der Pandemie allmählich abklingen dürfte.
Während Luxusuhren den Markt weiterhin nach oben ziehen, ist auch das Einstiegssegment nicht unberührt geblieben: Dies ist vor allem der Moonswatch zu verdanken, einer erschwinglichen Version (250 CHF) der Omega Speedmaster Moonwatch, die seit fast zwei Jahren von Swatch vertrieben wird und in diesem Jahr voraussichtlich fast zwei Millionen Mal verkauft wird.
Mehr
Geneva Watch Days: Glückseligkeit vor dem Sturm in der Uhrenbranche?
3) Der Schweizer Tourismus ist wieder in Schwung gekommen
Trotz des starken Frankens, der weltweiten Konflikte und der allgemeinen Wirtschaftsflaute wird der Tourismussektor im Jahr 2023 voraussichtlich einen neuen Rekord aufstellen. Die jährliche Zahl der Übernachtungen dürfte zum ersten Mal die 40-Millionen-Marke überschreiten, wie das Forschungsinstitut BAK Economics Ende Oktober mitteilte.
In diesem Sommer verzeichnete die Schweizer Hotellerie 23,5 Millionen Übernachtungen, eine positive Entwicklung, die von amerikanischen Tourist:innen getragen wurde, die noch zahlreicher kamen als vor der Pandemie (+20% im Vergleich zu 2019). Die europäischen Gäste blieben der Schweiz ihrerseits treu, vor allem jene aus dem Vereinigten Königreich. «Die ausländischen Gäste, die diesen Sommer noch ausblieben, waren vor allem aus China, Indien, Japan und aus den Golfstaaten», sagt Véronique Kanel, Sprecherin von Schweiz Tourismus.
Das Übernachtungsvolumen der chinesischen Tourist:innen dürfte erst Ende 2024 oder 2025 wieder auf das vorpandemische Niveau ansteigen. «Auf diesem Markt zielen wir nur auf eine individuelle Kundschaft oder kleine Gruppen ab, die länger als bisher in der Schweiz bleiben und Destinationen besuchen möchten, die nicht unbedingt touristische Hochburgen sind», betont Véronique Kanel.
Der Städtetourismus, der während der Pandemie stark gelitten hatte, erholte sich sehr schnell. In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 lag das Übernachtungsvolumen in den Schweizer Städten um 5,4% höher als im gleichen Zeitraum 2019. «Diese Widerstandsfähigkeit des Städtetourismus lässt sich durch die Erholung des Geschäftstourismus erklären, aber vor allem durch die Tatsache, dass die Schweizer Grossstädte im Rahmen ihrer Werbeaktivitäten viel stärker als früher auf den Freizeittourismus setzen», argumentiert Véronique Kanel.
Für die Wintersaison erwartet BAK Economics einen sehr bescheidenen Anstieg der Logiernächte (0,4% auf 17,5 Millionen). Nach mehreren Jahren starker Nachfrage dürfte die Zahl der inländischen Gäste um 2,2% zurückgehen, ein Rückgang, der jedoch von den ausländischen Tourist:innen kompensiert werden dürfte. BAK Economics rechnet mit einem Anstieg der Gäste aus europäischen Ländern (2,2%) und aus Fernmärkten (5,4%).
Mehr
«Zum Glück haben wir in der Schweiz keinen Overtourism»
4) Die Pharmariesen treten in eine neue Ära ein
Das Basler Pharmaunternehmen Novartis hat im dritten Quartal mit der Abspaltung seiner Generikasparte Sandoz am 4. Oktober einen Meilenstein gesetzt. «Dies ist ein wahrhaft historischer Moment für Novartis und Sandoz, da wir als unabhängige Unternehmen neue Kapitel beginnen», sagte Novartis-CEO Vas Narasimhan. Die Abspaltung war der nächste Schritt in einer grossen Umstrukturierung des Pharmariesen, um sich auf sogenannte innovative Medizin zu konzentrieren, die die Gesundheitsergebnisse dramatisch verbessern und dem Unternehmen grosse Gewinne bieten könnte.
Die Abspaltung brachte Optimismus in das Unternehmen, das seine Gewinnprognose zum dritten Mal in Folge anhob. Der Umsatz der Dreiviertelgruppe stieg um 12% auf 11,78 Milliarden US-Dollar und lag damit leicht über der Prognose.
