Wo Lastwagen-Chauffeure auf der Fahrt schlafen
Obwohl sie von Basel bis Chiasso auf der Autobahn fahren könnten, durchqueren jährlich 100‘000 Lastwagen die Schweiz mit dem Zug. Auf der "Rollenden Autobahn" verbringen Chauffeure aus halb Europa die Nacht im gleichen Schlafwagen. Reportage.
Die Rangierarbeiter in ihren orangefarbenen Overalls sind nicht zu beneiden: In der Sommerhitze rinnt der Schweiss in kleinen Bächlein über ihre verschmutzten Gesichter unter den Schutzhelmen.
Das offene Gelände der Verladestation am Stadtrand von Freiburg im Breisgau (D) bietet um die Mittagszeit nur wenig Schatten, und für die Montage der mobilen Rampe am letzten Eisenbahnwagen ist viel Muskelkraft nötig.
Auf dem asphaltierten Parkplatz neben den Geleisen stehen in Viererkolonnen etwa 20 Lastwagen bereit. Die meisten Chauffeure haben die Führerkabine verlassen. Für die Transportformalitäten müssen sie den Weg zum Bahnschalter zu Fuss zurücklegen.
Viele Fahrzeuge haben osteuropäische Nummernschilder. Über die Herkunft des Chauffeurs oder der geladenen Ware lassen die Schilder keine eindeutigen Rückschlüsse zu.
Christian, der seinen LKW als erster auf die Waage fährt, kommt aus Rumänien. Heute transportiert er für eine österreichische Transportfirma Metall aus Deutschland nach Italien. Maximal 44 Tonnen duldet die Rollende Autobahn (Rola) pro Fahrzeug, 4 Tonnen mehr als auf Schweizer Strassen erlaubt sind.
Gelbe und rote Karten
«44-Tönner sind demnächst eher die Regel als die Ausnahme», sagt Wolfgang Ziebold, der für die Kontrolle der Fahrzeug-Dimensionen zuständig ist. Die höhere Gewichts-Limite der Bahn sei für manchen Transporteur ein entscheidender Kostenvorteil.
In der rechten Brusttasche hat Wolfgang Ziebold eine gelbe Karte, in der linken eine rote versorgt. «Diese Sprache versteht jeder Chauffeur auf der ganzen Welt». Die Gelbe zückt er, «zum Beispiel, wenn die Antenne noch drauf ist, oder der Chauffeur die Ladung in Ordnung bringen muss».
Meistens kann der Fahrer das Fahrzeug gleich an Ort und Stelle vorschriftsgemäss herrichten. Aber bei jedem dritten Zug ist ein Fahrer dabei, der die Rote zu sehen bekommt, weil die Ladung nicht gesichert ist, die Planen kaputt, das Fahrzeug zu hoch ist.
Dass die Laster mit diesen Mängeln auch auf der Strasse nichts zu suchen hätten, weil dort die gleichen Vorschriften gelten, darum kümmert sich die Bahn nicht. Die fehlbaren Lenker werden nicht verzeigt. «Verantwortlich für ihre Fahrzeuge sind die Lenker», sagt Martin Weideli, Produktionschef der RAlpin AG, der Betreibergesellschaft der Rola Schweiz.
Das Befahren der Laderampe verlangt Präzision. Links und rechts der LKW-Räder bleibt ein Freiraum von wenigen Millimetern. Trotzdem rollen die meisten Camions zügig und auf Anhieb darüber.
Die 9-stündige Zugsfahrt müssen die Chauffeure im Begleitwagen verbringen. Weil die Nacht- und Ruhezeitverordnung eine Pause von ebenfalls mindestens 9 Stunden vorschreibt, werden sich die Chauffeure in Novara (I) sogleich wieder ans Steuer setzen dürfen. «Das ist eines unserer wichtigsten Verkaufsargumente», sagt Martin Weideli.
Grosse Konkurrenz, kleine Löhne
«Sie sollten Ihre Reportage nicht in Freiburg, sondern in Novara machen», mischt sich ein deutscher Chauffeur ein. «Dort sind die sanitären Anlagen für die Fahrer menschenunwürdig.» In den Duschen gebe es seit 4 Wochen kein warmes Wasser, «kaputte Spülkästen und Duschen, die Toiletten unter aller S…».
RAlpin-Produktionschef Martin Weideli muss den Fahrer vertrösten. «Das Problem ist uns bekannt.» Obwohl eine Partnerfirma in Italien dafür verantwortlich sei, werde RAlpin für die Sanierung der Anlagen sorgen. «Ende August wird es gelöst sein», verspricht Weideli.
Dass er trotzdem fast wöchentlich die Rola benutze, liege am «Nachtsprung», bestätigt der etwas besänftigte Chauffeur, der sich als Hans-Peter Behrendt, Fuhrhalter aus Norddeutschland vorstellt. «Wenn ich – wie heute – vom Ruhrgebiet komme, muss ich irgendwo in der Schweiz Pause machen – entweder in Erstfeld oder hinter dem Gotthard. Mehr schaffe ich in 10 Stunden nicht.»
