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Wie Frauen von nepalesischen Migranten für ihre Ehemänner und den Staat einspringen

Nepalesische Frauen arbeiten auf einem Feld

Die FIFA-Fussballweltmeisterschaft 2022 in Katar warf ein Schlaglicht auf die Notlage der nepalesischen Wanderarbeiter in der Golfregion. Was vergessen ging sind ihre Frauen in der Heimat. Sie zahlen einen hohen Preis.

Es ist etwas mehr als sechs Monate her, dass Suntali Tamang Witwe wurde. Ihr Mann Tirtha Bahadur Tamang verliess 2021 seine Heimat, um als Arbeiter in Katar zu arbeiten. Weniger als ein Jahr später wurde er krank und musste ins Spital eingeliefert werden.

Eine Migrant:innenorganisation, das Pravasi Nepal Coordination Committee, half ihm, nach Nepal zurückzukehren. In sein Dorf Padaali in der Gemeinde Dhulikhel, das nur ein paar Stunden mit dem Bus oder Sammeltaxi von der Hauptstadt entfernt ist, schaffte er es aber nicht mehr. Tirtha Bahadur starb eine Woche nach seiner Ankunft in einem Krankenhaus in Kathmandu.  

«Er konnte nicht mehr nach Hause kommen und das Haus sehen, das er mit mir wieder aufgebaut hatte», sagt Suntali.

Suntali Tamang egt im Garten ihres Hauses ein Tuch mit Maiskörnern aus
Suntali Tamang trocknet Mais vor ihrem Haus, das mit dem Geld ihres Mannes Tirtha Bahadur aus Katar gebaut wurde. Er starb, bevor er ins Dorf zurückkehren konnte, er hat das Haus nie gesehen. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Ihr ursprüngliches Haus war beim Erdbeben 2015 zerstört worden, und die Familie lebte fortan in einer Behelfshütte in der Nähe. In den Bau des neuen Hauses steckten sie Tirtha Bahadurs Verdienst aus einer zweijährigen Tätigkeit in Malaysia vor dem Erdbeben sowie einen Kredit. Er aber reiste nach Katar, bevor es fertig war.  

Suntali muss sich nun allein um ihre vier Kinder kümmern. Allein deren Ausbildung kostet sie 20’000 bis 30’000 NPR pro Monat (135 bis 200 CHF). Auch ihr soziales Ansehen in ihrer Gemeinde ist unter Druck geraten. Es fällt ihr schwer, ihren Teil zu den Familienfesten beizusteuern. 

«Ich hatte Mühe, das Geld für die Bratabandha-Zeremonie meines Neffen aufzubringen», sagt sie – es handelt sich um ein Ritual zur Feier der Reife eines Jungen im Teenageralter.

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Suntali hat Hühner und eine Kuh sowie ein kleines Stück Ackerland, von dem die Familie bis zu fünf Monate im Jahr leben kann. Sie arbeitet als Landarbeiterin, um über die Runden zu kommen.  

Wenn man sie fragt, was ihre grösste Herausforderung sei, wird sie emotional und weint. Eine Nachbarin sagt, dass sie noch immer mit dem Verlust ihres Mannes, der ein guter Mensch war, zu kämpfen habe.

In den Jahren 2021-2022 starben insgesamt 1’395 nepalesische Wanderarbeiter:innen (39 davon waren Frauen), wobei die meisten Todesfälle auf «natürliche Ursachen» zurückgeführt wurden. Dies hat die junge Generation jedoch nicht davon abgehalten, ihre Zukunft im Ausland zu suchen. 

«Meine ältere Tochter lernt Koreanisch, weil sie dorthin auswandern möchte. Ein sechsmonatiger Kurs kostet 20’000 NPR», sagt Suntali.  

Ein von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und der nepalesischen Regierung gemeinsam finanziertes Migrant Resource Centre (MRC) hat Suntali geholfen, eine Entschädigung zu erhalten, auf die sie als Witwe eines Migranten, der bei einer Beschäftigung im Ausland ums Leben kam, Anspruch hatte.

Sie erhielt 700’000 NPR (4700 CHF) von der Firma, für die ihr Mann arbeitete, 700’000 NPR von der nepalesischen Behörde für ausländische Arbeit und 1’300’000 NPR (8800 CHF) von der Versicherungsgesellschaft. Sie besucht Kurse zur finanziellen Bildung beim MRC, um zu lernen, wie man mit dem Geld sinnvoll umgeht.

