Wie fleissig ist die Schweiz wirklich?
Schweizerinnen und Schweizer gelten als fleissiges Volk. Trifft das tatsächlich zu? Vier Grafiken geben Aufschluss darüber, wie viel in der Schweiz im internationalen Vergleich gearbeitet wird.
Die Schweiz sieht sich selbst gerne als ein Volk von arbeitsamen Bürgerinnen und Bürger. Auch im Ausland scheint das Bild des pünktlichen, exakten und fleissigen Schweizers weit verbreitet zu sein. Kann die Realität diesem Klischee standhalten?
Verschiedene Statistiken erfassen, wie viel in verschiedenen Ländern durchschnittlich gearbeitet wird. Je nachdem, wie gemessen wird, kann man ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen.
Wir zeigen die wichtigsten vier Kennzahlen und ordnen sie ein, um zu sagen, wie fleissig die Schweizer Bevölkerung wirklich ist.
Im globalen Vergleich wird in der Schweiz wenig gearbeitet
Forscher der Universität Groningen haben zusammengetragen, wie viel jährlich pro angestellte Person in verschiedenen Ländern und Kontinenten gearbeitet wird. Mit diesem Vergleich scheint die Sache bereits geklärt zu sein: Im globalen Kontext arbeiten Schweizerinnen und Schweizer wenig.
Die Schweiz folgt dabei einem weltweiten Trend. Grundsätzlich zeigen die Zahlen, dass mit steigendem Wohlstand die Arbeitszeit sinkt. Allerdings gibt es einige deutliche Ausreisser. Die auffälligsten sind Hongkong und Singapur, die trotz hohem Wohlstand weiterhin ähnlich viel arbeiten wie China.
Die USA stechen ebenfalls heraus. Trotz nur geringfügig kleinerem Wohlstandsniveau arbeiten Angestellte in den USA pro Jahr deutlich mehr als Angestellte in der Schweiz.
Zu einem grossen Teil hängt das damit zusammen, dass Schweizerinnen und Schweizer mehr gesetzlich garantierte Freitage zustehen als Amerikanerinnen und Amerikaner. In der Schweiz gibt es beispielsweise einen breit akzeptierten gesetzlichen Mindestanspruch auf 4 Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr, in den USA nicht.
Mehr als diese vier Wochen will das Schweizer Stimmvolk jedoch nicht gesetzlich vorschreiben. Zum Erstaunen der internationalen Presse lehnte es 2012 in einer Volksabstimmung die Initiative «6 Wochen Ferien für alle» deutlich ab.
Im europäischen Vergleich gibt ein Vollzeitpensum viel zu tun
Da die jährliche Arbeitszeit vom Wohlstandsniveau und regulatorischen Umständen wie dem gesetzlich garantierten Jahresurlaub abhängt, fokussiert sich die weitere Analyse auf Länder, die unter diesen Gesichtspunkten der Schweiz vergleichsweise ähnlich sein dürften.
Wie sich herausstellt, spielt es auch hier eine grosse Rolle, welche Zahlen mit welcher Messmethode man vergleicht.
Starten wir mit einer Grafik, welche die durchschnittliche Wochenarbeitszeit zeigt, die Angestellte in verschiedenen europäischen Ländern leisten, wenn sie Vollzeit arbeiten. Die Zahlen gelten für eine normale Arbeitswoche. Anders als die Daten, die oben den globalen Vergleich ermöglichten, sind sie daher unabhängig davon, wie viele Ferientage in einem Land bezogen werden.
Im Unterschied zum globalen Vergleich der jährlichen Arbeitszeit pro Angestellte Person, steht die Schweiz mit 42 Stunden und 24 Minuten deutlich an der Spitze. Auf mehr als 40 Stunden kommen neben der Schweiz nur Island, Rumänien, Grossbritannien, Malta und Luxemburg. Sogar die nicht gerade als arbeitsscheu geltenden Deutschen arbeiten gemäss dieser Zahl deutlich weniger als die Schweizerinnen und Schweizer.
Obwohl in der Schweiz mit steigendem Wohlstand das Bedürfnis nach mehr Freizeit in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat, sank die reguläre Wochenarbeitszeit für eine Vollzeitstelle weniger stark als in vergleichbaren Ländern.
