Wo E-Scooter und Traktor sich Gutenacht sagen
Viele Schweizer:innen leben in einer Mischung aus ländlich und städtisch. Rurbanität mag langweilig, ja zuweilen hässlich sein, sorgt aber für sozialen Frieden. Ein Augenschein in Bulle, der "Stadt auf dem Land".
Am Bahnhof Bulle wird gebaut. Im grossen Stil werden Neubauten hochgezogen. Die Kleinstadt mit rund 25’000 Einwohner:innen im Kanton Freiburg rechnet mit 7000 zusätzlichen Menschen bis 2030. Die Bodenbesitzer, die freiburgischen Verkehrsbetriebe, stampfen deshalb neben den Gleisen ein ganzes Quartier mit Wohnungen, Büros, Läden und Cafés aus dem Boden.
Als wir Bulle im Mai besuchen, sind die Neubauten fast bezugsbereit. Ein hippes Café hat gerade neu eröffnet. Die Überbauung erinnert architektonisch an die «Kästen», die rund um den Bahnhof Zürich in den letzten Jahren entstanden sind. Auch in Bulle stolpert man an jeder Ecke über Leih-Trottinette.
Doch etwas ist anders. Die Luft ist frisch, der Blick durch die Häuser zeigt ein Stück Wald, Rapsfelder und Berge. «Man kann sich aufs Rad schwingen und ist in fünf Minuten in der Natur», schwärmt Alain Sansonnens, Kommunikationsbeauftragter der Stadt Bulle.
Bulle bezeichnet sich selbst als «une ville à la campagneExterner Link«, eine Stadt auf dem Land. Das zeigt sich an mehreren Orten der Stadt: Während wir ein urbanes Bauprojekt am Stadtrand besichtigen, braust ein Viehtransporter mit Rindern vorbei, es riecht nach Gülle, und ein Schild am Strassenrand preist frische Waren ab Hof an. Zwischen der hochmodernen Produktionsanlage einer Pharmafirma und dem Hotel Ibis weiden Ziegen. Traktoren sind auch im Zentrum und der pittoresken Altstadt öfters zu sehen.
Eine Stadt sein, aber das Ländliche bewahren
Bulle war einst eine abgelegene, bäuerlich geprägte Kleinstadt in der Grösse eines Dorfes. Die im Umland produzierte Milch wurde hier zu Käse, dem weltbekannten Greyerzer, verarbeitet und in den Handel gebracht.
Doch dann kam 1980 die Autobahnverbindung zwischen Bern und Vevey und alles wurde anders. Internationale Firmen und Arbeitskräfte zogen nach Bulle, die Bevölkerung vervielfachte sich.
Das ist städteplanerisch eine Herausforderung: «Bulle will zwar eine echte Stadt werden, aber gleichzeitig das Ländliche bewahren, schon nur aus touristischen Gründen», sagt Alexandre Malacorda, Leiter der Abteilung für Stadtplanung.
Damit ist Bulle typisch für die Schweiz, in der viele Menschen beides wollen. «In der Schweiz ist häufig unklar, wo eine Stadt endet und wo das Land beginnt», sagt der Schweizer Ethnologe und Kulturwissenschaftler Konrad KuhnExterner Link, der an der Universität Innsbruck unter anderem zu Urbanität im Alpenraum forscht.
Dieser Mischmasch zeige sich nicht nur baulich, sondern auch in der Mentalität. Manche Gemeinden wollten Dörfer bleiben, obwohl sie von der Grösse und Infrastruktur her längst eine Stadt wären. «Es gibt Formen von Urbanität auf dem Land und gleichzeitig eine Sehnsucht nach dem Ländlichen in den Städten», erklärt Kuhn.
In Bulle zeigt sich das etwa daran, dass Bewohner einer urbanen Neubausiedlung auf den weitläufigen Balkonen ausgerechnet einen handbemalten Bauernschrank platziert und ein Gemälde eines Alpaufzuges aufgehängt haben.
Warum die Schweiz besonders «rurban» ist
Bei der «Rurbanität», also der Mischung aus ländlich und städtisch, handelt es sich um einen internationalen Trend. Doch das Phänomen ist in der Schweiz aus historischen und topografischen Gründen besonders ausgeprägt.
