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Wohlstandsmotor und Achillesferse der Schweiz

Der Bergsturz bei Gurtnellen zerstörte das Trassee der Gotthardbahn. Der verschüttete Bauarbeiter musste aus Sicherheitsgründen mit einem ferngesteuerten Bagger (rechts) geborgen werden. Keystone

Der Bergsturz im Kanton Uri, der die zentrale Eisenbahnlinie zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verschüttet hat, zeigt, welche Bedeutung die alpenquerenden Verbindungen für die Schweiz haben. Eine heikle Abhängigkeit.

Wer die Schweizer Alpen per Bahn oder Strasse durchqueren will, hat zwei Alternativen: Den Gotthard (Schiene oder Strassentunnel) in der Zentralschweiz oder die Achse Lötschberg-Simplon (Schiene oder Simplon-Passstrasse) in den Kantonen Bern und Wallis.

Die direktere und schnellere Verbindung Nord-Süd ist der Gotthard.

Ein Kenner dieser Achse, die jetzt wegen einem Bergsturz fast einen Monat blockiert sein wird, ist der Historiker Kilian Elsasser. Er hat unter anderem das Buch «Der direkte Weg in den Süden» zur Geschichte der Gotthardbahn geschrieben.

Was die Schweiz von den anderen Alpenländern unterscheide, sei die Tatsache, «dass ein relativ grosser Anteil des Güterverkehrs auf der Bahn durch die Alpen transportiert wird», sagt er.

Zwar habe der österreichische Alpenübergang am Brennerpass mit einer liberalen Transportpolitik den Gotthard heute als wichtigste Transitachse durch die Alpen abgelöst. Aber: «Im Eisenbahn-Transitverkehr ist der Gotthard immer noch die wichtigste Transitroute durch die Alpen.»

Kein Ausweg

Gemäss den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) befahren täglich etwa 120 Güterzüge die Gotthardroute. 2010 transportierten sie insgesamt 14,4 Mio. Tonnen Güter.

Einige der Güterzüge habe man auf die Simplonroute auslagern können. Doch für zahlreiche fehlen die Kapazitäten anderswo: Weil an der Achse Lötschberg-Simplon im Wallis und am Brenner gegenwärtig oder demnächst Sanierungsarbeiten durchgeführt werden müssen, sind diese Ausweichrouten keine echte Option.

Auch die grossräumige Umfahrungsmöglichkeit durch den Mont Cenis in Frankreich taugt laut Experten kaum als Alternative: «Der Mont Cenis ist bahntechnisch völlig anders ausgerüstet als die Schweizer Alpenbahnen, der Brenner ist überlastet», sagt Ulrich Weidmann, Professor am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Er rechnet deshalb mit «nennenswerten Ertragsausfällen».

Geringer Schaden

«Der Gotthard ist die kürzeste Verbindung zwischen Rotterdam, Rhein-Ruhr einerseits und der Lombardei und Genua andererseits. Damit ist er eine sehr wichtige Achse für den Güterverkehr, auch eine sehr kritische für die norditalienische Industrie», sagt Verkehrsökonom Rico Maggi von der Universität der italienischen Schweiz (USI).

Besonders der transalpine Güterverkehr zwischen der Deutschschweiz und Norditalien – mehr als ein Viertel der Gesamtmenge – habe eine grosse Bedeutung für den Wohlstand. Güter, welche die Schweiz nur passierten, hätten jedoch keinen Einfluss darauf.

Maggi hat während einer früheren Schliessung des Gotthards die Zeit- und Umwegkosten für den Güterverkehr für Transporte von und nach dem Tessin berechnet.

«Je kürzer der Unterbruch ist, desto eher werden die Unternehmen einfach ihre Logistik anpassen, indem sie Transporte verschieben können», sagt er. Somit entstünden lediglich Zusatzkosten für die Transporteure. Er schätzt bei der aktuellen Sperrung die Obergrenze auf 10 Millionen Franken.

«Es ist aber nicht so, dass wegen einer Schliessung von einem Monat grosse volkswirtschaftliche Schäden entstehen in dem Sinn, dass Unternehmen sich überlegen, wo sie sich überhaupt ansiedeln sollen.»

Kontroverse um zweite Strassenröhre

Was volkswirtschaftlich eher ins Gewicht fallen könne, sei «die Unzuverlässigkeit der Verbindung», so Professor Maggi. Es gehe in Zukunft darum, die Ausweichmöglichkeiten zu stärken.

«Der Witz am Gotthard ist nicht, dass man sich auf die eine Achse konzentriert, sondern dass man nicht willig ist, zwei voll ausgebaute Alternativen zu erstellen, nämlich einen Gotthard-Autobahntunnel mit vier Spuren und einen Gotthard-Basistunnel plus die Bergstrecke.»

Maggi spricht damit den Ausbau des Strassentunnels auf zwei Röhren an, ein Projekt, das heftig umstritten ist und über dessen Zukunft der Bundesrat demnächst informieren soll. Auch der Transportverband und der Kanton Tessin setzen sich für eine zweite Röhre ein.