Hier können Sie unsere Reportage darüber lesen, wie Ausreisewillige auf die Migration vorbereitet werden:

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Schuften für den Lebensunterhalt

Suntali ist noch eine der Glücklichen. Binod Ghorsaine, ein zurückgekehrter Migrant, der vom Schweizer Projekt dafür bezahlt wird, bedürftige Migrantenfamilien zu identifizieren und sie an das MRC zu vermitteln, fährt mit SWI swissinfo.ch mit dem Motorrad in sein Dorf Mitinichhap – um eine andere Witwe zu treffen, die sich in prekäreren Umständen befindet.

Binod Ghorsaine posiert draussen für die Kamera, im Hintergrund die Berge
Binod Ghorsaine arbeitete ein Jahr lang in Malaysia, betreibt jetzt aber sein eigenes Geschäft und arbeitet Teilzeit für das Projekt Safer Migration. Er erhält etwa 65 Dollar pro Monat, um Migrant:innen und Migrantenfamilien in Not zu identifizieren und sie zu ermutigen, die vom Migrant Resource Centre angebotenen Dienste in Anspruch zu nehmen. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Rampyari Ghorsaine ist in Eile, weil sie zu spät zur Arbeit kommt. Sie verdient etwas Geld als Landarbeiterin, auf den Feldern anderer Dorfbewohner:innen. Obwohl sie sich verspätet, lässt sie es an Gastfreundschaft nicht fehlen und bietet Wasser zum Trinken und Guaven zum Essen an.  

Ihr Mann wollte, dass seine beiden Söhne eine bessere Ausbildung erhalten, wurde aber von seinen Verwandten zurückgewiesen, als er den Wunsch äusserte, sie auf eine Privatschule zu schicken. Dies veranlasste ihn, Arbeit im Ausland zu suchen, und er ging 2008 nach Katar. 

«In den ersten drei Monaten erhielt ich keine Informationen von meinem Mann. Im Dorf gab es kein Telefon. Dann schickte er mir 40’000 NPR (270 CHF) und ein paar Monate später meldete ich meinen älteren Sohn in einer Privatschule an», erzählt sie. 

Rampyaris Mann starb nur zehn Monate, nachdem er seine Arbeit als Arbeiter in Katar aufgenommen hatte. Sein Tod wurde von seinem Arbeitgeber als natürlicher Tod eingestuft, was bedeutete, dass er keinen Anspruch auf Entschädigung hatte.

Zu dieser Zeit gab es auch keine Bestimmungen der nepalesischen Regierung für Witwen von Migranten, und die Versicherung für Migranten wurde erst sechs Monate nach seinem Tod eingeführt. Rampyari erhielt lediglich 100’000 NPR (675 CHF) von der Firma, und die Arbeitsvermittlungsagentur zahlte 20’000 NPR (135 CHF) für die Kosten der Beerdigung.

Nepalesische Wanderarbeitnehmer:innen müssen bei einem privaten Anbieter eine Lebensversicherung mit einer Deckung von mindestens 1 Million NPR (etwa 6750 CHF) abschliessen, gültig für die Dauer ihres Vertrags und weitere sechs Monate.

Die Kosten für die Versicherungsprämien hängen vom Alter der Arbeitnehmenden ab und werden von der Regierung geregelt. Sie beginnen bei 3308 NPR (22 CHF) für einen Zeitraum von zwei Jahren und können bis zu 9063 NPR (61 CHF) betragen.

Die Arbeitnehmenden müssen zusätzlich 400 NPR (2,70 CHF) für eine Versicherung gegen kritische Krankheiten zahlen, durch die sie im Krankheitsfall Anspruch auf eine Auszahlung von bis zu 500’000 NPR (3.400 USD) haben.  

Je nach Dauer ihres Vertrags müssen Wanderarbeitnehmer:innen zudem 1500 bis 2500 NPR (10 bis 17 CHF) in einen Wohlfahrtsfonds einzahlen. Familien von Migrant:innen, die im Ausland ums Leben gekommen sind, haben aus diesem Topf Anspruch auf eine einmalige Entschädigung von 700’000 NPR (4.700 CHF).

Auch bei Verletzungen und Krankheiten greift der Fonds bis zu diesem Betrag. Insgesamt zahlte die nepalesische Ausländerbehörde im Jahr 2020-21 über den Foreign Employment Welfare Fund 769,95 Mio. NPR (5,2 Mio. CHF) als finanzielle Unterstützung an Familien verstorbener und verletzter Arbeitsmigrant:innen aus.

«Mein Mann war kein gebildeter Mann, und ich war besorgt, dass er es im Ausland schwer haben würde. Ich hatte das Gefühl, dass wir hier gemeinsam ein besseres Leben führen könnten. Wir haben etwas Land und können überleben», sagt sie.

Rampyari Ghorsaine bei der Arbeit im Freien
Als Rampyari Ghorsaine heiratete, gab es in ihrem Dorf keinen Strom, keine befestigte Strasse und die Reismühle war weit entfernt. Ihr Mann ging 2008 nach Katar, um zu arbeiten. Zehn Monate später starb er dort. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Nach dem Tod ihres Mannes war Rampyari unnahbar, schlief schlecht und nahm Medikamente gegen Depressionen. Sie erhielt vom MRC eine psychologische Beratung.

Sie muss auch damit zurecht kommen, dass ihr älterer Sohn nicht mehr bei ihr lebt. Widerwillig hatte sie einen Kredit von 1,5 Millionen NPR (10’100 CHF) aufgenommen und ihn zum Studium nach Japan geschickt.

«Ich bin gegen Migration und würde niemandem raten, seine Familie ins Ausland zu schicken», sagt sie.

Sie retten ihre Ehemänner und brennen aus

Maili Tamang aus dem Dorf Danda Sim ist keine Witwe, aber sie wäre fast eine geworden. Tamang nahm einst einen Kredit in Höhe von 125’000 NPR (850 CHF) bei einer Genossenschaft auf, um der Vermittlungsagentur die Provision für die Entsendung ihres Mannes Gyan Bahadur Tamang nach Malaysia zu zahlen.  

Er hatte dort vor 13 Jahren als Migrant gearbeitet und kehrte mit genügend Ersparnissen zurück, um ein Haus zu bauen, das jedoch durch das Erdbeben 2015 zerstört wurde. Er beschloss, zurückzukehren, um mehr Geld zu verdienen, wurde aber von seiner Agentur betrogen.  

«Die Agentur versprach mir ein Gehalt von 900 Ringgit (170 Franken) pro Monat, aber ich bekam nur 700 Ringgit. Das reichte nicht zum Überleben, und ich lief vor meinem Arbeitgeber weg», sagt er. «Die Regierung muss gegen Agenturen und Unternehmen vorgehen, die Migrant:innen betrügen.»

Maili and Bahadur Tamang sitzen auf einer Matratze in ihrem Haus
Maili Tamang musste einen Kredit aufnehmen, um eine Arbeitsvermittlungsagentur zu bezahlen, die ihrem Mann Gyan Bahadur Tamang einen Arbeitsvertrag in Malaysia verschaffte. Der Einsatz zahlte sich nicht aus. Denn ihr Mann wurde schlecht bezahlt und krank, was ihn zur Rückkehr zwang. Anand Chandrasekhar SWI swissinfo.ch

Gyan Bahadur arbeitete weiter in Malaysia als Arbeiter ohne Papiere, bis er wegen eines Blasensteins krank wurde. Die Migrantenvereinigung PNCC half ihm, sich in Malaysia behandeln zu lassen und arrangierte seine Rückführung nach Nepal, aber Maili musste ihren Schmuck verkaufen, um das restliche Geld für seine Rückkehr ins Dorf aufzubringen.  

«Es gibt viele Familien, die durch die Migration viel Geld verdienen und Land kaufen können. Aber ich musste meine goldenen Ohrringe verkaufen», sagt sie.  

Es war sehr schwierig für sie, mit drei Kindern allein zurechtzukommen. Sie kümmerte sich um ihre Ausbildung, zahlte einen Kredit für den Hausbau ab und arbeitete im Gemüsegarten. Obwohl sie hart arbeitete, war sie nicht in der Lage, Geld zu sparen, da ihr Mann aufgrund seiner eigenen schwierigen Lage kein Geld schicken konnte.

Maili nahm an einem 21-wöchigen Kurs zur finanziellen Bildung teil, der vom Migrant Rescource Center durchgeführt wurde. Ausserdem erhielt sie psychologische Beratung, um ihren Stress und ihre Ängste zu bewältigen.    

