Wie gross ist der «andere» Gender Gap? Eine trans Frau erzählt
37 Jahre lang lebte Franziska Roten ein Leben als Mann, bevor sie ihr Coming Out als trans Frau hatte. Was bedeutet es, eine trans Frau zu sein, bezogen auf Gender Gap, Rollenbilder und Lohndiskriminierung?
SWI swissinfo.ch: Der «Frauenstreik» in der Schweiz schliesst dieses Jahr als «feministischer Streik» explizit trans Personen ein. Macht diese Inklusion Sinn oder ist das gut gemeinte Indifferenz?
Franziska Roten: Ich finde das super, als trans Frau ganz besonders. Die Ursache für die Diskriminierung von FLINTA – also Female, Lesbian, Intersex, Trans und Agender – sind in allen Bereichen die gleichen: die männliche Heteronormativität. Daher finde ich es gut, dass wir zusammenarbeiten.
Nehmen Sie am Streik teil?
Ja, ich werde in Luzern eine Rede halten. Das Frauenstreikkomittee Luzern hat mich angefragt. Wenn ich vor ein paar Jahren jemandem gesagt hätte, dass ich überhaupt eine Rede halten werde, hätten es meine Freund:innen nicht geglaubt.
Und jetzt sprechen Sie vor grossem Publikum. Was ist heute anders?
Auf der einen Seit habe ich Autismus und Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen, auf der anderen Seite kann ich auf die Bühne steigen und eine Rede halten. Am Streik spreche ich über feministische Themen und vergiftete Menschenbilder, das ist für mich zum einen etwas Technisch-Logisches, was es mir einfacher macht. Ich kann aber auch Emotionen und eigene Erfahrungen reinbringen. Ich weiss, worüber ich spreche. Das macht mich selbstsicher.
Franziska Roten (40) hatte mit 37 Jahren ein Burnout, das zu einem Klinikaufenthalt führte, wo sie wegen Depressionen und Suizidalität behandelt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte sie als Mann, hatte Frau und Kinder. Schon ihr ganzes Leben hatte sie das Gefühl, dass mir ihr etwas nicht stimmte. In einer Therapie sprachs sie zum ersten Mal aus, was sie schon länger spürte: «Ich glaube, ich würde mich als Frau wohler fühlen.» Im Januar 2022 liess sie ihren Geschlechtseintrag ändern und seither ist sie Franziska. Von ihrer Frau lebt sie getrennt, sie pflegen jedoch ein freundschaftliches Verhältnis. Ihre neue Partnerin ist ebenfalls trans. Franziska Roten arbeitet als Softwareentwicklerin und engagiert sich unter anderem für das Transgender Network Switzerland.
Was haben Sie vor Ihrer Transition über Feminist:innen gedacht?
Ich dachte, die haben ja schon recht, aber ich habe meine eigenen Probleme. Ich bin trotzdem froh, dass ich queeren Menschen und feministischen Themen früher nicht feindselig gegenübergestand.
Der neue Bericht über Hate Crimes an der LGBTQ-CommunityExterner Link zeigt, dass besonders trans Personen von Diskriminierung betroffen sind. Überrascht Sie das?
Überhaupt nicht. Ich rechne damit, dass es noch viel schlimmer wird. Es ist Wahljahr, von rechter Seite kann man die Thematik sehr gut ausschlachten. Man kann ein Feindbild aufbauen, das viele negative Emotionen weckt.
Wird es auch schlimmer, weil es immer mehr trans Personen gibt?
Ich wehre mich dagegen, zu sagen, dass es mehr trans Personen gibt. Wir werden einfach sichtbarer. Es ist 2023 und die Menschen trauen sich zu sagen: «Ich bin nicht so, wie die gesellschaftliche Norm das gerne hätte.»
Das führt zu einer grösseren Sichtbarkeit, sodass man meint, es seien mehr Leute oder handle sich gar um einen Modetrend. Die vermehrte Sichtbarkeit vergrössert die Angriffsfläche und macht verwundbarer.
Seit Januar 2022 können trans Menschen in der Schweiz ihren Geschlechtseintrag und gleichzeitig ihren Vornamen mit einem Gang zum Zivilstandsamt ändern lassen. Im letzten Jahr haben 1171 PersonenExterner Link in der Schweiz ihren Geschlechtseintrag geändert. Wie viele trans Menschen in der Schweiz leben, ist nicht offiziell erhoben. Die geschätzten Zahlen gehen auseinander, von 0,5% bis zu 3% der Bevölkerung, wie das Transgender Network Switzerland festhältExterner Link.
Die Lesbenorganisation Schweiz (LOS), Transgender Network Switzerland (TGNS), Pink Cross und die LGBTIQ-Helpline haben im Mai den neusten Hate Crime Bericht veröffentlichtExterner Link. Dieser hält so viele Angriffe und Diskriminierungen auf LGBTIQ-Personen fest wie noch nie, 2022 wurden 134 gemeldet. Fast ein Drittel der Vorfälle betraf trans Personen.
In der Schweiz gibt es keine Zahlen zum Lohnunterschied zwischen cis und trans Personen. Eine Befragung aus den USA mit weltweit über 1000 TeilnehmendenExterner Link hat ergeben, dass cis Personen jährlich 32% mehr verdienen als trans Personen, sogar wenn die letzteren einen ähnlichen oder höheren Ausbildungsgrad haben. Eine andere Studie aus den USA zeigt, dass der Lohngap bei den trans Frauen am grössten ist, diese verdienen 40% weniger als durchschnittliche cis Arbeiter:innen. Bei einer Umfrage in der Schweiz gaben 16% der befragten Unternehmen anExterner Link, keine trans Personen einstellen zu wollen, weil sie Komplikationen bei der Zusammenarbeit intern sowie mit Kund:innen befürchten.
Wieso sind trans Personen so viel öfter Opfer von Hate Crimes?
Wir sind vermutlich einfach so anders und offenbar noch schwerer zu verstehen – verglichen mit den anderen Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Wir stellen etwas in Frage, das allen von klein auf eingetrichtert wurde: Es gibt biologische Männer und Frauen, mehr nicht. Und jetzt gibt es Menschen, die sagen, das stimmt nicht; es gibt auch eine Geschlechtsidentität. Damit kommen viele Menschen offensichtlich nicht klar.
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Die Andersartigkeit von trans Personen ist auch leichter zu erkennen.
Ja, wir sind ein sichtbares Angriffsziel. Trans Menschen haben nicht immer ein ihrer Geschlechtsidentität entsprechendes Passing (Anm. der Red: Passing kommt von englisch to pass: als jemanden durchgehen; Passing bedeutet, dass eine Person von der Umwelt als das Geschlecht wahrgenommen wird, mit dem sie sich selber identifiziert.) Bei einer Person, die schwul, lesbisch, bisexuell oder agender ist, ist das nicht sichtbar.
Haben Sie persönlich schon Diskriminierung erlebt?
Ja. Zum Beispiel am Bahnhof Luzern. Ich bin von einer Gruppe mit blöden Sprüchen attackiert worden. Ich weiss nicht, was passiert wäre, wenn ich nicht weggerannt wäre. An meinem ehemaligen Arbeitsplatz hatte ich vor meiner Transition ein Burnout. Zurückgekehrt bin ich als Franziska, das war mit dem Chef und der Teamleitung abgesprochen.
Doch das hat nicht allen gepasst, eine Person hat sich geweigert, mir ein IT-Konto auf den neuen Namen auszustellen. Dazu wurde ich von ihm falsch gegendert. Ein neuer Teamleiter hat sein Problem mit mir ausgedrückt, indem er meine Arbeit als ungenügend bewertet hat. Vorher war meine Leistung nie ein Problem gewesen. Jetzt habe ich zum Glück einen neuen Job.
War es schwierig für Sie, einen neuen Job zu finden?
Ich habe mich ganz normal für Stellen beworben. Anhand von alten Zeugnissen ist ersichtlich, dass ich früher unter einem anderen Namen gelebt habe. Ich habe bei der Bewerbung einen entsprechenden Hinweis hinzugefügt.
Aber sonst habe ich es nicht zum Thema gemacht und bin auch nie darauf angesprochen wurden. Wo ich mich beworben habe, hat das niemanden interessiert. Ich bin regelmässig bei Kund:innen vor Ort, das Thema trans ist noch nie aufgekommen.
Dieses Jahr haben Sie für den Luzerner Kantonsrat kandidiert, wie haben Sie das erlebt?
Ich habe erstaunlicherweise recht viele Stimmen erhalten und hatte keine Probleme damit, dass ich trans bin. Es handelte sich um einen ländlichen Wahlkreis, Luzern ist ein erzkonservativer Kanton. Ich habe mit Schlimmem gerechnet.
Womit denn?
Mit bösen Emails, dass ich auf der Strasse blöd angemacht werde oder dass es zu unangenehmen Bemerkungen kommt an Podiumsdiskussionen. Aber nichts dergleichen ist passiert. Ich bin sehr positiv überrascht. Das gibt mir Kraft, um mich weiterhin zu engagieren.
Glauben Sie, es gibt in der Schweiz einen Gendergap zwischen trans und cis Personen? Zum Beispiel beim Lohn.
Ja, definitiv. Es muss nur schon deswegen so sein, weil die Arbeitslosenquote bei trans Menschen signifikant höher ist als bei cis MenschenExterner Link.
Zahlen aus den USA zeigen, dass trans Personen weniger verdienen als Cis Personen und trans Frauen noch weniger als trans Männer. Ist das eine Diskriminierung von Frauen, trans Personen oder spezifisch trans Frauen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich behaupte, der Anteil trans hat am grössten Einfluss bei dieser Diskriminierung. Bei mir aber hatte er keinen Einfluss, weil wir klare Lohnbänder haben.
Wie sieht es bei der Wohnungssuche aus, haben Sie da schon einmal Diskriminierung erlebt seit Ihrer Transition?
Meine aktuelle Wohnung habe ich unter meinem früheren Namen gesucht und gefunden. Deshalb habe ich in diesem Bereich keine Erfahrung. Ich werde die aber bald machen können. Ich habe vor, mit meiner Partnerin zusammenzuziehen. Zwei trans Frauen auf Wohnungssuche, mal schauen, wie das ankommt.
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Ihr Kleidungsstil ist auffällig. Hatten Sie vor Ihrer Transition eine optische Vorstellung von Franziska?
(Überlegt, sucht nach Worten)
Hatte Ihr früheres Ich auch seinen eigenen Kleidungsstil?
Nein. Er hat von Mode gar nichts verstanden, das war ihm völlig egal. An meinem Körper gab es damals nichts Schönes. Ich habe nicht speziell darauf geachtet.
Mein Stil, wie ich heute aussehe, hat sich nach und nach ergeben. Ich durchlebe eine Art zweite Pubertät, in der ich mein wahres Ich entdecke. Auch im wörtlichen Sinn, dank meiner Hormontherapie.
Haben Sie sich auf Dinge gefreut, die Sie jetzt als Frau tun können?
Ich habe das Gefühl ich muss mich nicht mehr schämen, weil ich meine weibliche Seite zeige, beziehungsweise das, was als weiblich wahrgenommen wird. Die musste ich bis jetzt unterdrücken.
Was mussten Sie unterdrücken?
Was ich sage, wie ich spreche. Vielleicht spreche ich blumiger als Frau, singender. Vorher habe ich das aktiv vermieden und versucht, männlicher zu wirken. Meine Wahrnehmung hat mir gesagt, du bist zu wenig männlich. In der Schule wurde ich auch gemobbt, weil ich anders war. Da habe ich mir angewöhnt, mich so zu verhalten, wie es offenbar erwartet wurde.
Ich freue mich so richtig, dass ich heute einfach machen kann, was mir entspricht. Ich ziehe zum Beispiel die Kleider an, die ich will. Ich war auch schon in einem Emo/Goth-Outfit arbeiten. Früher hätte ich mich das nie getraut.