Dagegen kämpft die Alpen-Initiative. Sie betont, der Wille des Schweizer Stimmvolks sei zu respektieren. Dieses hatte sich 1994 und 2004 in Volksabstimmungen gegen eine zweite Röhre ausgesprochen.

Nach der Sperrung der Bahnstrecke befürchtete besonders die Hupac AG, die Güter auf die Bahn bringt, die Transporteure könnten für längere Zeit der Schiene untreu werden und ihre Lastwagen nicht mehr verladen.

Maggi entkräftet die Ängste: «Die waren vorher nicht auf der Schiene, um die Welt zu retten, sondern weil es für sie Sinn machte. Somit werden sie auch auf die Schiene zurückkehren, sobald das möglich ist. Denn die kurzfristigen Anpassungen werden sie eher teurer zu stehen kommen, als der Transport auf der Schiene.»

Flaschenhals

Der Gotthard sei eine Achillesferse für die Schweiz, «und wird es auch bleiben», ist Ulrich Weidmann überzeugt. «Er ist ein Verkehrsweg in schwierigem topographischem Gelände und es gibt kaum valable Umfahrungsmöglichkeiten.» Die Bedeutung der Gotthardachse will er allerdings «im Kontext der gesamten verkehrspolitischen Fragestellungen der Schweiz doch etwas relativieren».

Eine Entschärfung der Abhängigkeit verspricht sich der Experte für Verkehrsplanung vom Gotthard-Basistunnel der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat), der gegenwärtig gebaut wird und der 2016 eröffnet werden soll. «Es bleiben gewisse heikle Passagen auf den Zufahrten. Doch die geologisch heikle Bergstrecke kann vollständig unterfahren werden.»

Für Bahnhistoriker Elsasser entsteht damit «eine neue Achse, die das Risiko vermindert, dass eine ganze Wirtschaft zusammenbricht, wenn eine Achse zeitweise geschlossen wird».

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Neat

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) umfasst mehrere Grossprojekte zur Verbesserung des Eisenbahn-Transitverkehrs auf der Nord-Süd-Achse. Die beiden Hauptprojekte sind der Gotthard-Basistunnel (57 km) und der Lötschberg (35 km). Ziel: Verlagerung des Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene. Die Projekte sind höchst umstritten, da das Gesamtbudget bereits mehrmals erhöht werden musste und die Fertigstellung in immer…

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Am 5. Juni donnern an der Gotthard-Bahnstrecke bei Gurtnellen im Kanton Uri mehrere zehntausend Tonnen Gesteinsmassen auf die Geleise.

Ein Bauarbeiter wird verschüttet, zwei Menschen werden mittelschwer verletzt. Sie waren mit der Sicherung von Felsen einer früheren Absturzstelle beschäftigt. Der Tote kann erst nach Tagen mit einem ferngesteuerten Bagger geborgen werden.

Am 18. Juni muss aus Sicherheitsgründen ein 2000 Kubikmeter grosses Felsstück an der Abbruchstelle weggesprengt werden.

Wegen dem Bergsturz bleibt die wichtigste Güterstrecke durch die Alpen laut Angaben der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) bis am 2. Juli gesperrt.

Um 1230: Eröffnung der Teufelsbrücke über die Schöllenenschlucht.

1830: Postkutsche transportiert Passagiere.

1882: Eröffnung des Bahntunnels, mit 15 km der längste der Welt.

1980: Eröffnung des Strassentunnels, mit 17 km der längste der Welt.

2016: geplante Eröffnung des Eisenbahn-Basistunnels, mit 57 km erneut Weltrekord.

Im Mittelalter habe die Gotthardachse lediglich eine regionale Bedeutung gehabt, erklärt Historiker Kilian Elsasser. Das Söldnerwesen sei damals wichtiger gewesen als der Güteraustausch.

Erst mit der Eröffnung des Bahntunnels 1882 habe der Gotthard eine zentrale Bedeutung für die Schweiz erlangt: «Sie war damals von grossen Nationalstaaten umgeben, und es war wichtig, herauszufinden, welche Aufgabe dieser Kleinstaat in der Mitte Europas übernehmen kann. Der Alpentransit durch die neutrale Schweiz war eine Aufgabe, die Deutschland, Frankreich aber auch Italien sehr nützte.»

Schliesslich habe es die Schweiz – neben dem Bankenwesen – auch der Gotthardachse zu verdanken, dass sie im II. Weltkrieg vor einem Einmarsch verschont geblieben sei. Dies habe die Bergier-Kommission mit ihrer Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im II. Weltkrieg gezeigt, so Elsasser.

«Nazideutschland brauchte eine Transitlinie durch die Alpen zum alliierten Italien, die durch ein neutrales Land führte. Denn der Brenner wurde immer wieder von den Amerikanern und Engländern stark bombardiert.»

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