Schweizer Strafnorm gegen Korruption soll mehr Biss erhalten
Seit 2003 wurden in der Schweiz nur sieben Unternehmen wegen Verstosses von Artikel 102 des Strafgesetzbuches verurteilt. Dieser Artikel kommt in Fällen von Korruption oder Geldwäscherei zur Anwendung. Seit einigen Jahren ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen mehrere Banken. Die Zahl der Ermittlungen steigt, Verurteilungen sind immer noch rar gesät.
Credit Suisse, Lombard Oldier, BSI, Falcon, PKB, Hottinger: Gegen alle diese Schweizer Banken ermittelt die Schweizerische Bundesanwaltschaft (BA).
Die Unternehmen werden des Verstosses gegen Artikel 102 des Strafgesetzbuches verdächtigt. Dieser Artikel erlaubt es, ein Unternehmen (und somit keine natürliche Person) zu verurteilen, «wenn dem Unternehmen vorzuwerfen ist, dass es nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen getroffen hat», um gewisse Straftaten zu verhindern, beispielsweise Korruption oder Geldwäscherei.
Die genannten Banken, für welche die Unschuldsvermutung gilt, werden verdächtigt, organisatorische Mängel in einigen Fällen von Wirtschaftskriminalität aufzuweisen, etwa im Skandal um die malaysische 1MDB (1Malaysia Development Berhad) oder das brasilianische Mineralölunternehmen Petrobras.
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Im Zusammenhang mit Petrobras wird gegen die Privatbank PKB ermittelt, sowie gegen ein weiteres Finanzinstitut, dessen Identität nicht bekannt ist. Dies bedeutet, dass die BA mindestens sieben Schweizer Banken im Visier hat. Dazu gesellt sich noch Gunvor, eine Rohstoff-Handelsgesellschaft aus Genf, die in eine Korruptionsaffäre in Afrika verstrickt ist.
«Seit 2007 haben wir gut ein Dutzend Strafermittlungen in Anwendung des Artikels 102 eröffnet», erklärte Bundesstaatsanwalt Patrick Lamon an einem Studientag zur strafrechtlichen Verantwortung von UnternehmenExterner Link, der Anfang Februar 2019 an der Universität Lausanne stattfand.
Lamon ist bei der BA genau für diesen Bereich zuständig. Und er hat betont, dass die BA gewillt ist, auf Grundlage dieses Artikels systematischer gegen Banken und Unternehmen zu ermitteln: «Vor drei Jahren hat die BA eine interne Struktur installiert – die so genannte Gruppe 102 – mit der Absicht, die laufenden Verfahren im Sinne einer einheitlichen Doktrin zu koordinieren.»
An der Fachtagung in Lausanne nahmen Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Juristen von Unternehmungen teil. Das Interesse war gross. Denn die Strafbarkeit von Unternehmen im Sinne des Artikels 102 StGB lässt diverse juristische Fragen und Verfahrensfragen offen.
Urteile per Strafbefehl
Alstom Network Schweiz war die erste Unternehmung, die in der Schweiz für organisatorische Mängel in Anwendung von Artikel 102 StGB verurteilt wurde. Das war im Jahr 2011. Das Unternehmen wurde via Strafbefehl zu einer Busse von 2,5 Mio. Schweizer Franken und zu einer Ersatzforderung von 36,4 Mio. Schweizer Franken verurteilt.
Alstom Network Schweiz AG wurde schuldig erklärt, «nach Inkrafttreten von Art. 102 StGB (im Oktober 2003) nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen zu haben, um Bestechungszahlungen an fremde Amtsträger in Lettland, Tunesien und Malaysia zu verhindern.» Nach diesem Fall wurden weitere sechs Unternehmen für die Verletzung von Artikel 102 verurteilt.
Bussen ohne Abschreckungseffekt
Der Artikel 102 StGB sieht eine maximale Busse von 5 Mio. Franken vor. «Dieser Betrag ist für Grossunternehmen, die in Fälle von Korruption verwickelt sind, eindeutig zu tief», meint Professorin Ursula Cassani.
Diese Haltung wird auch von der OECD geteilt, welche in einem Bericht aus dem Jahr 2018 Vorbehalte zum abschreckenden Charakter der bisherigen Bussen anmeldete. Die OECD-Experten empfahlen, die Maximalbussen anzuheben. Von insgesamt 415 Mio. Franken, die der Bund im Rahmen von Verfahren des Artikels 102 einkassiert hat, gehen nur 9,75 Mio. Franken auf Bussen zurück.
Bei den anderen Beträgen handelt es sich um Beschlagnahmungen oder Entschädigungen, das heisst, es handelt sich nicht wirklich um Sanktionen, sondern um den Einzug von Geldern aus unlauter erwirtschafteten Gewinnen.
«Manchmal hat man den Eindruck, dass durch eine Einigung zur Entschädigungssumme die tiefe Busse ausgeglichen wird», sagt Ursula Cassani.
All diese Verurteilungen erfolgten via Strafbefehl, also über ein juristisches Instrument, das eigentlich für Fälle von kleinen Dimensionen gedacht ist.