Das hat damit zu tun, dass ich mich wohlfühle. Ich bin eine Frau, mein wahres Ich, kann mich selbst sein. Gleichzeitig hat mein Stil auch nichts mit meiner Geschlechtsidentität als Frau zu tun. Meine Kleidung repräsentiert meine Persönlichkeit und meinen Stil und der kann feminin sein, muss aber nicht.
Was hat sich an ihrer Person sonst noch geändert?
Die Transition hatte Auswirkungen auf sehr vieles, auch meine Vorlieben – vom Essen bis zur Sexualität haben sich verändert. Heute mag ich Grapefruit, früher konnte ich die nicht essen. Auch mein Verhalten ist anders.
Früher bin ich oft ausgerastet, wenn mich jemand genervt hat. Das ist nicht ganz weg, aber heute ist es eine andere Qualität von Aufregung. Ich bin ruhiger. Das hat vielleicht mit Hormonen zu tun, vielleicht auch damit, dass ich zufriedener bin mit mir selbst.
Nicht damit, dass es sich als Frau nicht gehört, so rumzuschreien?
Auf keinen Fall. Ich halte nichts von diesen klassischen Geschlechtsbildern. Ich fluche gern, nicht mehr so viel wie früher, aber ich tue es immer noch. Mir wurde auch schon gesagt «Frauen fluchen nicht so viel», das ist mir egal. Gibt es eine Vorlage oder eine DIN-Norm, wie sich Frauen zu benehmen haben?
Die Hormone sind das beste Antidepressivum, die ich je bekommen habe und das höre ich von so vielen trans Menschen. Das führt logischerweise zu einer Verhaltensveränderung. Und wenn das jetzige Verhalten angeblich weibliche Verhaltensweisen sind, dann ist das halt so.
Aber an der Vorliebe bei der Partner:innenwahl hat sich nichts geändert?
Viele Leute fragen mich, ob ich denn jetzt auf Männer stehe. Wenn ich ihnen sage, dass ich immer noch Frauen bevorzuge, sind sie manchmal verwirrt.
Kann man denn zu 100% von einem Geschlecht ins andere wechseln?
Ich glaube, das kann man nicht so pauschal sagen. Wenn ich mich mit früher vergleiche, bin ich so viel weiblicher. Aber das ist nicht neu, ich habe es früher einfach unterdrückt. Von aussen wirkt es so, als hätte ich alles um 100% gedreht, aber in mir drin war es nie anders.
Ich musste mich maskieren, ich musste mich immer zusammenreissen und verstellen. Ich habe das Geschlecht nicht gewechselt, ich lebe jetzt einfach, was ich schon immer war.
2019 fand nach der Erstausgabe 1991 erstmals wieder schweizweit ein grosser Frauenstreik statt. Dieses Jahr nun folgt die Neuauflage als «feministischer Streik». Grund für den neuen Namen ist, dass niemand ausgeschlossen werden soll. Nebst Frauen sollen auch Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen teilnehmen. Auch Männer dürfen mitstreiken, sie werden jedoch gebeten, sich nicht in den Vordergrund zu stellen.
Das Basler Streikkollektiv verwendet weiterhin beide Begriffe, Frauenstreik und feministischer Streik, da beide Stärken und Schwächen haben, wie es auf Anfrage mitteilt. Frauenstreik stelle das Subjekt ins Zentrum, Personen, die sich als weiblich definieren. “Für jede Person, die sich als weiblich definiert, ist klar, dass sie gemeint ist und dass es darum geht, ihr Leben zu verbessern.”
Doch er inkludiere eben nicht alle Geschlechter, die patriarchale Gewalt und Unterdrückung erleben. “Der Begriff „Feminist:in“ könne das besser, aber sich als Feminist:in zu verstehen, ist viel stärker an eine Entscheidung gebunden. Was ist Feminismus überhaupt?” Das sei nicht für alle Menschen so klar wie für das Streikkomitee. Deshalb wurde entschieden, beide Begriffe zu verwenden.
Editiert von Marc Leutenegger
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