Auf dem hart umkämpften Transportmarkt sei alles eine reine Kostenfrage. Es gebe Überkapazitäten seit der EU-Osterweiterung. «Man braucht ja bloss zu gucken, was auf dem Zug los ist», sagt er in Anspielung auf die Berufskollegen aus Osteuropa, die «zu niedrigen Löhnen für grosse Spediteure aus westeuropäischen Ländern fahren».
Landsmann Andreas Schäfer aus dem norddeutschen Haselünne nimmt den Zug nur, wenn er Gefahrengut geladen hat, weil er damit nicht durch den Gotthard-Tunnel fahren dürfe. Heute transportiert er 22 Tonnen Nitro-Cellulose, eine explosionsgefährliche Substanz, die er in Osnabrück bei der Firma Hagedorn Chemie geladen hat und in die Region Mailand bringt.
Dankbar für mehr Komfort
Im brandneuen Begleitwagen, in dem die Fahrer heute mitreisen, funktioniert die Klimaanlage. Es ist angenehm kühl, obwohl der Zug an der prallen Sonne gestanden hatte.
Drei Chauffeure der italienischen Transportfirma Pigliacelli haben sich am langen Tisch neben der Kochnische niedergelassen und Melone, Käse und Brot aufgetischt.
Am Tisch nebenan wird slawisch gesprochen. Der Chauffeur aus Kroatien fährt seit 15 Jahren für Berger Logistik aus Österreich. «Eine seriöse Firma, die keinen Druck auf die Fahrer ausübt», betont er, «sondern Verständnis hat, dass auf den Fernfahrten immer irgendwo eine Verzögerung entstehen kann». Heute transportiert er Leergut des Mineralwasser-Produzenten San Pellegrino in den Süden.
Die polnischen Fahrer der holländischen Firma Dasko haben sich bereits in eines der Abteile zurückgezogen, wo die Fahrer auf den aufklappbaren Liegebetten schlafen können. Sie sind gut gelaunt und mit dem Komfort des neuen Begleitwagens sehr zufrieden. Am Vormittag hatten sie in einer holländischen Fabrik Frischfleisch geladen, das sie nach Modena transportieren.
Die Arbeit im Ausland dauere jeweils drei Wochen mit zwei Ruhetagen dazwischen. «Dann stellen wir den LKW in Holland ab, nehmen den Bus und fahren für eine Woche heim nach Polen.» Die Arbeitsbedingungen bei Dasko seien normal, sagen sie, «1600 bis 1700 Euro pro Monat».
Ein rumänischer Chauffeur klagt, dass ihm sein italiensicher Arbeitgeber den Lohn von 3000 Euro auf 2700 drücken werde. Dass er jetzt ohne Unterbruch 30 Tage im Monat gearbeitet habe, sagt er erst, als das Mikrofon ausgeschaltet ist.
Bis zu 11 Züge mit maximal 21 Lastwagen verkehren täglich mit der Rola (Rollende Autobahn) in beiden Richtungen zwischen Freiburg i.B. und Novara über die Lötschberg-Simplon-Linie.
Ein Laster-Zug rollt pro Tag auf der Gotthard-Linie von Basel nach Chiasso und zurück, mit maximal 28 Lastwagen pro Zug.
Jährlich werden rund 100’000 Lastwagen durch die Schweizer Alpen transportiert.
Fast jeder auf europäischen Strassen zugelassene Lastwagen kann transportiert werden.
Die Rola eignet sich vor allem für heikle Güter (Hightech, Lebensmittel, Gefahrengüter).
Mit der Rola können die Alpen trotz Nacht-, Sonntags oder Ferien-Fahrverboten rund um die Uhr durchquert werden.
Die Fahrt dauert rund 9 Stunden. Sie gilt für Chauffeure als Ruhezeit.
Ein Nachteil der Rola ist die Energiebilanz: Im Vergleich zum Container-Transport hat sie mehr Tara (Leergewicht) zu befördern und kann weniger Güter pro Zugslänge mitführen.
Bei der Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene hat die Rola nicht Priorität.
Ziel der Schweizerischen Verkehrspolitik ist es, die Güter möglichst vom Ausgangs- bis zum Zielort auf der Schiene zu transportieren, also zum Beispiel bereits vom Ruhrgebiet bis Mailand, anstatt erst ab der Grenze.
Die Rola ist aber ein wichtiges Ergänzungsangebot zum unbegleiteten kombinierten Verkehr. Der Bund übernimmt einen Drittel der Kosten.
Der Anteil der Rola am gesamten alpenquerenden Gütertransport (Schiene und Strasse) beträgt 4,7% (7% des Schienengüterverkehrs).
63,9% der Güter, welche die Alpen 2011 in der Schweiz durchquerten, wurden auf der Schiene transportiert, 36,1% auf der Strasse.
Die österreichische Rola am Brenner transportiert 2011 zwar fast dreimal so viele Lastwagen wie die schweizerische, aber auf einer viel kürzeren Distanz. Die französische Rola am Mt. Cenis befördert deutlich weniger.
(Quellen: Ralpin AG und Bundesamt für Verkehr)
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