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«Wirtschaft soll zugunsten der Menschen arbeiten»

In Lateinamerika leben 111 Millionen Menschen unter prekären Verhältnissen. AFP

1998 machte Lateinamerika eine Kehrtwendung von 180 Grad. Venezuela schaute nach links, und eine ganze Reihe von Ländern folgte dem Land. Verstaatlichungen waren Teil der umstrittenen Massnahmen.

Heute sind die Volkswirtschaften des Kontinents beneidenswert stabil, doch 3 von 10 Menschen leben in Armut. 

Für die Schweiz ist Lateinamerika ein noch zu erforschender Markt. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) exportiert sie nur 2,9 % der Gesamtausfuhren in diese Region.

Das Verstaatlichungsmodell

Nach Venezuela machten auch Chile, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Peru, Nicaragua und Paraguay einen Linksrutsch, wobei jedes Land seine eigene Strategie zur Stärkung der Rolle des Staates anwandte. 

Mexiko und Kolumbien waren die einzigen grossen Volkswirtschaften, die auf den Neoliberalismus mit ein paar sozialen Anstrichen setzten. 

Venezuela und Bolivien hingegen schwangen sich zu den Verfechtern der Verstaatlichungspolitik auf, die nationale vor ausländische Interessen setzt. 

«Lateinamerika besitzt ein gemeinsames Merkmal», sagt der Akademiker der Universität Zürich Christopher Humphrey gegenüber swissinfo.ch: «Es verfügt über grosse Rohstoffvorkommen, die oft der Versuchung von nicht nach aussen gerichteten Entwicklungsmodellen unterlagen. Doch jedes Land ist anders, und man kann nicht verallgemeinernd von der Linken sprechen.» 

Sein Optimismus ist gedämpft im Hinblick auf die Zukunft des Landes, das als Eckpfeiler dieser Politik gilt: «Anfänglich unterstützten die Venezolaner Chávez, als sie zwar gegen die herrschende Korruption, nicht aber gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik stimmten. Doch inzwischen ist die Situation vielschichtiger. Es bestehen verschiedene Wechselkurse, ein Schwarzgeldmarkt, Inflation und Negativanreize für die Produktion. Aber solange es Erdöl gibt, wird die Wirtschaft vorankommen können.» 

Seine Einschätzung Boliviens ist nuancierter: «Präsident Morales hat Kohle, Gas und andere Sektoren verstaatlicht, vertritt aber eine orthodoxe Geld- und Fiskalpolitik. Zudem geniesst er die Unterstützung des IWF, und das Land hat eine niedrige Staatsschuld.» 

Chile ist für ihn ein erfolgreiches Beispiel: «Auch wenn dies im Wesentlichen der Kupfer- und Fischereiindustrie zu verdanken ist, gelang es dem Land, seine Wirtschaftspolitik und Einnahmen gut zu managen.» Und Brasilien ist eine solide aufsteigende Wirtschaftsmacht, «die sogar Flugzeuge für den Export herstellt.»

Vor- und Nachteile

Die Liste der Enteignungen in Lateinamerika der vergangenen Jahre ist lang, doch nur zwei grosse Schweizer Unternehmergruppen waren betroffen: Glencore mit der Verstaatlichung von 3 Unternehmen in Bolivien (2006, 2010, 2012) und Holcim in Venezuela (2008). 

Schweizer Beobachter bewerten Verstaatlichungen unterschiedlich. Karl Frei, ehemaliger Direktor der UBS in Mexikom, erklärte gegenüber swissinfo.ch, dass Enteignungen von einem falschen Prinzip ausgingen: «Wenn ungerechte Verträge bestehen, müssen diese überprüft werden. Aber aus politischen oder populistischen Gründen zu verstaatlichen, das sollte nicht akzeptiert werden.» 

Der Gründer der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, Bruno Rütsche, weist auf deren sozialen Hintergrund hin: «Es geht nicht um Verstaatlichung der Verstaatlichung willen, sondern um die Forderung, dass die Wirtschaft im Dienst der Menschen steht.»

Eine wirtschaftlich einträgliche Region

Aus unternehmerischer Sicht ist Lateinamerika ein rentabler, aber von der Schweiz kaum ausgenützter Markt. Laut der vom Seco veröffentlichten Studie «Schweiz-Lateinamerika – Bericht über bilaterale Beziehungen 2012» verzeichnete die Region im vergangenen Jahr ein Wachstum von 4,5%. 

Die herausragendsten Volkswirtschaften waren Argentinien (8,9%) und Chile (6%) gefolgt vom Wirtschaftsriesen Brasilien mit 2,7%. Zum Vergleich: die europäische Musterschülerin Schweiz wuchs in derselben Periode um 1,9%.

Zur Wichtigkeit Lateinamerikas für die Schweiz meint Philippe Nell, Vorsteher der Abteilung Amerika beim Seco, gegenüber swissinfo.ch: «In den letzten 20 Jahren haben die Schweizer Exporte nach Lateinamerika um 154% zugenommen. Es ist jedoch anschaulicher zu beachten, dass die Exporte von 2,7 auf 2,9% des Gesamtvolumens zugenommen haben oder anders gesagt, Schweizer Firmen ihre Stellung etwas verbessert haben.»

Mehr Verantwortung

Einige vertreten die Meinung, dass die Schweiz als Gegenleistung für den wirtschaftlichen Nutzen gegenüber Lateinamerika mehr Verantwortung tragen sollte. Sie bemängeln, dass die Wirtschaft zum Nachteil von Problemen wie Menschenrechte oder Frieden ein immer grösseres Gewicht habe. 

Die Schweizer Regierung ist anderer Meinung. Pietro Piffaretti, Koordinator für Lateinamerika im Aussenministerium, erklärt gegenüber swissinfo.ch, dass «Wirtschaftsinteressen immer ein wichtiger Teil der Schweizer Aussenpolitik gegenüber Lateinamerika waren». 

Aber er betont auch, dass die Schweiz ihr Engagement für Entwicklungszusammenarbeit und menschliche Sicherheit aufrecht erhalte. Weiter versichert er, dass Bern seine Beziehungen zu den verschiedenen Ländern entsprechend den Fortschritten und Veränderungen in der Region unterschiedlich gestalte. 

Piffaretti erwähnt auch Herausforderungen wie soziale Ungleichheit, Korruption und organisiertes Verbrechen, die Lateinamerika in den Griff bekommen müsse. 

Doch schlussendlich muss die Region inmitten ihrer anhaltenden Ausgelassenheit das wichtigste Problem lösen: Dass jeder Mensch jeden Tag das Notwendige zum Essen und zum Leben hat. Der Weg dahin ist noch weit.

Venezuela

Erdöl (u.a.Exxon Mobil, Conoco Philips, Chevron, BP, Statoil, Total). 

 
Schweizer Zementunternehmen Holcim (2008). Nach einem internationalen Schiedsspruch von 2010 wurde die bis Ende 2012 zu bezahlende Entschädigung auf 650 Mio US$ vereinbart.

Bolivien

U.a. Repsol und BP, Telefónica, Pan Amereican Energy.

Die schweizerische Glencore mit Vinto (2008), Vinto-Antimonio (2010) und 2012 das Zinn- und Zinkberwerk Colquiri. Bolivien verweigert eine Entschädigung, da Glencore die versprochenen Investitionen nicht getätigt habe.


Argentinien

YPS-Repsol (2012) 

Das Seco erklärte gegenüber swissinfo.ch, Enteignungen führten zu einer isolationistischen Politik.

Die Direkt-Investitionen der Schweiz in Lateinamerika und der Karibik belaufen sich auf 140 Mrd. Franken oder 16% der gesamten Auslandinvestitionen und schaffen 251´000 Arbeitsplätze.

Ungefähr 60´000 bzw. 10% der Auslandschweizer leben in der Region.

Von der Schweiz unterstützte Projekte:

Kolumbien: humanitäre Hilfe, Menschenrechte, friedensaufbauende Massnahmen.

Zentralamerika und Bolivien: Entwicklungszusammenarbeit.

Andenstaaten: Klimawandel. 

(Quelle: Schweizer Aussendepartement)

1980

lebten 40,5% der Bevölkerung Lateinamerikas in Armut oder unter der Armutsgrenze. 

1990

nach dem verlorenen Jahrzehnt der Verschuldungskrise waren es 48,4%.

2000

sank diese Ziffer dank der orthodoxen Finanzpolitik

neoliberaler Regierungen

auf 43,8%.

2010

betrug die Zahl in der Folge der Machtübernahme progressiver und linker Regierungen noch

31,4%.


Zwischen den verschiedenen Ländern bestehen allerdings abgrundtiefe Unterschiede.

 
(Quelle: Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL))

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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