Für Ursula Cassani, Professorin für Strafrecht an der Universität Genf, sind die Parteien gleichwohl zufrieden, dass dieses Instrument auch für grosse Fälle von Geldwäscherei und Korruption angewendet wird: «Einerseits kann die BA so komplexe und schwierige Fälle abschliessen und bedeutende Beträge einkassieren, andererseits kann das beschuldigte Unternehmen eine angemessene Strafe aushandeln und einen öffentlichen Prozess vermeiden.»
Im Falle Alstom erlaubte der Strafbefehl beispielsweise, dass der Vorwurf eines Führens von schwarzen Kassen zum Zwecke der Bestechung vom Tisch war. Auch die Busse von 2,5 Mio. Franken war insofern vorteilhaft, da es sich nur um die Hälfte der gesetzlichen Höchstbusse handelte.
Bis heute haben alle Unternehmen, die in Anwendung des Artikels 102 per Strafbefehl verurteilt wurden, von dieser Art von ausgehandeltem Strafmass profitiert. «Es wäre interessant zu sehen, inwiefern dieses Vorgehen in einer Hauptverhandlung von Gericht Bestand hätte», sagt Ursula Cassani.
Heikles juristisches Terrain
Um präzise zu sein: Es gab doch einen Fall, in dem es zu einer Gerichtsverhandlung kam. Im Jahr 2011 verurteilte ein Gericht in Solothurn die Post im Rahmen eines Geldwäschereiverfahrens. Doch in der Folge mehrerer Beschwerden hat das Bundesgericht im Jahr 2016 das Unternehmen in letzter Instanz freigesprochen.
«Dieses Urteil stellt einen wichtigen Meilenstein für die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen in der Schweizer Rechtsauffassung dar, auch wenn nicht alle Aspekte geklärt werden», sagt Rechtsanwalt Alain Macaluso, Direktor des Zentrums für Strafrecht an der Universität Lausanne.
Für den Experten ist ausschlaggebend, dass das Bundesgericht als Kriterium für die Strafbarkeit eines Unternehmens festgelegt hat, «dass als Vortat eine Straftat einer natürlichen Person, die im Rahmen des Unternehmens begangen wurde, nötig ist.»
Diese Klausel schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Strafverfolger ein. Beispielhaft ist die Einstellung eines Verfahrens gegen die Bank PKB im Jahr 2017. Die Bundesanwaltschaft vermutete, dass es organisatorische Mängel gab, welche Geldwäscherei ermöglichten. Da jedoch das Verfahren gegen eine Angestellte wegen Verdachts auf Geldwäscherei eingestellt worden war, sah sich die BA gezwungen, auch das Verfahren gegen die Bank einzustellen.
«Die Tatbestandsmerkmale des Vergehens wurden nicht erfüllt», heisst es in der Einstellungsverfügung. Und dies, obwohl im gleichen Entscheid von «mangelnder interner Organisation» die Rede ist, welche verhinderte, dass die Anti-Geldwäscherei-Normen effektiv umgesetzt wurden.
Der Artikel 102 des Strafgesetzbuches im Wortlaut:
Wird in einem Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks ein Verbrechen oder Vergehen begangen und kann diese Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden, so wird das Verbrechen oder Vergehen dem Unternehmen zugerechnet. In diesem Fall wird das Unternehmen mit Busse bis zu 5 Millionen Franken bestraft.
Handelt es sich dabei um eine Straftat nach den Artikeln 260ter, 260quinqies, 305bis, 322ter, 322 quinqies, 322septies Absatz 1 oder 322octies, so wird das Unternehmen unabhängig von der Strafbarkeit natürlicher Personen bestraft, wenn dem Unternehmen vorzuwerfen ist, dass es nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat, um eine solche Straftat zu verhindern.
Das Gericht bemisst die Busse insbesondere nach der Schwere der Tat und der Schwere des Organisationsmangels und des angerichteten Schadens sowie nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens.
Kommt es zum Prozess in Bellinzona?
Artikel 102 trat 2003 auf internationalen Druck in Kraft. Es handelt sich um einen typischen Schweizer Kompromiss. Damals hatte die Einführung dieser Norm Erwartungen und zugleich Sorgen ausgelöst. Viele befürchteten, dass die Ermittler systematisch und pauschal gegen die Unternehmen ermittelt hätten, ohne ausreichend die individuelle Verantwortung von Angestellten zu prüfen. «Verantwortlichkeit von Unternehmen: Die Risiken sind real», hiess es in einer Broschüre eines Arbeitsgeberverbandes von 2007.
15 Jahre nach Einführung des Artikels 102 lässt sich feststellen, dass die damaligen Ängste übertrieben waren. Nur sieben Unternehmen wurden seither verurteilt. Der Artikel 102 wird nur sehr selten angewendet.
Die Eröffnung von Verfahren gegen diverse Schweizer Banken legt jedoch die Annahme nahe, dass die Bundesanwaltschaft im Artikel 102 gleichwohl ein effizientes Ermittlungsinstrument sieht.