Jan-Egbert Sturm, Wirtschaftsprofessor an der ETH Zürich und Direktor der renommierten Konjunkturforschungsstelle (KOF), erklärt das so: «Die Schweizer Kultur ist eine Arbeitskultur und auf gewisse Art immer noch recht calvinistisch. Fleiss wird als sehr gute Eigenschaft angesehen.»
Viele (Frauen) arbeiten Teilzeit
Die Zahlen für den globalen Vergleich berücksichtigen nicht nur die Vollzeitstellen, sondern alle Arbeitenden. Verwendet man diese Zählweise für den europäischen Vergleich, relativiert sich das Bild wieder und rückt näher an das, was in der ersten Grafik beobachtet werden konnte.
Unter Berücksichtigung der Teilzeitarbeitenden sinkt die geleistete Arbeitszeit pro Woche für die Schweiz auf 35 Stunden und 36 Minuten. Damit gehört sie zu den Ländern mit eher tiefer wöchentlicher Arbeitszeit.
Sind die über 42 Stunden pro Woche mit einer Vollzeitstelle den meisten Einwohnern der Schweiz schlicht zu anstrengend und sind sie folglich gar nicht so fleissig?
Tatsächlich arbeiten in der Schweiz im europäischen Vergleich ein grosser Anteil der Beschäftigten Teilzeit. Allerdings gibt es da einen deutlichen Gender Gap: Besonders Frauen arbeiten häufig Teilzeit, Männer eher nicht.
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Was Frauen zur Erhöhung des Arbeitspensums bringen würde
Auch dies sei kulturell zu erklären, so Sturm. «In der Schweiz ist man immer noch in einem sehr traditionellen Muster drin, in dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frauen im Allgemeinen zwar auch immer mehr arbeiten, aber zu einem grossen Teil nicht Vollzeit.»
Viele nehmen am Erwerbsleben teil
Doch auch wenn man die Teilzeitarbeitnehmenden miteinbezieht, kommen in der Statistik viele Personen nicht vor. Schliesst man die nichterwerbstätigen Personen in die Berechnung der Wochenarbeitszeit ein, steht die Schweiz plötzlich wieder beinahe an der Spitze.
Durchschnittlich arbeitet in der Schweiz jede Person, die 15 Jahre oder älter ist, 23 Stunden und 12 Minuten, Arbeitslose, Hausfrauen und -männer und andere Personen, die keiner bezahlten Arbeit nachgehen, miteingeschlossen. Mehr arbeitet unter den verglichenen Ländern nur die Bevölkerung Islands, dies jedoch deutlich.
Das Bundesamt für Statistik begründet das mit der hohen Erwerbstätigenquote. Es gäbe in der Schweiz vergleichsweise wenige Personen, die nicht arbeiten. Dies bestätigt auch Arbeitsmarktexperte Sturm: «Dass die Schweiz in dieser Statistik so gut abschneidet, liegt an der Höhe der Partizipationsrate. In der Schweiz arbeiten sehr viele Leute.»
Das liegt nicht nur an der in der Schweiz traditionell tiefen Arbeitslosenquote.
Ob die Arbeit Vollzeit ausgeführt werde, wie etwas verallgemeinernd gesagt bei den Männern, oder Teilzeit, wie bei den Frauen, das Fazit bleibt laut Jan-Egbert Sturm: «In der Schweiz wird viel gearbeitet. Das Schweizer Volk ist tatsächlich sehr fleissig.»
Durch die demografischen Veränderungen wird es in Zukunft immer wichtiger, dass diejenigen Altersgruppen, die arbeiten können, dies auch tun. Dies gilt nicht nur für die Schweiz. Ganz Europa und viele Länder in der ganzen Welt sind damit konfrontiert, dass die Bevölkerung immer älter wird und somit der Druck auf die Sozialsysteme steigt.
Und natürlich muss auch gesagt sein: Der Beschäftigungsgrad in einer Volkswirtschaft sagt nichts über den Fleiss der jeweiligen Bevölkerung aus. Insofern gilt: In den Statistiken hat die Arbeitslosigkeit durchaus ihre Berechtigung. Daraus aber Aussagen über Fleiss oder Faulheit abzuleiten, wäre höchst unseriös.
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