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Wirtschaftskriminelle versuchen, die Presse mundtot zu machen

Bevor sie am 17. Oktober 2017 ermordet wurde, war die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia mit zahlreichen Gerichtsprozessen unter Druck gesetzt worden. Afp

In der Schweiz, wie auch im übrigen Europa und in den USA, nehmen Druck und Zensurversuche gegen die wirtschaftlich bereits geschwächten Medien zu. Rund 30 Nicht-Regierungs-Organisationen warnen vor diesen juristischen Angriffen, welche die Meinungsfreiheit bedrohen.

Für Marie Maurisse und François Pilet ist es ein Gerichtsverfahren zu viel: Ende Januar fanden sich die beiden Gründer von «Gotham City», einem auf Wirtschaftskriminalität spezialisierten Newsletter aus dem Kanton Waadt, zum fünften Mal in weniger als zwölf Monaten vor Gericht wieder. Ihr Vergehen? Sie wollten über die Verurteilung eines in Genf ansässigen Vermögensverwalters berichten, der die Gelder eines wohlhabenden ausländischen «Philanthropen» vor dem Fiskus versteckt hatte.

SWI #Meinungsfreiheit-Serie

Im Prinzip sollte alles glasklar sein. Sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als auch im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) heisst es in Artikel 19: «Jede und jeder hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut jeder Art zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten, sei es mündlich, schriftlich oder in gedruckter Form, durch Kunst oder durch ein anderes Medium seiner Wahl.»

In Europa bestätigt die Europäische Menschenrechts-Konvention (1950) die Meinungsfreiheit als rechtsverbindliches Recht (Artikel 10). Die Schweiz verankert diese Grundfreiheit in Artikel 16 ihrer Verfassung von 1999.

In der Praxis bleibt jedoch vieles umstritten. Regierungen auf der ganzen Welt schützen das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht, sondern unterminieren es zunehmend. In anderen Teilen der Welt nutzen Einzelne und Gruppen den Begriff «Meinungsfreiheit», um diskriminierende und hasserfüllte Äusserungen zu rechtfertigen. Doch obwohl sie ein universelles Recht ist, ist die Meinungsfreiheit kein absolutes Recht. Sie zu gewährleisten und anzuwenden, ist immer eine Gratwanderung.

In einer neuen Serie befasst sich SWI swissinfo.ch mit diesen verschiedenen Aspekten, Herausforderungen, Meinungen und Entwicklungen rund um die Meinungsfreiheit – sowohl in der Schweiz als auch weltweit.

Wir bieten eine Plattform für Bürgerinnen und Bürger, sich zum Thema zu äussern, bieten Analysen von renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und beleuchten Entwicklungen auf lokaler und globaler Ebene. Und natürlich sind die Leserinnen und Leser eingeladen, sich noch in diesem Frühjahr an der Diskussion zu beteiligen und ihre Stimme zu erheben.

Die Identität des Verurteilten wurde anonymisiert – in Übereinstimmung mit den sehr restriktiven Schweizer Regeln für die Veröffentlichung von Namen. Aber der Richter sagte, es bestehe die Gefahr, dass der Verurteilte im Artikel erkannt werden könnte, also verbot er die Veröffentlichung. «Das ist ein sehr ernster Angriff auf die Pressefreiheit, ein echter Akt der Zensur», sagt Maurisse.

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Demonstrierende Frauen halten ein Bild einer Frau und Nummernschilder in den Händen.

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Wieso brauchen wir eine freie Presse?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Reporter ohne Grenzen befürchtet, dass die Pressefreiheit heute Angriffen ausgesetzt ist wie nie zuvor. Auch in Europa.

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Maurisse und Pilet sind überzeugt, dass sie Recht haben, aber sie haben resigniert. «Wir hatten bereits 3000 Schweizer Franken an Anwaltskosten bezahlt und wir hatten weder das Geld noch die Energie, um in Berufung zu gehen. Deshalb haben wir beschlossen, die Informationen nicht zu veröffentlichen», so Maurisse.

