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Wie junge Wissenschaftlerinnen gegen sexuelle Belästigung an Schweizer Universitäten kämpfen

Drei junge Leute arbeiten am Laptop
Seventyfour Images / Alamy

Trotz öffentlicher Sensibilisierungskampagnen ist es nicht gelungen, sexuelle Belästigungen an den Schweizer Hochschulen einzudämmen. Eine neue Generation von Frauen nimmt das Heft selbst in die Hand. SWI swissinfo.ch hat drei von ihnen getroffen.

Sexuelle Belästigung ist an den Hochschulen nach wie vor verbreitet, obwohl die #metoo-Bewegung das Bewusstsein dafür geschärft hat. Eine neue Generation von Frauen geht das Problem direkt an und ist entschlossen, etwas zu verändern.

Sie lancieren Sensibilisierungskampagnen, richten Telefon-Hotlines und Online-Plattformen für potenzielle Opfer ein, bieten Workshops zu Soft Skills an und werden selbst zu Akteurinnen in der politischen Debatte für inklusivere Hochschulen.

Wir haben drei Schweizerinnen getroffen, die in ihren Bildungsinstitutionen – und darüber hinaus – etwas bewegen wollen.

Livia Boscardin: Empowerment von Frauen durch Kampfkunst

Portrait von Livia Boscardin, selbstbewusst lachend
Livia Boscardin lehrt Empowerment und Gewaltprävention. Courtesy of

Livia Boscardin, 36 Jahre alt, zerschlug ihr erstes Holzbrett im Alter von 11 Jahren. Es war der Höhepunkt eines Selbstverteidigungskurses. Von diesem Tag an zeigte sie ihrem Bruder das zerbrochene Stück jedes Mal, wenn er sie ärgern oder hänseln wollte. «Dieser Kurs hat mich nachhaltig geprägt und mich gelehrt, für mich selbst einzustehen», sagt sie.

Jahre später, als Bachelor-, Master- und zuletzt als Doktorandin der Soziologie an der Universität Basel, sah sie sich mit anderen, gravierenderen Formen von Belästigungen konfrontiert.

«Ältere Wissenschaftler kommentierten ständig meinen Körper, meine Kleidung, mein Lächeln und meinen Nagellack; ein Professor lud mich mehrmals zu sich nach Hause ein. Das ist kein angemessenes Verhalten, wenn die Person in der Hierarchie nicht auf deiner Stufe steht.»

Das konservative Umfeld an der Universität und die Art und Weise, wie sie behandelt wurde, stimmten sie zunehmend unzufrieden. Kurz nach ihrer Promotion beschloss sie daher, ihre akademische Laufbahn an den Nagel zu hängen. Sie beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und andere Frauen zu stärken.

Boscardin belegte Kurse zu häuslicher Gewalt, sexueller Gesundheit und sexuellen Rechten. Sie wurde Trainerin in Wen-Do, der Kampfkunst, die sie seit ihrem elften Lebensjahr praktiziert. Heute bietet sie Kurse für Studierende, Mitarbeitende und Forschende der Universität Basel an, aber auch für Personen, die ausserhalb der Universität in irgendeiner Form belästigt werden.

Die Teilnehmenden sind ausschliesslich Frauen: Opfer von sexueller Belästigung, Studentinnen, die wissen wollen, wie sie sich in bedrohlichen Situationen verhalten sollen, Migrantinnen und Mädchen ab acht Jahren.

In Boscardins Kursen geht es um die Vermittlung von Empowerment und Gewaltprävention. Sie informiert die Teilnehmerinnen über die Definitionen von sexueller Belästigung, darüber, was angemessen ist und was nicht.

Auch die Unterstützungsstrukturen an der Universität sind ein Thema. Bei den Treffen gibt es auch Momente, in denen die Teilnehmerinnen ihre Erfahrungen in der Gruppe teilen: «Viele Leute weinen, wenn sie ihre schmerzhaften Geschichten erzählen».

Boscardin bringt ihnen Strategien bei, um die Körpersprache eines Täters zu analysieren, verbal und körperlich zu reagieren, Kolleg:innen zu informieren und sie für sexuelle Belästigung zu sensibilisieren. «Manchmal bauen wir auch körperliche Selbstverteidigung ein, einfach weil es Spass macht», sagt sie.