Und dies, obwohl Bundesanwalt Michael Lauber für die bevorstehende Revision der Strafprozessordnung vorgeschlagen hat, die Möglichkeit vom Abschluss aussergerichtlicher Vergleiche mit Unternehmen, gegen die ermittelt wird, einzuführen.
In diesem sich verändernden Kontext könnte bald schon einem Schweizer Finanzinstitut der Prozess gemacht werden. Es geht um die Bank Hottinger. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt das Finanzinstitut, auf Grund einer mangelhaften internen Organisation Geldwäscherei über Konten einer italienischen Organisation ermöglicht zu haben.
Im Mai 2018 unterschrieb Bundesstaatsanwalt Stefano Herold einen Strafbefehl mit einer Busse von rund 500’000 Franken. Die Bank hat gegen den Strafbefehl rekurriert. Nach Meinung des Instituts hätte zuerst gegen eine ehemalige Kaderperson der Bank der Prozess gemacht werden müssen.
Nach einer erneuten Beschwerde gegen einen Strafbefehl von Ende 2018 hat die BA das Dossier an das Bundesstrafgericht gesandt. Somit werden die Bundesstrafrichter in Bellinzona entscheiden müssen, ob und wann der Prozess stattfindet.
Bank mittlerweile in Konkurs
Die Angelegenheit ist jedoch nicht von prioritärer Wichtigkeit. Die Bank Hottinger wurde nämlich im Jahr 2015 von der Finanzmarktaufsicht (FINMA) für Konkurs erklärt. Eine Busse könnte somit einzig für die Gläubiger eine Last darstellen.
Allerdings könnte der Casus Hottinger für andere delikate Ermittlungen einen Präzedenzfall darstellen, etwas für die Fälle 1MBD oder Petrobras. Für all diese Fälle braucht es viel Zeit.
Und es überrascht nicht, dass während des Studientags zur Verantwortlichkeit von Unternehmen an der Uni Lausanne vor allem ein Wort immer wieder fiel: Geduld.
Abgeschlossene Verfahren
Der erste Strafbefehl in Anwendung des Artikels 102 StGB reicht ins Jahr 2011 zurück. Damals wurde das Alstom Network Schweiz schuldig gesprochen. Fünf weitere Strafbefehle folgten. Vor dem zweiten Strafbefehl gab es indes auch zwei Verfahrenseinstellungen, welche Siemens (Geldwäscherei) und Siemens Industrial Turbomachinery (Korruption) betrafen. In diesen beiden Verfahren hat der Bund zirka 70,5 Mio. Franken an Beschlagnahmungen und Wiedergutmachungen bewegt.
2014 wurde die Stanford Group (Suisse) verurteilt. Es war der Schweizer Ast einer gigantischen Betrugsermittlung, welche den amerikanischen Milliardär Allen Stanford betraf. Im Dezember 2016 wurden die multinationale brasilianische Unternehmung Odebrecht und ihre Tochterunternehmung Constructora Norberto Odebrecht (CNO) zu einer Busse von 4,5 Mio. Franken und einer Entschädigungszahlung über 117 Mio. Franken verurteilt.
Im Rahmen derselben Untersuchung musste Braskem eine Entschädigungssumme über 94,5 Mio. Franken ausrichten. Das Verfahren wurde indes eingestellt, genauso wie im Fall von Smith & Nash, eine auf den Virgin Island domizilierte Gesellschaft, die von Odebrecht für Korruptionszahlungen verwendet wurde. Zirka 2 Mio. Franken an beschlagnahmen Geldern bei der Bank PKB wurden definitiv eingezogen.
2016 verurteilte die BA auch die Gesellschaft Nitrochem, Tochter des Basler Multis Ameropa. Es ging um einen Korruptionsfall in Libyen zu Zeiten von Gaddafi. Die Schweizer Gesellschaft hatte ein Schmiergeld von 1,5 Mio. Franken bezahlt, um einen hohen libyschen Beamten zu bestechen. Dies geschah im Auftrag der norwegischen Multinationalen Yara, die in Libyen eine Fabrik eröffnen wollte.
Die letzten beiden Verurteilungen wegen Verletzung von Artikel 102 StGB reichen auf das Jahr 2017 zurück. Der erste Fall betrifft die KBA NotaSys, eine Tochterunternehmung der deutschen Firma König & Bauer in Lausanne, für Schmiergeldzahlungen in Brasilien, Marokko, Nigeria und Kasachstan. Das Urteil bestand in einer symbolischen Busse über 1 Franken sowie eine Entschädigung von 30 Mio. Franken.
Schliesslich wurde die Dredging International Services (Zypern), eine Tochter der belgischen DEME, zu einer Busse von 1 Mio. Franken verurteilt, «weil nicht alle erforderlichen Massnahmen getroffen worden waren, um Korruptionszahlungen zu vermeiden.» Es ging um einen Vorfall in Nigeria und die Ausschreibung für das Ausbaggern von schiffbaren Gewässern. Neben der Busse musste die Unternehmung dem Bund 36 Millionen Franken an Schadenersatz erstatten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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