«Sie war so abgemagert, als ich zurückkam. Jetzt lasse ich sie etwas länger schlafen und melke die Kühe am Morgen selbst», sagt Gyan Bahadur.  

Laut Sharu Joshi, einem unabhängigen Experten für ausländische Arbeitsmigration und Beschäftigung, besteht die negativste Auswirkung der Migration in Nepal darin, dass die Arbeitsbelastung der Frauen immens gestiegen ist.

Statistiken der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigen, dass nepalesische Frauen 85% der täglichen unbezahlten Betreuungsarbeit leisten, was sich auf insgesamt 29 Millionen Stunden pro Tag beläuft, verglichen mit nur fünf Millionen Stunden, die von Männern geleistet werden.  

«Dies zeigt, dass Frauen in Nepal sechsmal mehr unbezahlte Arbeit verrichten als Männer, der Durchschnitt in der südasiatischen Region liegt bei dem Vierfachen. Durch die Migration ist auch der kleine Beitrag, den die nepalesischen Männer geleistet haben, verschwunden», sagt Sharu.

Sharu Joshi posiert am Rande einer belebten Strasse für die Kamera
Sharu Joshi ist eine der führenden Expertinnen für ausländische Arbeitsmigration in Nepal. Sie hat für UN Women und die nepalesische Regierung gearbeitet und ist jetzt als unabhängige Beraterin tätig. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Als Beweis verweist sie auf den jüngsten Erfolg Nepals bei der Erfüllung sozialer Entwicklungsindikatoren trotz der knappen Kassen der Regierung. Die Vereinten Nationen sind der Ansicht, dass das Land die in den Zielen für nachhaltige Entwicklung für 2019 festgelegten Vorgaben für die soziale, wirtschaftliche und politische Teilhabe erreicht hat. 

«Wie ist das möglich? Weil die Aufgaben, für die der Staat zuständig ist, wie Ernährung, Familiengesundheit und Wohlfahrt, von Frauen übernommen werden», sagt Sharu.

Leere Dörfer und misstrauische Ehemänner

Das Dorf Dandagaun im Bezirk 2 des Distrikts Dhulikhel hat nach der Volkszählung von 2021 ein Geschlechterverhältnis von nur 91 Männern auf 100 Frauen (der nationale Durchschnitt liegt bei 95,6).

Mit 3,83 Einwohner:innen pro Haushalt hat es auch die zweitniedrigste Haushaltsgrösse im Distrikt (der nationale Durchschnitt liegt bei 4,37). Die Abwanderung junger Männer ins Ausland ist hier augenfällig.

«Früher unterstützten sich die Menschen im Dorf gegenseitig. Jetzt ist das Dorf leer», sagt Einwohnerin Yasodha Gautam.

Ihr Ehemann, ein ehemaliger Soldat der nepalesischen Armee, arbeitet seit anderthalb Jahren in Dubai als Essenslieferant. Yasodha führt einen kleinen Laden und kümmert sich um ihre beiden Söhne. Sie wollte nicht, dass er geht, aber er wollte die Welt sehen und ihre Kinder auf gute Schulen schicken, damit sie höhere Offiziere in der Armee werden können.

«Ich bin weder glücklich noch traurig. Er ist nicht hier, aber er ist für unsere Zukunft gegangen», sagt sie.

Yasodha Gautam in ihrem Laden.
Der Ehemann von Yasodha Gautam arbeitet als Essenslieferant in Dubai. Sie sind es gewohnt, getrennt zu sein, da er zuvor in der nepalesischen Armee diente und oft in anderen Teilen des Landes eingesetzt wurde. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Bhim Prasad Sapkota, ein leitender Beamter für öffentliche Gesundheit im nepalesischen Ministerium für Gesundheit und Bevölkerung, ist besorgt über die Auswirkungen der Migration auf die Demografie des Landes.

Die jährliche Bevölkerungswachstumsrate ist von 1,35% bei der Volkszählung 2011 auf 0,92% bei der Volkszählung 2021 gesunken und damit auf den niedrigsten Stand seit der ersten Volkszählung von 1911.

Auch die Gesamtfruchtbarkeitsrate ist von 2,6 im Jahr 2011 auf 2,1 im Jahr 2022 gesunken, obwohl die Nutzung moderner Verhütungsmittel bei verheirateten Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren im gleichen Zeitraum konstant bei 43% lag, wie aus der nepalesischen Bevölkerungs- und Gesundheitsstudie 2022 hervorgeht.