Sandoz wird ein unabhängiges Unternehmen in einer Zeit extremen Drucks auf Generikahersteller, die Preise zu senken und gleichzeitig die Konkurrenz aus Asien auszuschalten. Nach einem enttäuschenden Debüt an der Schweizer Börse SIX Swiss Exchange kündigte Sandoz ein positives Umsatzwachstum an. Das Unternehmen teilte auch mit, dass geplant sei, in den nächsten fünf Jahren mehrere Biosimilars einzuführen, um die Gewinnaussichten zu verbessern.
Der Basler Rivale Roche ist ebenfalls im Übergang, da mehrere Produkte kurz vor dem Ablauf des Patentschutzes stehen. Der Umsatz stieg im dritten Quartal um 7%, aber der Aktienkurs reagierte nicht so positiv. Das Unternehmen geht davon aus, dass sich dies ändern wird, wenn die Rekordumsätze von Covid Diagnostics aus der Bilanz verschwinden und die Anleger das tatsächliche Wachstumspotenzial erkennen. Im Oktober kündigte das Unternehmen eine grosse Übernahme in Höhe von 7,1 Milliarden US-Dollar an, von der es sich bessere Aussichten erhofft.
Mehr
«Die Schweiz ist immer noch attraktiv für grosse multinationale Konzerne»
5) Unsicherheit in der Rohstoffhandelsbranche
Die Schweizer Händler verzeichnen seit mehreren Monaten Rekordgewinne aufgrund der hohen Rohstoffpreise im Gefolge des Ukraine-Krieges. Die bereinigten Kerngewinne von Glencore fielen in der ersten Jahreshälfte auf 9,39 Milliarden US-Dollar, verglichen mit 18,92 Mrd. USD in der Vorjahresperiode, aufgrund der schwachen Nachfrage aus China und des schwachen Wirtschaftswachstums.
Der Ausbruch des Krieges im Nahen Osten sorgt für neue Unsicherheit. Wenn sich der Krieg in der Region ausweitet, könnten die Ölpreise nach Ansicht von Analyst:innen wieder ansteigen.
Angesichts der EU-Diskussionen über weitere Sanktionen gegen Russland stellen sich den Schweizer Händlern jedoch andere Fragen. Das BFS berichtet, dass der Handel mit Rohstoffen über die Schweiz in diesem Jahr zurückgegangen ist. Dies untermauert Berichte, wonach sich einige Händler auf Märkte ausweichen, die weniger von den Sanktionen betroffen sind, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate.
Mehr
Wie weit ist die Branche mit ethischem Gold? Eine Schweizer Firma stellt sich kitischen Fragen
6) Die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS bleibt die wichtigste Herausforderung für den Bankensektor
Nach dem Abbau von 13’000 Vollzeitstellen in diesem Jahr ist die UBS nach eigenen Angaben auf dem besten Weg, bis 2026 Kosteneinsparungen in Höhe von 10 Milliarden Dollar zu erzielen.
Seit der Notübernahme im März hat sich der Staub zwar gelegt, aber noch immer schweben Fragezeichen über dem Schweizer Bankensektor. Ein brennendes Thema, das Banken, Politik und Aufsichtsbehörden derzeit beschäftigt, ist die Frage, wie ein ähnlich katastrophaler Bank Run in Zukunft vermieden werden kann.
Reuters berichtet, dass Massnahmen erwogen werden, um das Abheben grosser Geldsummen von Banken zu verlangsamen – durch Gebühren für grosse Blitzabhebungen oder höherer Zinssätze für langfristige Ersparnisse.
Ein weiteres offenes Thema sind die zahlreichen laufenden Klagen im Zusammenhang mit der Abschreibung von AT1-Anleihen der Credit Suisse während der Zwangsübernahme. Die Gerichte werden sich wohl noch Monate, wenn nicht Jahre, mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Aber UBS hat zumindest die Befürchtung zerstreut, dass der Markt für diese Art von Risikoanleihen durch die umstrittene Abschreibung im März irreparabel geschädigt worden sein könnte.
Die Nachfrage der Anleger nach den neu emittierten AT1-Anleihen der UBS im Wert von 3,5 Milliarden Dollar übertraf die Erwartungen bei weitem. Dies ist eine gute Nachricht für alle Schweizer Banken, die zur Aufrechterhaltung gesunder Kapitalquoten auf AT1-Anleihen angewiesen sind.
Mehr
Credit-Suisse-Anleihen könnten für Schweizer Steuerzahlende teuer werden
Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen und Englischen: Giannis Mavris
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch