Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Wir sehen den Bankrott eines Finanzcasino-Systems»

Männer auf dem Podium
Axel Lehmann, Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse, und Colm Kelleher, Präsident der UBS, anlässlich der Pressekonferenz am historischen 19. März 2023 in Bern. © Keystone / Peter Klaunzer

Für den Ökonomen Marc Chesney, Professor an der Universität Zürich, ist die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS eine schlechte Lösung. Sie zeige die Schwächen eines Systems, das den Bankrott systemrelevanter Banken eigentlich verhindern sollte.

Marc Chesney nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über die am Sonntag angekündigte Übernahme der Credit Suisse durch die UBS spricht, die Nummer eins der Schweizer Banken.

Der Professor für quantitative Finanzwissenschaft an der Universität Zürich und Autor des Buches «Die permanente Krise» kann kaum verstehen, wie es so weit kommen konnte. «Letztendlich sind es die Steuerpflichtigen, die in dieser ganzen Angelegenheit zahlen und weiterzahlen werden», sagt er.

swissinfo.ch: Wir haben gesehen, dass alle Garantien, die seit der Subprime-Krise von 2008 im Finanzsystem installiert wurden, innerhalb einer Woche in die Brüche gegangen sind. Was sollten wir aus den Ereignissen lernen?

Marc Chesney: Es ist ein wirtschaftlicher und politischer Bankrott. Letzte Woche liess uns die Nationalbank wissen, dass die Situation weitgehend unter Kontrolle sei und die Credit Suisse über genügend Liquidität und Eigenkapital verfüge.

Keine Stunde später verlangte die CS bei der Nationalbank 50 Milliarden Franken, und dann dauerte es nur ein paar Tage bis bekannt wurde, dass das Institut kurz vor der Insolvenz steht.

Kopf eines Mannes, der lacht
Finanzmarkt-Spezialist Marc Chesney kritisiert nicht nur die Bankmanager, sondern auch die Politiker:innen und die Finanzmarktaufsicht. Sie hätten seit der Rettung der UBS mit Staatsgeldern 2008 zu wenig gemacht, damit sich das Worst-Case-Szenario nicht wiederholen könne. swissinfo.ch

Das ist nicht vertrauensbildend und verstärkt nur die gefährliche Logik der «Too big to fail»-Banken: Nach dieser Übernahme haben wir in der Schweiz noch einen Finanzkoloss. Was wird das nächste Mal passieren, wenn die UBS wie 2008 in einer schwierigen Lage ist? Wer wird die UBS kaufen? Eine Kantonalbank? Wohin genau gehen wir?

All dies geschieht auf Kosten der Steuerzahlenden, die die Risiken tragen. Die Garantien, die der UBS indirekt über die Nationalbank gewährt werden, sind enorm. Das geht eindeutig in die falsche Richtung.

Und ich frage mich: Was haben die Politiker:innen in den letzten 15 Jahren getan? Was passiert ist, ist extrem enttäuschend. Das «Too big to fail»-Bankengesetz hat die Situation nicht bereinigt, sondern die Konzentration im Bankensektor beschleunigt.

Ist diese Konzentration wirklich die Ursache des Problems?

Ja, denn sobald man es mit sogenannten systemischen Institutionen zu tun hat, sind die Anreize klar: Es geht darum, auf Kosten der Steuerzahler:innen immer mehr Risiken einzugehen.

Denn wenn es nicht gut läuft, haben die verursachenden Manager:innen nichts zu befürchten, da die Steuerzahler:innen in letzter Instanz die Risiken tragen.

Und wie wir am Sonntag [bei der Pressekonferenz zur Übernahme der Credit Suisse durch die UBS] gesehen haben, wurde die Frage der Verantwortung der Führungskräfte der Credit Suisse nicht behandelt.

Wir hatten es mit Leuten zu tun, die Millionen und Abermillionen von Franken an Boni erhalten haben. Dann sind sie verschwunden.

Ich bin kein Jurist, aber die Frage nach der Verantwortung stellt sich doch, oder? Diese Personen berufen sich regelmässig auf die Verantwortung und die Leistung ihrer Mitarbeitenden, was ist ihre eigene? Ihre Leistungen sind durch und durch negativ. Und sie übernehmen keine Verantwortung.

Wie steht es mit der Tatsache, dass die Aktionäre nicht gefragt wurden und der Verkauf mit Gewalt durchgesetzt wurde? Könnten die Saudis, die so viel in die Bank investiert haben, dass sie zu Mehrheitsaktionären wurden, eine Klage einreichen?

Die Frage ist: Sind wir über alles informiert? Es gab wahrscheinlich Kontakte zwischen den beiden Nationalbanken, der SNB und der Saudi National Bank.

Entsprechend lässt sich derzeit nicht sagen, ob die Saudi National Bank beispielsweise rechtliche Schritte einleiten wird.

Ihre Strategie bestand darin, die Gelegenheit zu nutzen, um zu einem sehr niedrigen Preis einen Fuss in die Tür einer grossen Schweizer Bank zu bekommen. Das Problem ist, dass diese Bank in Konkurs gegangen ist. So wurde aus dem vermeintlich guten Geschäft ein sehr schlechtes.

Die Saudi National Bank hätte die Situation ernsthaft analysieren müssen. Ich erinnere mich an eine der Erklärungen aus Saudi-Arabien, insbesondere von der Saudi National Bank, in der es hiess, dass sie dem Management der Credit Suisse vertraue. Das hätten die Saudis offensichtlich nicht tun sollen.

Wie wird es mit dem Namen Credit Suisse weitergehen, oder wird er verschwinden wie der frühere Schweizerische Bankverein nach der Fusion mit der UBS im Jahr 1997?

Kurzfristig wird der Name weiter existieren. Danach wird die UBS darüber entscheiden. Der Name ist in der Schweiz mit einer Geschichte verbunden. Alfred Escher muss sich im Grab umdrehen, wenn er sieht, was aus der Bank geworden ist, die er [1856] gegründet hat.

Als in Frankreich die Banque Agricole die Bank Crédit Lyonnais aufkaufte, blieb deren Name erhalten. Letztendlich wird es jedoch die UBS sein, die darüber urteilt.

Hat sich die Lage in der globalisierten Finanzwelt durch die Übernahme etwas beruhigt?

Das ist alles sehr kurzfristig. Noch am Donnerstag beruhigten sich die Dinge mit der Finanzspritze von 50 Milliarden Franken, am Freitag wurde bekannt, dass die Credit Suisse am Rande des Bankrotts steht.

Wir haben es mit einem Finanzcasino-System zu tun: Sie haben Akteure, die mit dem Geld der Steuerzahlenden pokern. An einem Tag gewinnen sie, an einem anderen Tag verlieren sie. Aber am Ende trägt die Allgemeinheit die Kosten. Dieses Mal war es die Credit Suisse, vor zwei Wochen war es die Silicon Valley Bank in den USA.

Was wir beobachten, ist, dass die spärlichen Regulierungen, die nach der Krise von 2008 eingeführt wurden, tendenziell verwässert wurden, was übrigens die Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ab 2016 bewusst getan hat.

Grossbanken sind «Black Boxes»: Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht über die Risiken informiert, die von den sogenannten «Too big to fail»-Banken ausgehen.

Und wenn die Informationen fliessen, ist alles schon vorbei und entschieden, wie wir am Sonntagabend gesehen haben. Es fehlt an Transparenz, wir wissen nicht, wohin die Reise geht.

Es sollte Vertreter:innen der Steuerzahlenden in den Vorständen dieser systemrelevanten Institutionen geben. Damit das klar ist: Nicht vom Staat, denn der Staat hat versagt. Aber die Steuerzahlenden können nicht Risiken tragen, ohne an der Entscheidung beteiligt zu sein. Das ist schlichtweg skandalös.

Ist Ihrer Meinung nach das gesamte Finanzsystem in Frage zu stellen?

Für mich ist der Bankrott der Credit Suisse kein singuläres Ereignis, sondern der Bankrott eines Finanzcasino-Systems. Es ist der Bankrott der Politik, die 15 Jahre lang nichts oder zumindest nichts Ernsthaftes unternommen hat. Und es ist auch der Bankrott der Lehre im akademischen Bereich des Finanzwesens.

Ich habe schon seit langem Meinungen in Zeitungen in der Schweiz veröffentlicht, um auf die Risiken im Zusammenhang mit der Credit Suisse aufmerksam zu machen. Ich gehöre zu einer sehr kleinen akademischen Minderheit. Diese Passivität der akademischen Welt ist problematisch.

Inwiefern genau ist die akademische Welt für dieses Fiasko verantwortlich?

Abgesehen von einigen Ausnahmen haben sich die Schweizer Bankenexpert:innen kaum kritisch geäussert. Als es um Covid ging, haben sich Professor:innen und Mediziner:innen hingegen oft geäussert. Man konnte mit ihnen übereinstimmen oder nicht, aber man hat sie wahrgenommen.

In dieser Hinsicht sind die Finanzlehrenden ziemlich zurückhaltend. Ich würde das gerne verstehen. Universitätsprofessorinnen und -professoren in der Schweiz werden vom Steuerzahlenden gut bezahlt, um Situationen kritisch zu analysieren und Lösungen vorzuschlagen.

Aber es gibt auch Finanzinstitute, die bestimmten Professor:innen zusätzliche Gehälter gewähren. Wenn man indirekt von der Credit Suisse bezahlt wird, neigt man natürlich weniger dazu, sie zu kritisieren.

Sie stehen der Übernahme ausnehmend kritisch gegenüber. Warum begrüssen Länder wie die USA und Frankreich die Entscheidungen?

In diesen Ländern kommen die Erklärungen derzeit von den Investor:innen. Ich vertrete in diesem Fall die Steuerzahlenden.

Die Erklärungen der Finanzwelt zielen darauf ab, die Investor:innen zu beruhigen. Lehrende in diesem Bereich müssen die Situation objektiv analysieren und schildern, wie ernst die Lage ist und welche Massnahmen nötig sind.

Je mehr man hört, dass die Situation unter Kontrolle ist, desto mehr Zweifel müssen aufkommen. Das hat sich vor zwei Wochen wieder gezeigt, als US-Präsident Joe Biden sagte, dass alles unter Kontrolle sei. In der Schweiz sagte die Nationalbank am Mittwoch und Donnerstag das Gleiche…

Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft