«Wirtschafts- und Vertrauenskrisen stärken Demokratie»
Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders, Nigel Farage, Beppe Grillo, Viktor Orban; Jaroslaw Kaczynski. Oder der Schweizer Christoph Blocher: Stehen die Populisten für eine Systemkrise der Demokratien? Wie mit ihnen umgehen? Hanspeter Kriesi, der erfahrenste Schweizer Politikwissenschaftler, im Interview.
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swissinfo.ch: Zum überraschenden Brexit-Entscheid der Briten trug wesentlich eine frei erfundene Zahl bei, nämlich jene, dass Grossbritannien Brüssel 350 Mio. Pfund überweist – pro Woche. Wie konnten die populistischen EU-Gegner das Plebiszit von solch grosser Tragweite mit solch einer Lüge gewinnen?
Hanspeter Kriesi: Die Zahl war zwar falsch, aber ich bezweifle, ob sie entscheidend war. Die Abstimmung wurde nicht aufgrund dieser oder anderer Lügen gewonnen. Die Briten inklusive die Eliten waren schon immer EU-skeptisch. Entscheidend war, dass die Regierungspartei der Tories unter sich gespalten war.
swissinfo.ch: Ist es eine Gefahr für die Demokratien, die wesentlich auf Vertrauen in Amtsträger und Institutionen bauen, wenn Politiker mit Fake News operieren?
HP.K.: Es ist problematisch, wenn in demokratischen Kampagnen irgendetwas behauptet wird. Das ist aber nichts Neues. Bei der Abstimmung in der Schweiz 2014 über die Initiative «gegen Masseneinwanderung» etwa war sonnenklar, dass sie inkompatibel ist mit der Personenfreizügigkeit der EU. Trotzdem haben es die Initianten der Schweizerischen Volkspartei, als Selbstverständlichkeit hingestellt, dass ihre Initiative kompatibel sei.
Heute behauptet SVP-Chefstratege Christoph Blocher, dass die Stimmbürger damals gewusst hätten, dass die Initiative inkompatibel sei mit der Personenfreizügigkeit.
swissinfo.ch: 1992 hatte Blocher das Schweizer Stimmvolk zum Nein zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geführt, dem Vorläufer der EU. War das die Geburtsstunde des Rechtspopulismus in der Schweiz?
HP.K.: Ja, der Aufstieg der SVP in der Schweiz hat mit dieser Abstimmung begonnen. Im Gegensatz zu anderen rechtspopulistischen Parteien hat die SVP zuerst aber nicht gegen Einwanderung mobilisiert, sondern gegen die EU. Bereits 1986 mobilisierte sie übrigens gegen den UNO-Beitritt der Schweiz, allerdings erfolglos. Mit ihrer Kampagne gegen den EWR hatte sie dann gewonnen, wenn auch äusserst knapp. Erst danach hat sie das Thema Immigration entdeckt, und noch einmal später den Islam.
Es ist nicht zufällig, dass die Rechtspopulisten in Europa entlang dieser thematischen Zwillinge europäische Integration und Migration mobilisieren. Denn sie rufen auf zur Verteidigung des Nationalstaates. Die nationale Souveränität und Kultur muss gegen Multikulturalismus, europäische Integration und Globalisierung verteidigt werden.
swissinfo.ch:. Wird die Schweiz in Europa als Vorreiterin in Sachen Rechtspopulismus wahrgenommen.
HP.K.: Der Trend des Populismus hatte Anfang der 1980er-Jahre mit dem Front National in Frankreich begonnen. 1992 begann wie erwähnt der Aufstieg der SVP in der Schweiz. Sie spielt in diesem Zusammenhang aber keine Vorbildrolle. Diese kommt dem Front National zu.
swissinfo.ch: In Frankreich endeten die Präsidentschaftswahlen für die beiden bisherigen Regierungsparteien in einem Fiasko – zusammen kamen sie gerade noch auf einen Viertel der Stimmen. Sind die Tage der traditionellen Volksparteien gezählt zugunsten von Bewegungen wie Macrons «En Marche!»?
HP.K.: Im Unterschied zu anderen Ländern sind die Parteien in Frankreich generell schwach. In der Schweiz sind sie viel stärker und konsolidierter. Diese relative Volatilität der französischen Parteien ist nichts Neues. Die Gaullisten beispielsweise hatten den Namen ihrer Partei immer wieder geändert. Speziell ist jetzt aber das Ausmass ihrer Probleme. Es kann sein, dass Macrons Bewegung zu einer neuen Mitte-Links-Partei wird, welche die sozialistische Partei ablöst.
Hanspeter Kriesi
Der 67-Jährige zählt zu den renommiertesten Politikwissenschaftlern der Schweiz.
Seit 2012 Professor für vergleichende Politik am European University Institute in Florenz/Italien.
2005-2012 Direktor des Forschungsprogramms «Herausforderungen für die Demokratien im 21. Jahrhundert» des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Davor Professor u. a. an den Universitäten von Amsterdam, Genf, Cornell, Berlin und Zürich.
swissinfo.ch: Droht den Parteien in der Schweiz ähnliches?
HP.K.: Neue Bewegungsparteien haben es in der Schweiz schwerer als in anderen Ländern. Die beiden letzten Beispiele waren die Grünen und die SVP. Erstere spalteten sich in Grüne und Grünliberale auf. Letztere aber hat praktisch den gesamten Rand der rechtsradikalen Parteien und Gruppierungen aufgesogen. Damit hat sich die SVP zur grossen rechtsradikalen Bewegungspartei gewandelt, die sehr grosse Erfolge einfährt. Als Folge hat sich das Parteiensystem eher konsolidiert als fragmentiert.
swissinfo.ch: Deutschland ist eine robuste Demokratie mit robuster Wirtschaft, aber mit äusserst radikaler Rechtsopposition gegen Kanzlerin Angela Merkel und ihre CDU wie auch gegen die Sozialdemokraten. Können wir von einer Systemkrise sprechen, die ihre Ursache in der Banken- und Finanzkrise 2007/09 hat, wie dies einige sehen?
HP.K.: Ich stelle infrage, dass wir in einem Land wie Deutschland überhaupt eine Systemkrise haben. Die Parteien waren schon lange nicht mehr die vertrauenswürdigsten Organisationen, und das nicht nur in Deutschland. Aber in Deutschland ist weder die Zufriedenheit der Bürger mit der Demokratie zurückgegangen noch das Vertrauen in die Regierung.
In Nordwesteuropa ist die Demokratie-Zufriedenheit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise generell nicht betroffen worden. Denn die grossen Parteien haben die Europa-Skepsis und die Ablehnung der Einwanderung und des Islam von der Rechtsopposition nicht übernommen. Ein grosser Vertrauensverlust zeigt sich dagegen vor allem in Südeuropa.
swissinfo.ch: Italien steht für eine Demokratie in der politischen Dauerkrise. Matteo Renzi war mit seiner Verfassungsreform wie auch als Premier – grandios gescheitert – er wollte die Regierbarkeit durch die Verkleinerung des Senats verbessern. Zuvor war es zig Vorgängern gleich ergangen, inklusive Berlusconi. Gibt es so etwas wie eine hoffnungslose Demokratie?
HP.K.: Es sieht in Italien in der Tat manchmal hoffnungslos aus. Aber ich muss einen Punkt korrigieren: Als Premier ist Renzi nicht grandios gescheitert. Seine Regierung hat mehr Reformen durchgeführt als alle Vorgänger-Regierungen zusammen. Und dies trotz grossen institutionellen Hindernissen.
Italien hat ein absolut symmetrisches Parlamentssystem, in dem beide Kammern genau dieselben Kompetenzen haben. Renzis Partei hatte nur in der ersten Kammer die Mehrheit, nicht im Senat, was natürlich die Durchsetzung von Reformen seiner Regierung erschwerte.
swissinfo.ch: Gibt es einen Ausweg?
HP.K.: Ein Ausweg wäre tatsächlich die Annahme des Referendums gewesen. Es hätte ermöglicht, dass das System effizienter hätte funktionieren können. Aber das Problem oder das Hoffnungslose an der italienischen Demokratie ist, so meine Vermutung, dass die Bürger gar nicht wollen, dass die Politik effizienter funktioniert. Sie haben lieber ein System, das nicht funktioniert, als eines, das ihnen effizient sagt, was sie zu tun haben.
swissinfo.ch: Die «frischen» Gesichter der Fünf-Sterne-Bewegung von Ex-Komiker und Populist Beppe Grillo, die in Italien die Parteien überflügelt hat, machen es teils keinen Deut besser. Was ist das Problem populistischer Bewegungen, wenn ihre Leute Wahlen gewinnen und auf Machtpositionen kommen?
HP.K.: Gute Frage. Populistische Bewegungen funktionieren besser als Oppositionsbewegungen. Sind sie an der Macht, haben sie oft Probleme zu beweisen, dass sie es besser können. Trump läuft diesbezüglich täglich auf.
Die Fünf-Sterne-Bewegung regiert zwei grosse Städte Italiens. In Turin funktioniert es nicht schlecht, in Rom dagegen tatsächlich nicht. Doch war dies in der Hauptstadt schon vorher so, weil sie sehr schwer regierbar ist.
swissinfo.ch: In Österreich hatte Wolfang Schüssel als Bundeskanzler die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) in die Regierungsverantwortung genommen. Was ist das bessere Rezept zur Bändigung des Populismus: Dessen Einbindung in die Macht oder die Ausgrenzung, wie sie Merkel, ihre CDU und die SPD in Deutschland praktizieren?
HP.K.: Auch die Schweiz hat die SVP integriert – diese sitzt seit Jahrzehnten in der Regierung. In Holland wurde eine Minderheitenregierung durch die Partei Geert Wilders gestützt. Dasselbe geschah während zehn Jahren in Dänemark. In Finnland sind die «True Finns» in der Regierung, ebenso die Populisten in Norwegen.
Es gibt also zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass es nicht schlecht funktioniert, wenn man Rechtspopulisten in die Regierung aufnimmt. Ich vermute, dass die rechtspopulistischen Bewegungen zu normalen Parteien werden, denn sie vertreten ein wichtiges Anliegen der Bevölkerung. In vielen Punkten, die nicht ihre Kernanliegen betreffen, kann man problemlos mit ihnen zusammenarbeiten.
swissinfo.ch: Gilt das überall?
HP.K.: Entscheidend dafür ist das demokratische System: Den oben genannten Konsensdemokratien stehen Mehrheitsdemokratien gegenüber. Dazu zählen Frankreich, Grossbritannien oder neuerdings auch Polen und Ungarn. Dort geht es nicht um die Frage einer Zusammenarbeit mit den Populisten als Partner. Sondern darum, ob diese die Wahlen gewinnen und damit die Macht erhalten, alleine zu regieren.
In Frankreichs Stichwahl ging es um alles oder nichts. In Ungarn und Polen sind Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski keine tollen Erfahrungen. Trotzdem sind es Demokraten, die sich von einer Mehrheit wählen lassen und nicht durch Gewalt an die Macht gekommen sind. Aber sie haben illiberale Vorstellungen von Demokratie: Sie pochen auf der Mehrheit, Minderheiten werden nicht geschützt. Ebenso wenig Pluralismus, also unterschiedliche Ideen und Meinungen, und Opposition wird niedergemacht.
Gewaltentrennung ist für sie ein grosses Problem, sie bekämpfen die Justiz und die kritischen Medien. Und sie versuchen, Nichtregierungs-Organisationen für illegal zu erklären. Ungarn schliesst sogar Universitäten. Das Problem besteht darin, dass sich diese Führer einzig auf das demokratische Prinzip der Wahl durch eine Mehrheit stützen. Dabei blenden sie aus, dass Wahlen offene Meinungsbildungsprozesse beinhalten, dass Minderheiten einbezogen und richterliche Schranken beachtet werden müssen.
Das Problem sind also die Populisten in Präsidialsystemen und parlamentarischen Systemen, die stark auf eine Mehrheit ausgerichtet sind. Die Populisten verletzten die liberalen Prinzipien der Demokratie, indem sie sich auf das demokratische Prinzip berufen
swissinfo.ch: Die US-Historikerin und Publizistin Anne Applebaum sieht in der Gegenwart Parallelen zu den 1930er-Jahren. Dies auch aufgrund des Populismus. Sie befürchtet gar einen neuen Krieg. Teilen Sie solchen Pessimismus?
HP.K.: Ich bin optimistisch. Die Europäer mögen unzufrieden sein mit der Demokratie, die sie haben. Aber sie sind sehr stark verbunden mit den demokratischen Prinzipien. In Spanien hat sich gezeigt, dass je unzufriedener die Menschen mit der Wirtschaft und der Regierung sind, desto stärker verlangen sie das Hochhalten der demokratischen Prinzipien. 2011, auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Krise, entstand eine Bewegung, die Indignados. Diese «Unzufriedenen» verlangten «real democracy now!», also «wirkliche Demokratie jetzt!».
In einer Untersuchung konnten wir zeigen, dass je schlechter es in einem Land wirtschaftlich geht und je unzufriedener die Menschen mit der Regierung sind, desto stärker pochen sie auf den demokratischen Prinzipien.
swissinfo.ch: Populismus als Mittel zur Revitalisierung der Demokratien?
HP.K.: Die Herausforderung durch die Populisten zwingt die Eliten, sich ebenfalls als Verteidiger ihrer Werte zu profilieren. Typischerweise vorgemacht hat dies Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron, der pro-europäische Anliegen vertritt – er ist der beste Europäer. Stellen Sie sich vor, Martin Schulz wird im Herbst Deutschlands neuer Bundeskanzler – als früherer Präsident des EU-Parlamentes.
Gleichzeitig gehören der EU-Kommission Köpfe an wie Pierre Moscovici, die eine Vision haben, wie Europa stärker integriert werden soll. Aus der gegenwärtigen Krise Europas könnte in nicht allzu ferner Zeit eine Entwicklung zu einem Schritt nach vorne stattfinden. Dazu allerdings müssten die pro-europäischen Eliten ihre Vision besser erklären.
Der Autor auf Twitter: @RenatKuenziExterner Link
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