Die Ergebnisse seien beeindruckend. «Die Frauen kommen schüchtern und verängstigt an. Danach strahlen sie. Sie gehen als veränderte Menschen.» Die Teilnehmerinnen sind in der Lage, gewalttätige Partner und toxische Arbeitsumgebungen hinter sich zu lassen, über ihre Belästigungserfahrungen zu sprechen und ihr Leben zu ändern. Doch die Arbeit fordert auch von Boscardin ihren Tribut.

Ihre Bewältigungsstrategie besteht darin, dreimal pro Woche Thai-Boxen zu trainieren und beim Sonnenbaden ein Buch zu lesen.

Boscardin fordert auch ein neues Bündnis zwischen Männern und Frauen, denn «Männer sind der Schlüssel im Kampf gegen Sexismus und Gewalt». Deshalb hat sie sich mit einem männlichen Kollegen zusammengetan, der nun einen ähnlichen Kurs für Männer anbietet: «Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, dass sie Grenzen überschreiten», sagt sie.

Simona Materni: mit Prävention beginnen

Portrait von Simona Materni
Simona Materni, Projektleiterin im Büro für Chancengleichheit der Universität Luzern. Courtesy of

Simona Materni, 39 Jahre alt, ist überzeugt, dass Prävention den Unterschied macht. Als Projektleiterin an der Universität Luzern war sie die treibende Kraft hinter dem ersten nationalen Sensibilisierungstag gegen sexuelle Belästigung, der am 23. März stattfand.

Gemeinsam mit Kolleg:innen aus dem gesamten Schweizer Bildungssystem präsentierte Materni an diesem Tag ein dichtes Programm. Zu den Mitorganisator:innen gehörten die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne (EPFL) und Zürich (ETH Zürich) sowie neun weitere Universitäten und 15 Hochschulen.

Die Sensibilisierungskampagne zum Thema sexuelle Belästigung begann online mit entsprechenden Videos und Informationsflyern. Es fanden Veranstaltungen in Form von runden Tischen, Konferenzen und interaktivem Theater statt, sowohl online als auch in lokalen Institutionen.

Vor ihrer Tätigkeit an der Universität Luzern war Materni Projektleiterin bei der Schweizerischen Kriminalprävention, einer interkantonalen Fachstelle für Kriminalprävention und Sicherheitsförderung. In ihrer Arbeit vernetzte sie sich mit den kantonalen Polizeikorps, beobachtete kriminelle Aktivitäten und entwickelte Kommunikationsstrategien für die Prävention.

Materni hat sich schon immer dafür interessiert, warum scheinbar normale Menschen moralisch falsche Handlungen begehen. «Deshalb habe ich dann praktische Philosophie studiert und Kurse in Jura und Kriminologie belegt», sagt sie.

Als sie anfing, Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt  waren, in Frauenhäusern zu helfen, wurde ihr klar, wie viel Schmerz und Geld unserer Gesellschaft erspart bleiben, wenn Verbrechen nicht nur untersucht, sondern auch verhindert würden.

«Prävention ist wirklich harte Arbeit ‒ es ist schwierig, über die Blase derjenigen hinauszukommen, die bereits überzeugt sind, und sich mit den anderen zu beschäftigen», sagt sie.

Der Tag des sexuellen Bewusstseins erzielte gemischte Resultate: «Das interaktive Theater an der Universität Luzern war recht erfolgreich, aber wir wissen, dass an einigen Universitäten nicht viele Leute an den Veranstaltungen teilgenommen haben», räumt sie ein.

SWI swissinfo.ch nahm an einem von der Universität Genf organisierten runden Tisch teil, an dem nur sehr wenige Personen unter 30 Jahren anwesend waren, darunter zwei Männer.

Materni plädiert für eine Sensibilisierungsstrategie zum Thema sexuelle Belästigung, die weniger auf negative Emotionen und traurige Geschichten, sondern mehr auf positive Botschaften setzt. «Wenn wir ein breiteres Publikum, auch Männer, erreichen wollen, müssen wir Hoffnung und positive Ergebnisse für alle vermitteln», sagt sie.

Sie ist überzeugt, dass eine gleichberechtigtere Welt zu einem besseren Arbeitsumfeld führen kann, in dem jeder über seine Unsicherheiten sprechen kann, in dem Diskriminierung angesprochen und angemessen behandelt wird und in dem eine Kultur der Akzeptanz und des Dialogs herrscht.

Doch ebenso wichtig wie eine gute Kommunikationskampagne ist es, Entscheidungsträger und Führungskräfte davon zu überzeugen, geeignete Massnahmen zu ergreifen: «Fast alle Rektor:innen, die wir für die Videobotschaft der Kampagne kontaktierten, haben mit Begeisterung mitgemacht. Doch jetzt müssen wir sie in die Pflicht nehmen», sagt sie.

Die Botschaft forderte ein sichereres akademisches Umfeld und ein Ende der sexuellen Belästigung. Um dies zu erreichen, sind mehr Aktivismus, Lobbyarbeit und Vernetzung erforderlich.

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Valentina Gasser: Wandel durch Transparenz

Portrait von Valentina Gasser, lachend, stechend blaue Bluse
Valentina Gasser, 30 Jahre alt, PhD, ETH Zürich. Courtesy of

Valentina Gasser, 30 Jahre alt, ist eine Wissenschaftlerin mit schweizerischen, peruanischen und italienischen Wurzeln. Als Doktorandin der Chemie an der ETH Zürich war sie bis vor kurzem Vizepräsidentin der Society of Women in Natural Sciences (WiNS), einer Vereinigung von Frauen in der Wissenschaft an der ETH Zürich, welche die Entwicklung und Karriere von Frauen unterstützt.

Die Wissenschaft war schon immer Gassers Berufung: Auch ohne Vorbilder träumte sie als Kind davon, neue Medikamente zu entdecken. Dass sexuelle Belästigung zu einem Karrierehindernis werden könnte, hätte sie nicht erwartet.

Während ihres Doktoratsstudiums wurde Gasser mehrmals von einem älteren Wissenschaftler belästigt, sowohl am Arbeitsplatz als auch bei gesellschaftlichen Anlässen. Sie versuchte, sich gegen sexistische Witze und Anspielungen zu wehren und stellte den Täter zur Rede, «aber er wollte nicht zuhören, und ich fühlte mich von meinen Kolleg:innen im Stich gelassen», erinnert sie sich.

In der Hoffnung, Trost und Gehör zu finden, trat sie WiNS bei, einer Vereinigung, die sie als offen und respektvoll schätzt. WiNS wurde 2014 gegründet und bringt Wissenschaftler:innen aus den Fachbereichen Chemie, Biologie, Mathematik und Physik zusammen.

Der Verband bietet Karriere- und Netzwerkveranstaltungen an, die zunächst nur Frauen zugänglich waren. Seit Kurzem stehen die Veranstaltungen allen offen, und Gasser war eine der treibenden Kräfte hinter dieser Veränderung.

«Auf diese Weise können auch Männer erfahren, was Frauen und andere Minderheiten in der Wissenschaft durchmachen», sagt sie. Ihr bereitet die Tatsache Sorgen, dass es für viele Opfer schwierig ist, Fälle zu melden: «Es gibt keine Belohnung dafür, dass man sich zu Wort meldet ‒ und meist fliegt es auf.»

Ein Grund dafür liegt laut Gasser in den fehlerhaften und chaotischen Meldesystemen. Ein weiteres Problem sind die fehlenden Konsequenzen für die Täter. «Wir sollten die Diskussion von der Beschuldigung des Opfers auf die Schuld des Täters verlagern.»

Im vergangenen Januar trafen sich mehr als 50 Doktorandinnen, darunter auch Gasser, mit Mitgliedern der Schulleitung der ETH Zürich, um über die Herausforderungen zu sprechen, mit denen sie in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert sind.

Sie empfahlen Massnahmen, um unangemessenes und respektloses Verhalten an der Hochschule zu verhindern, zu überwachen und Einzelpersonen zur Verantwortung zu ziehen.

Sie plädieren für anonyme Meldungen, Geschlechterquoten für Professuren und Umfragen zur Überwachung des Themas sexuelle Belästigung. «Transparent sein, die richtigen Fragen stellen, sich trauen, das Problem anzuschauen – das ist unsere Forderung», sagt Gasser.

Sie hofft, dass das Institut auf diese Forderungen eingehen wird. Bis auf Weiteres will sie sich aber von der Front zurückziehen und sich auf ihre Forschung konzentrieren: «Ich möchte nicht, dass sich mein Leben nur noch um dieses Thema dreht», sagt sie.

Editiert von Virginie Mangin, aus dem Englischen übertragen von Michael Heger.

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