«Die Abwanderung der jungen Bevölkerung hat Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit, aber auch auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung», sagt Bhim Prasad. «Das ist etwas, das von politischen Entscheidungsträgern, Politiker:innen und der Zivilgesellschaft ernsthaft bedacht werden muss.»

Bhim Prasad im Anzug in einem breiten Ledersessel
Bhim Prasad Sapkota vom nepalesischen Ministerium für Gesundheit und Bevölkerung ist ebenfalls besorgt über die Auswirkungen der Migration auf die zurückbleibenden älteren Menschen. Seiner Meinung nach ist das nepalesische Gesundheitssystem nicht darauf vorbereitet, die Bedürfnisse der älteren Menschen zu erfüllen. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Dem Bericht über die Arbeitsmigration zufolge, lebten im Jahr 2022 7,4% der Bevölkerung des Landes im Ausland. Diese Zahl umfasst jedoch nicht die informelle Migration oder die Migration nach Indien, für die keine offizielle Arbeitsgenehmigung der Regierung erforderlich ist.

Der Wahrheit am nächsten kommt die Volkszählung von 2021, aus der hervorgeht, dass in 23,4% der Haushalte ein Familienmitglied fehlt, weil es im Ausland lebt.

«Von den 77 Distrikten Nepals haben 14 ein Bevölkerungsdefizit», sagt Sharu Joshi, die früher für UN Women und die Regierung gearbeitet hat. «Nur noch 6% der Bevölkerung leben in den Bergen, gegenüber 40% in den Hügeln und 54% im Terai [Flachland, Anm. d. Red.].»

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Joshi zufolge verliessen während des zehnjährigen Bürgerkriegs täglich etwa 200 Menschen das Land. Doch heute, in Zeiten relativen Friedens und relativer Stabilität, ist der Exodus auf 3000 Menschen pro Tag angestiegen.

Was die Zahlen nicht zeigen, ist der soziale Druck, dem junge Männer ausgesetzt sind, um ihre Heimat zu verlassen und im Ausland zu arbeiten.

«In den Familien gibt es eine Art Wettbewerb, wie viele ihrer Männer im Ausland arbeiten. Migranten werden als männlicher wahrgenommen, während diejenigen, die zurückbleiben, als weniger mard [männlich] gelten, da sie keine Risiken eingehen», sagt Sharu.

Die Frauen, die zurückbleiben, riskieren, in ihren Gemeinschaften als unvorteilhaft wahrgenommen zu werden. Eine von der Deza finanzierte Studie aus dem Jahr 2019 befragte mehr als 1000 Migrantenfrauen in den Distrikten Saptari und Dhanisha und stellte fest, dass sie eher im Verdacht stehen, Geldüberweisungen zu missbrauchen und aussereheliche Affären zu haben.

Die Forschenden des Nepal Institute for Social and Environmental Research, die die Studie durchführten, fanden vor Ort jedoch kaum Anzeichen dafür.

«Es gab insgesamt drei Fälle, in denen Frauen aussereheliche Affären hatten, und das hätte auch der Fall sein können, wenn der Ehemann nicht ausgewandert wäre. Aber es wurden Geschichten extrapoliert, die sich in verschiedenen Formen im ganzen Bezirk verbreiteten, falsche Erzählungen wurden erfunden und etabliert», schreiben die Autor:innen der Studie.

Presseartikel, die auf Anekdoten beruhen, haben ein negatives Bild von Migrantenfrauen geschaffen und giessen Öl ins Feuer. Sie haben ein allgemeines Gefühl des Misstrauens zwischen Paaren geschaffen.

«Nicht für jeden ist die Migration erfolgreich. Manche Männer und Frauen haben eine zweite Ehe [ein Euphemismus für eine Trennung in Nepal, Anm.d.Red.]», sagt Ladenbesitzerin Yasodha.

Mehr als Geld

Auf der anderen Strassenseite von Yasodhas Laden befindet sich ein Restaurant, das von Mirani Lama betrieben wird.

Ihr Ehemann teilt sich in Dubai ein Zimmer mit Yasodhas Mann. Auch den Beruf hat er dort denselben. Mirani Lama kümmert sich um das Geschäft, um den gemeinsamen Sohn und den Haushalt.

«Es ist nicht ganz einfach, das Restaurant allein zu führen, aber mein Bruder und meine Schwester unterstützen mich», sagt sie.

