Wie Katar mit Hilfe der UNO-Arbeitsorganisation «Social Washing» betreibt
2017 zahlte Katar 25 Millionen US-Dollar an die Internationale Arbeitsorganisation, um Migrantinnen und Migranten im Land zu unterstützen. Die – legale – Praxis stellt die Unabhängigkeit der Organisation in Frage. NGOs kritisieren die Arbeitsbedingungen im Emirat schon lange.
Anfang Oktober treffen wir in Genf einen etwas enttäuschten Mann im Internationalen Konferenzzentrum, das nur wenige Schritte vom Palais des Nations entfernt ist. Abdoullah Zouhair ist heute internationaler Berater.
Bis Februar 2016 arbeitete er bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als Spezialist für Arbeitsrecht und internationale Arbeitsnormen. Zunächst in Beirut, später am Hauptsitz in Genf. Seinen Status hat uns die ILO bestätigt. Es ist wichtig, dies klarzustellen, weil danach die Aussagen voneinander abweichen.
«Lange Zeit gab es keinen Dialog zwischen dem International Labour Office [Generalsekretariat der ILO] und den Golfstaaten. Ich war es, der die Verbindungen aufbaute. Ich hatte bereits schwierige Fälle mit Katar gehandhabt», sagt Zouhair.
«Als auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf im Juni 2014 von Delegierten der Arbeitnehmenden eine Beschwerde gegen das Land eingereicht wurde, bat mich Doha im September 2014 dringend um einen ‹persönlichen und geheimen› Besuch.»
Am 12. Juni 2014 reichte der Generaldirektor der ILO eine Beschwerde gegen die Regierung von Katar wegen Verletzung des Übereinkommens Nr. 29 über Zwangsarbeit und des Übereinkommens Nr. 81 über Arbeitsaufsicht ein.
Laut der eingereichten Beschwerde sind in Katar rund 1,5 Millionen Wanderarbeitende von Zwangsarbeit betroffen. Ihre Arbeitsverträge werden bei ihrer Ankunft in Doha ersetzt und ihre Pässe beschlagnahmt. Einige werden sogar gezwungen, eine Provision zu bezahlen, die sie oft dazu treibt, «erhebliche Kredite mit hohen Zinsen aufzunehmen».
Zouhair versichert, dass er zwei Beamte des Generalsekretariats über seine Reise informiert habe, darunter die Leiterin der Abteilung für internationale Arbeitsnormen. Sie hätten sein Vorgehen gebilligt.
Mission in Katar im Januar 2015
Sein Besuch im Sommer 2014 in Katar endete mit einem Misserfolg. Denn die Katarer hätten, wie er sagt, keine wirksamen Massnahmen gegen Zwangsarbeit ergreifen wollen. Zouhair behauptet, dass er und zwei weitere ILO-Beamte, darunter namentlich die Spezialistin für Zwangsarbeit, bei der Bearbeitung des Katar-Dossiers übergangen worden seien.
Von da an stehen seine Aussagen im Widerspruch zu denen der UNO-Organisation. Luca Bormioli, Leiter der Personalabteilung der ILO, versichert, dass «Herr Zouhair niemals beauftragt wurde, im Namen der ILO über die Fussballweltmeisterschaft in Katar zu verhandeln».
Corinne Vargha, Leiterin der Abteilung für internationale Arbeitsnormen, behauptet, dass die erste Mission der ILO in Katar «im Januar 2015 stattgefunden hat». Der Bericht über diese Mission, die von Cleopatra Doumbia-Henry geleitet wurde, der damaligen Leiterin der Abteilung für internationale Arbeitsnormen, den uns die ILO zur Verfügung gestellt hat, nennt vier Namen, aber nicht den von Zouhair.
Dennoch kommt dieser Bericht vom 16. März 2015 zu denselben Schlussfolgerungen wie Zouhair. Darin heisst es, dass Katar angesichts der schweren Anschuldigungen keine wirksamen Massnahmen ergriffen habe, um der Zwangsarbeit ein Ende zu setzen.
«Bestenfalls ist die Regierung von der totalen Leugnung zur Verharmlosung des Problems übergegangen […] Im Ergebnis sind keine Fortschritte zu verzeichnen», stellen Delegierte aus mehreren im Bericht genannten Ländern fest.
Diese heftige Kritik findet jedoch im November 2017 ein abruptes Ende, als der ILO-Verwaltungsrat «angesichts der jüngsten bedeutenden Änderungen, welche die Regierung von Katar an ihrem Arbeitsrecht vorgenommen hat», beschliesst, seine Klage gegen das Emirat zurückzuziehen. Gleichzeitig genehmigt die ILO den Start «eines umfassenden Programms für technische Zusammenarbeit in Katar für drei Jahre».
Ein Geldsegen in Höhe von 25 Millionen Dollar
Erst im Juni 2022 enthüllte Abdoullah Zouhair auf einer Pressekonferenz mit der französischen Nachrichtenseite BlastExterner Link, dass das Datum November 2017 genau mit der Unterzeichnung eines Vertrags zusammenfiel, der vorsah, dass Katar 25 Millionen Dollar an die ILO zahlte.
Tatsächlich ist das zwischen der ILO und Katar unterzeichnete Abkommen weder illegal noch geheim und schon gar nicht einzigartig.
ILO-Arbeitsnorm-Spezialistin Vargha sagt dazu: «Einer der Finanzierungsmechanismen, die der ILO zur Verfügung stehen, ist unter dem Namen ‹Direkter/domestischer Treuhandfonds› (DDTF) bekannt. Dabei handelt es sich um die Zusammenarbeit mit Mitgliedstaaten, die der ILO finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um in ihren eigenen Ländern technische Hilfe zu leisten, zusätzlich zu der regelmässigen Unterstützung, welche die ILO aus ihrem eigenen Budget leisten kann.»
Das Budget in Höhe von 25 Millionen US-Dollar für einen Zeitraum von 2018 bis 2023 «umfasst Personal, Betriebskosten, Ausbildung, Forschung und Kommunikationsinstrumente».
Die ILO unterstütze nicht nur das katarische Arbeitsministerium, sondern «bietet Tausenden von Wanderarbeitenden Unterstützung in Rechtsfragen und beim Aktenmanagement», sagt Vargha.
Dieser DDTF wurde übrigens nicht speziell für das Emirat Katar eingerichtet. Zuvor hatte die ILO bereits mehr als 25 solcher «Deals» unterzeichnet, darunter mit Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien und Kuwait.
Diese Zahlungen an die ILO stellen jedoch die Unabhängigkeit der Organisation in Frage, da zahlreiche Medien und NGOs die Bedingungen der Bauarbeiter vor Ort angeprangertExterner Link haben. Der investigative Journalist Denis Robert, Gründer von Blast, wundert sich nicht selten über das Schweigen der Gewerkschaften innerhalb der ILO.
Denn im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen hat die 1919 gegründete ILO in ihrem Verwaltungsrat nicht nur 28 Mitglieder, welche die Regierungen vertreten, sondern auch je 14 Mitglieder von Seiten Arbeitgebender und Arbeitnehmender.
«Letztere [die Gewerkschaften] hätten sich mobilisieren müssen, um die skandalösen Arbeitsbedingungen der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Katar anzuprangern. Es gab jedoch nicht die geringste Reaktion von [namentlich] französischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern», beklagt er.
Kritik
Am 12. November 2018 fragte Antonio Amaniera, Moderator von Worldnewmedias.com, einer Website über Katar: «Kann die ILO noch von sich behaupten, dass sie international für soziale Gerechtigkeit eintritt, seit sie mit Katar zusammenarbeitet?»
Diese Kritik ist nicht neu. Seit ihrer Gründung wird die ILO angeprangert für ihre Bürokratie und die Unfähigkeit, vor Ort aktiv zu werden. Im September 2018 empörte sich die Unia, die grösste Schweizer Gewerkschaft, bereits darüber, dass ein Unternehmen, das mehr als 50% Zeitarbeitende beschäftigt, auf einer Baustelle des ILO-Generalsekretariats tätig ist. Die Unia forderte, dass das Generalsekretariat die Begrenzung der Zeitarbeit auf 10% in seine Ausschreibungen aufnimmt.
Sandrine Kott, Professorin für zeitgenössische europäische Geschichte an der Universität Genf, sagt: «Wenn ein Staat etwas tut, das im Widerspruch zu einem von ihm ratifizierten Übereinkommen steht, wie etwa das Übereinkommen über Zwangsarbeit, wird die Kommission zur Überwachung der Ratifizierung diesem Staat einen Bericht vorlegen. Aber ihre Handlungsmöglichkeiten sind gleich null.»
Wie geht es nach der WM weiter?
Seit den Interventionen der ILO hat Katar 2020 ein Gesetz über Mindestlöhne eingeführt. Als erstes Land in der Golfregion. «Die 1000 QR [Katarische Riyal] liegen um ein Drittel über dem vorherigen Mindestlohn, und das ohne die Zulagen für Verpflegung und Unterkunft. Mehr als 280’000 Arbeitnehmende, also 13 Prozent der Arbeitskräfte, haben von der Einführung des Mindestlohns und seiner effektiven Durchsetzung profitiert», sagt Max Tuñon, Leiter des ILO-Projektbüros in Doha.
Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter erhalten nun umgerechnet 280 Franken pro Monat. Wenn man Essen und Unterkunft hinzurechnet, steigt der Betrag auf 504 Franken. Der Leiter der ILO in Katar sagte gegenüber Le TempsExterner Link, dass immer noch viele ausländische Menschen in das Emirat kommen wollten, um dort zu arbeiten. Denn die Löhne und die Stabilität seien höher als in ihren Ländern.
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Gesetze auch nach 2023 eingehalten werden. Bereits im August letzten Jahres wurden ausländische Bauarbeiter, die es gewagt hatten, für ihre seit sieben Monaten ausstehenden Löhne zu demonstrieren, auf unbestimmte Zeit aus Katar ausgewiesen. Das berichtete die Nachrichtenseite France InfoExterner Link.
Editiert von Virginie Mangin
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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