«Chilling-Effect»

Bertil Cottier, Professor für Medienrecht an der Universität der italienischen Schweiz, hat in der Schweiz eine Zunahme der gerichtlichen Einschüchterung der Medien beobachtet: «Selbst wenn der Journalist oder die Journalistin am Ende gewinnt, sind all diese Gerichtsverfahren ermüdend und abschreckend. Das ist das, was wir den ‹chilling effect› nennen: ein gerichtlicher Druck, der darauf abzielt, Medienschaffende davon abzuhalten, ihre Rolle als Wächter der Gesellschaft zu spielen.»

Der Kampf werde immer ungleicher zwischen den reichen Geschäftsleuten, welche die besten Anwälte der Branche engagieren könnten, und den wirtschaftlich geschwächten Medien. «Eine Lokalzeitung oder ein neues unabhängiges Medienunternehmen wie Gotham City, Bon pour la Tête oder Republik kann es sich nicht leisten, mehrere tausend Franken Schadenersatz zu zahlen. Aber gerade diese kleinen Medien tragen zu Pluralismus und Vielfalt in der Presse bei», so Cottier.

Die Gründer des Gotham City Newsletters, Marie Maurisse und François Pilet, werden regelmässig von Geschäftsleuten verklagt, die unbedingt vermeiden wollen, dass ihre Namen veröffentlicht werden. swissinfo.ch

In den vier anderen aktuellen Fällen war «Gotham City» das Ziel von sogenannten «super-provisorischen» Massnahmen. Diese erlauben es dem Richter oder der Richterin, die Veröffentlichung eines Artikels zu verbieten, oft schon vor dessen Erscheinen und ohne Rücksprache mit den Medienschaffenden, wenn nachweislich die Gefahr eines «unmittelbaren» Angriffs auf die Ehre des Antragstellers besteht. «Es ist ein schlagkräftiges Werkzeug, das normalerweise für Notfälle reserviert ist. Aber es wird jetzt in einer völlig missbräuchlichen Weise verwendet», sagt Pilet.

Ein Werkzeug der Zensur

Obwohl die Gerichte das öffentliche Interesse an den Informationen anerkannten und die Veröffentlichungen schliesslich erlaubten, hinterliessen diese Fälle ihre Spuren. In zwei Fällen haben die Klägerinnen und Kläger die Anwaltskosten der obsiegenden Partei nicht bezahlt. «Insgesamt mussten wir im Jahr 2020 fast 20’000 Franken an Anwaltskosten bezahlen. Das entspricht etwa der Lohnsumme eines ganzen Monats für unser Team», sagt Maurisse.

Zwar ist ihre Entschlossenheit ungebrochen, Korruption, Veruntreuung und Geldwäsche aufzudecken. Doch die Gründer von «Gotham City» sind vorsichtiger geworden. «Wir können nicht jedes Mal kämpfen. Wenn wir wissen, dass wir in Schwierigkeiten geraten werden, lassen wir es manchmal sein. Das ist Selbstzensur», sagt Maurisse.

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Das Phänomen existiert nicht nur in der Schweiz. In den Vereinigten Staaten sind Journalistinnen und Journalisten zunehmend das Ziel von so genannten SLAPP-Klagen. Das sind rechtsmissbräuchliche Klagen, die darauf abzielen, Kritiker in einer öffentlichen Debatte mundtot zu machen. Damit kann Druck auf Medienschaffende sowie Persönlichkeiten aus der akademischen Welt oder von Nicht-Regierungs-Organisationen ausgeübt werden. SLAPP-Klagen haben sich schnell auch in Europa und im Herzen der liberalen Demokratien verbreitet.

«Wir können nicht jedes Mal kämpfen. Wenn wir wissen, dass wir in Schwierigkeiten geraten werden, lassen wir es manchmal sein. Das ist Selbstzensur.»

Marie Maurisse, Co-Gründerin von Gotham City

Reporter ohne Grenzen und rund 30 weitere Nicht-Regierungs-Organisationen haben Ende März eine Plattform ins Leben gerufen, um auf europäischer Ebene «den Einsatz von Gerichtsverfahren zur Einschüchterung und Mundtot-Machen kritischer Stimmen» anzuprangern und zu bekämpfen. Am 18. Mai verleiht die Organisation für Pressefreiheit beschämende Preise an die Unternehmen und politischen Persönlichkeiten, die am meisten gegen Medienschaffende prozessieren.

Gerichte für die Pressefreiheit sensibilisieren

Eines der auslösenden Ereignisse für diese Initiative war die Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia im Oktober 2017, die zu Korruptionsfällen recherchierte. «Bevor sie ermordet wurde, war Daphne Caruana Galizia das Ziel von etwa 50 Gerichtsverfahren. Sie hat enorm viel Zeit vor Gericht verbracht, was einen hemmenden Effekt auf ihre investigative Arbeit hatte, wie man sich vorstellen kann», sagt Denis Masmejan, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen Schweiz.

Obwohl ein solch krasser Fall in der Schweiz glücklicherweise noch nicht vorgekommen ist, findet Masmejan, dass die Schweizer Justiz sensibilisiert werden müsse. «Die Rechtsprechung muss sich weiterentwickeln, insbesondere im Hinblick auf frühere Zensurmassnahmen. Richterinnen und Richter müssen das Gesetz auf eine Weise anwenden, die für Medienschaffende günstig ist und die Pressefreiheit respektiert», sagt er.

Externer Inhalt

Die 1984 von den eidgenössischen Räten verabschiedeten provisorischen und superprovisorischen Massnahmen sehen ausdrücklich strengere Anwendungsbedingungen für die Medien vor, weil sie den Kern der Pressefreiheit betreffen. «Aber sie haben oft zu Spannungen zwischen Politik, Justiz und Medien geführt», sagt Cottier. «Wir haben es 2019 wieder gesehen, als mehrere französischsprachige Staatsräte (Minister) [Pascal Broulis, Christophe Darbellay, Jacqueline de Quattro und Pierre Maudet] versucht haben, die Veröffentlichung von Artikeln oder Büchern verbieten zu lassen, in denen sie vorkamen.»

Vorausbezahlte Anwaltskosten

Laut den «Gotham City»-Gründern wäre eine mögliche Lösung, da Gesetz zu ändern und finanzielle Sicherheiten bei der Beantragung von superprovisorischen Massnahmen zu verlangen, wie das bei anderen Gerichtsverfahren der Fall ist. «Dies würde sicherstellen, dass die Kläger, bei denen es sich oft um wohlhabende Geschäftsleute mit Wohnsitz im Ausland handelt, die Prozesskosten der zu Unrecht eingeklagten Medien tragen», sagt Pilet.

Um die Prozesskosten zu decken und die Existenz der noch jungen Plattform Gotham City nicht zu gefährden, wandten sich François Pilet und Marie Maurisse an eine Wohltätigkeitsorganisation, die ihnen finanzielle Unterstützung gewährte. Die beiden sind fest entschlossen, auch weiterhin Wahrheiten ans Licht zu bringen, die vermögende Prozessbeteiligte so gerne geheim halten würden.

Die Schweiz steht im Zentrum der gerichtlichen Untersuchungen der drei grössten publik gewordenen Fälle von Veruntreuung öffentlicher Gelder weltweit: Petrobras (Brasilien), 1MDB (Malaysia) und Venezuela.

«Mit dem Ende des Bankgeheimnisses für europäische Steuerzahlende haben viele Banken ihren Fokus auf die Schwellenländer verlagert und setzen sich damit sehr hohen Risiken von Korruption, Veruntreuung und Geldwäsche aus», sagt François Pilet, Mitbegründer von Gotham CityExterner Link.

Im September 2020 sorgte Gotham City für Aufruhr in Angola, als es die Beschlagnahmung von 900 Millionen Dollar aufdeckte. Diese gehörten einem der Regierung des ehemaligen Präsidenten José Eduardo dos Santos nahestehenden Geschäftsmannes.

Fast jede Woche erhält die Schweiz Rechtshilfeersuchen aus Entwicklungsländern. Gotham City macht seine Entdeckungen aus diesen öffentlichen Datenquellen. Die Informationen werden dann an die Abonnenten der Publikation weitergegeben, zu denen Banken, Anwaltskanzleien, Nichtregierungsorganisationen, die Medien sowie Justizeinrichtungen und Bundesbehörden gehören.

Im Rahmen einer Partnerschaft veröffentlicht swissinfo.ch monatlich einen Gotham City-Artikel, der für ein internationales Publikum besonders interessant ist.

Sibilla Bondolfi

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