Mirani Lama in ihrer Küche.
Mirani Lamas Ehemann konnte ihr in den ersten vier Monaten kein Geld aus Dubai schicken, da er zuerst einen neuen Führerschein erwerben musste. Sie empfiehlt potenziellen Migrant:innen, sich vor der Ausreise weiterzubilden und ihre Kenntnisse zu aktualisieren. Anand Chandrasekhar / SWI swissinfo.ch

Miranis Familie braucht das Geld aus Dubai. Ihr Mann überweist jeden Monat 92’000 NPR (620 CHF) direkt auf ihr Konto.

Im Jahr 2021 schickten Migranten nach offiziellen Angaben Überweisungen in Höhe von 1,06 Billionen NPR (7,15 Milliarden US-Dollar) nach Hause, was 23,8% des nepalesischen BIP entspricht.

Es überrascht nicht, dass sich die meisten Gespräche über Migration in Nepal um die Überweisungen drehen, die nach Hause geschickt werden. In letzter Zeit wird jedoch auch über die gesellschaftlichen Kosten nachgedacht, die entstehen, wenn so viele junge Männer ins Ausland gehen. So zeigt die Volkszählung 2021, dass 17,1% der Kinder ohne ihren Vater aufwachsen.

«Migrantenfamilien haben dank der Überweisungen einen besseren Zugang zu Gesundheit und Bildung. Aber ihr Lebensstil ist aufgrund der Abwesenheit eines Elternteils beeinträchtigt, die Entwicklung der Kinder sowie die Sozialisierung werden negativ beeinflusst», sagt der Regierungsbeamte Bhim Prasad.

Er möchte, dass die Regierung politische Massnahmen ergreift, damit die Nepales:innen im Ausland in ihre Heimat zurückkehren und auf der Grundlage der im Ausland erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ihr eigenes Unternehmen gründen können. Letztlich ist dies nur möglich, wenn die Rückkehrer und ihre Frauen das Gefühl haben, dass sie in Nepal eine bessere Zukunft haben als in Katar oder Malaysia.

Die meisten scheinen im Gegenteil immer wieder ins Ausland zurückkehren zu wollen, um dort zu arbeiten: Das nepalesische Ministerium für ausländische Beschäftigung hat seit 2011/2012 rund 1,8 Millionen Arbeitsgenehmigungen erneuert.

Ein Bericht der Internationalen Organisation für Migration über die Covid-19-Situation Nepals aus dem Jahr 2021 zeigte, dass 64% derjenigen, die aufgrund der Pandemie in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wieder auswandern wollten.

Angesichts der Bedeutung der Überweisungen für die Wirtschaft hat die Regierung die Erneuerung der Arbeitsgenehmigungen vereinfacht, indem sie diese auch von der Botschaft im Zielland aus (bis zu zweimal) und sogar online erlaubt.

«Das Land lebt von den Überweisungen, aber die Politiker:innen sagen, dass sie nicht wollen, dass die Menschen gehen, sondern dass die Migranten zurückkommen», sagt Sharu.

Ein Mann mit einem Telefon in der Hand sitzt auf einer Bank am Flughafen
Ein Migrant auf dem Weg in die Vereinigten Arabischen Emirate telefoniert ein letztes Mal mit seiner Familie in der Nähe des Flugsteigs am internationalen Flughafen Tribhuvan. Anand Chandrasekhar SWI swissinfo.ch

Die beiden von SWI swissinfo.ch befragten Familien im Dorf Dandagaun blicken in eine unterschiedliche Zukunft. Yasodhas Mann, der nächstes Jahr 40 Jahre alt wird, kehrt in sechs Monaten aus Dubai zurück. Sie will nicht, dass er die Familie erneut verlässt, weiss aber, dass sie ihn nicht davon abhalten kann, wenn er bei guter Gesundheit bleibt.

«Es ist ja nicht so, dass es keine Zukunft in diesem Land gäbe, aber wenn die Dinge so bleiben, wie sie sind, wird er wieder ins Ausland gehen», sagt sie.

Miranis Mann kehrt in zehn Monaten nach Hause zurück. Sie freut sich auf seine Rückkehr, da sie gemeinsam eine wichtige Entscheidung getroffen haben.

«Wir haben beschlossen, dass er nicht mehr im Ausland arbeiten wird» sagt sie. «Stattdessen planen wir, das Restaurant zu erweitern.»

Editiert und aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger.

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