In der Stadtforschung und der Kulturgeografie bezeichnet der aus den Worten Ruralität und Urbanität zusammengesetzte Begriff «Rurbanität» das Phänomen der Vermischungen von Stadt und Land. Es gebe zunehmend keine klare Abgrenzung mehr zwischen ländlichen und städtischen Räumen, so die Wissenschaftler:innen. Der Alltag der Menschen, die Wirtschaft, Infrastrukturen und Nutzungen sind zwischen den Räumen eng verflochten und verschmelzen ineinander. Es ist zunehmend unklar, was «Land» ist und wo die «Stadt» beginnt. Der neue Normalfall bestehe aus Durchlässigkeit und fliessenden Grenzen. In städtischen Gebieten bleiben ländliche Strukturen bestehen und umgekehrt werden ländliche Gebiete zunehmend urbanisiert.
«Seit der Nachkriegszeit gibt es in der Schweiz ausgeprägte Netzwerke halb-urbanisierter Gebiete, das hat die Landschaft komplett verändert», sagt Lindsay Blair Howe, Professorin für Architektur und Gesellschaft an der Universität Liechtenstein, die auch an der ETH Zürich zum Thema Urbanisierung forschte.
Zwar gebe es Bergregionen, die mit Abwanderung kämpften, aber die Täler seien in aller Regel rurbanisiert. «Das sieht man an der Landschaft, aber auch am Alltagsleben der Menschen: Wie die Leute auf dem Land reisen, einkaufen, arbeiten und die Freizeit verbringen, das ist höchst mobil und sehr urban.»
Für Bevölkerung und Wirtschaft hat die Verschmelzung von Stadt und Land finanzielle Vorteile. «Rurbanität schafft für viele Menschen mehr Möglichkeiten: Sie kommen an Jobs, die ohne Autobahnen oder Zugverbindungen für sie nicht erreichbar wären», so Blair Howe.
So pendeln auch aus Bulle viele Berufstätige zur Arbeit die 50 Kilometer nach Lausanne. Das lohnt sich, denn die Mieten und Immobilienpreise sind in Bulle deutlich tiefer als in der Genferseeregion.
Doch Bulle will nicht zur Schlafstadt verkommen. Die Stadt gestaltet bewusst gemischte Quartiere. Alain Sansonnens von der Stadt Bulle ist zufrieden: «Es kommen mehr Menschen nach Bulle, um zu arbeiten als zu wohnen.» 41% der Bevölkerung sind Ausländer:innen, vor allem aus Portugal, Frankreich und Kosovo.
Laut Sansonnens ziehen aber auch viele ältere Menschen aus dem Umland nach Bulle, weil sie hier alle Annehmlichkeiten und Dienstleistungen finden. «In Bulle gibt es noch alles: Metzger, Käserei, Läden», so Sansonnens. Diesen kleinen Geschäften droht nun Gefahr vom neuen Bahnhofsviertel, wo die Öffnungszeiten viel flexibler sind. «Die Politik hat keine Antwort auf dieses Problem. Das Verhalten der Leute wird entscheidend sein», so Sansonnens.
Rurbanität sorgt für Zusammenhalt
Rurbanität hat jedenfalls auch gesellschaftlich Vorteile und einen Nutzen. Laut dem Kulturwissenschaftler Kuhn sorgt sie für sozialen Frieden. «Die meisten Menschen in der Schweiz führen ein recht ähnliches Leben, egal ob sie in einer Stadt oder auf dem Land wohnen, der Stadt-Land-Graben ist deshalb weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, auch wenn er in politischen Diskussionen manchmal herbeigeredet wird. In den USA hingegen macht es einen erheblichen Unterschied, ob jemand in New York City oder auf einer texanischen Farm lebt.»
Richtig abgehängte Regionen wie in den USA, Frankreich oder Ostdeutschland gibt es in der Schweiz kaum, die Infrastruktur ist auch in abgelegenen Bergregionen gut ausgebaut. «Die Schweiz ist diesbezüglich privilegiert, weil wir uns das leisten können und wollen», so Kuhn.
Durch das Pendeln für Arbeit, Freizeit und Ferien hätten Menschen aus Zürich und Graubünden mehr Kontakt untereinander als New Yorker:innen mit Texaner:innen, was ebenfalls gut für den sozialen Zusammenhalt sei. Während manch einer aus New York die Landbevölkerung als «Rednecks» oder «Hillbillys» abwerte und mancher Berliner abschätzig vom «Pack» und «Abschaum» in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern spreche, sei ein solches Herabschauen von der Stadt aufs Land in der Schweiz kaum verbreitet. Im Gegenteil: das Ländliche habe ein überaus gutes Image. «Für die Demokratie und das Zusammenleben ist Rurbanität also positiv», so Kuhn.
Für Bulle mit seiner heterogenen Bevölkerung ist sozialer Frieden besonders wichtig. Die Mentalität in Bulle sei anders als in grossen Städten, meint Urbanist Malacorda von der Stadt Bulle. Die Leute grüssen sich auf der Strasse. «Einerseits ist da die bäuerliche Geschichte von Bulle, die bis heute nachwirkt», so Malacorda. «Andererseits suchen viele Neuzuzüger:innen nach einem moderneren, urbaneren Lebensstil.» Bulle bringt beides unter ein Dach.
Der Preis: Die Ästhetik
Bei allen Vorteilen hat Rurbanität jedoch auch Nachteile. «Es ist nicht so schön anzusehen», meint Blair Howe lachend. Es sei zu schnell gebaut worden, man habe zu wenig nachgedacht, wie man den architektonischen Charakter und die sozialen Strukturen der Dörfer beibehalten könne.
Auch in Bulle wurden in der Vergangenheit Landwirtschaftszonen zu schnell eingezont, räumt Malacorda von der Stadt Bulle ein. Die Verdichtung müsse heute besser begleitet werden. «Aber man muss kein Disneyland aus Bulle machen. Es braucht keine künstliche Ländlichkeit.»
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Auch Ethnologe Kuhn findet Rurbanität ästhetisch oft wenig ansprechend. Und er ergänzt: Rurbanität bedeute zwar ’sowohl als auch›, zugleich aber immer auch ‹weder noch›, das sei die Kehrseite der Medaille. Will heissen: Bulle – das ist weder Berlin noch Bullerbü, weder pulsierend noch idyllisch.
Kuhn drückt es folgendermassen aus: «Man hat in der Schweiz selten das Gefühl, in einer grossen Stadt zu sein, Paris, London oder New York – das ist was anderes als Genf und Zürich, die zwar auch Städte sind, ohne aber das Urbane mit seinen Brüchen konsequent hervorzuheben. Vielmehr ist es in schweizerischen Städten oft sehr ländlich.» Gleichzeitig fühle man sich auch nirgends so richtig «auf dem Land», überall habe es Häuser, Handyempfang und selbst abgelegene Alpen seien mit breiten Strassen erreichbar. Touristische Gebiete sind sogar oft mit regelrecht urbaner Infrastruktur ausgestattet. «Das ist nicht wie in den rumänischen Karpaten mit den endlosen Wäldern!»
Aus Sicht des Naturschutzes ist Rurbanität ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gehen durch Zersiedelung und Bodenversiegelung Lebensräume für Pflanzen und Tiere verloren, Autobahnen und Zugtrassees durchschneiden Naturgebiete und aus Privatgärten verbreiten sich Neophyten.
Andererseits sind rurbane Gebiete in der Schweiz im Vergleich zu «echten» Städten ziemlich grün. «In gut strukturierten und durchgrünten Siedlungen gibt es Potenzial für eine hohe Biodiversität», schreibt Nathalie Rutz von Pro Natura.
In Bulle ist es Vorschrift, bei neuen Mehrfamilienhäusern ausserhalb von Altstadt oder Zentrum Gemüsegärten mit mindestens 5 m2 pro Wohneinheit anzulegen. Die Nutzgärten müssen allen Wohnungen zur Verfügung stehen. Wenn jemand also ein Mehrfamilienhaus mit zehn Wohnungen baut, muss er einen Garten von mindestens 50 m2 anlegen.
Am Ende des Tages machen wir uns mit gemischten Gefühlen vom Acker: War das jetzt ein Ausflug aufs Land oder ein Städtetrip? Wir sagen: Adieu Bulle, Stadt auf dem Land!
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