«Die Löhne in der Schweiz wachsen, aber unterschiedlich»
Das Gefälle zwischen Arm und Reich hat in der Schweiz in den letzten Jahren leicht zugenommen, aber viel weniger stark als in Deutschland und den USA. Die Superverdiener haben allerdings auch im Alpenland kräftig zugelegt. Das zeigt eine Studie* von Forschern der Universität St. Gallen.
Die Ökonomen Reto Föllmi und Isabel Martinez haben anhand von Steuerdaten die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in der Schweiz unter die Lupe genommen.
Bei den Einkommen bestätigt sich der weltweite Trend: Seit den 1980er-Jahren hat der Anteil des reichsten Hundertstels der Schweizer Bevölkerung an den Gesamteinkommen von rund 8,5% bis 2008 auf 11 Prozent zugenommen. Gemäss der Studie ist in Ländern wie Deutschland und erst recht den USA sowohl der Anteil des reichsten Prozents der Bevölkerung deutlich grösser wie auch dessen Wachstum. Auch gegenüber der EU ist die Einkommensverteilung in der Schweiz ausgeglichener. Daniel Hug von der «NZZ am Sonntag» hat mit den Studienautoren gesprochen.
*Studie
Die Studie «Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz» wurde von den Ökonomen Prof. Reto Föllmi und Isabel Martinez der Universität St. Gallen durchgeführt. An der Finanzierung beteiligt hat sich das UBS Center of Economics in Society / Universität Zürich.
In der Schweiz zahlen die 10% Topverdiener gut zwei Drittel der Einnahmen der direkten Bundessteuer. Müssten die übrigen 90% der Steuerzahler nicht froh sein, dass Grossverdiener den Hauptteil der Steuerlast tragen?
Reto Föllmi: Die direkte Bundessteuer ist die progressivste Steuer in der Schweiz – und sogar eine der progressivsten der Welt. Sie setzt erst so richtig ein ab etwa 70’000 bis 80’000 Franken Einkommen. Daraus resultiert, dass die oberen Einkommen den grössten Teil dieser Steuer zahlen. Die bestverdienenden 20% zahlen rund 80% der Bundessteuer, sagt auch eine Studie von Economiesuisse. Allerdings ist auf der Ebene der Kantone seit den 1990er- und 2000er-Jahren eine Tendenz zu Steuersenkungen zu beobachten. Und dort sind die Steuersysteme nicht so progressiv ausgestaltet.
Die Topverdiener tendieren dazu, in steuergünstige Orte auszuweichen. So sinkt für sie die prozentuale Steuerbelastung – mit Ausnahme der Bundessteuer, die überall gleich hoch ist.
Isabel Martinez: Für Einkommen ab etwa 1 Mio. Franken sinkt der effektive Steuersatz, wie eine Studie von Kurt Schmidheiny von der Uni Basel zeigt. Mit einem strategisch gewählten Umzug in eine steuergünstige Gemeinde kann man die Progression brechen.
Reto Föllmi: Man müsste heute allerdings andere Diskussionen über die öffentlichen Finanzen führen, wenn die Einnahmen der Bundessteuern nicht stetig gestiegen wären: Sie haben dazu beigetragen, dass das Gesundheitswesen und der öffentliche Sektor in den letzten Jahrzehnten ausgebaut werden konnten.
Die bestverdienenden 10% in den USA haben ihren Anteil am Gesamteinkommen seit den 1980er-Jahren massiv steigern können, von 33 auf 47%. Die Schweiz ist ausgeglichener, der Anteil der Top-Verdiener wuchs nur von 30 auf 33%. Warum?
Föllmi: In der Schweiz sind die Löhne praktisch über alle Schichten hinweg gewachsen, wobei die obersten Gehälter stärker angestiegen sind als die mittleren. Die gute Berufsbildung hat es manchen Lohnbezügern erlaubt, in Führungspositionen aufzusteigen, und auch Leuten mit wenig formaler Bildung ermöglicht, am Lohnwachstum zu partizipieren. Die Schweiz weist eine der gleichmässigsten Lohnverteilungen der Welt auf, vergleichbar mit den skandinavischen Ländern…
Martinez: … und zwar schon vor der Umverteilung durch Steuern. Die Einkommen sind gleichmässiger verteilt als in den meisten anderen Ländern. Darum fällt auch die Umverteilung relativ gering aus. In den USA haben die Leute in den tieferen und mittleren Lohnklassen in den letzten Jahrzehnten real weniger verdient. Die Mittelklasse wurde ausgehöhlt.
Um zu den rund 450 Topverdienern in der Schweiz zu gehören, reichte in den 1980er-Jahren noch ein Reineinkommen von 2,5 Mio. Franken. Nun sind 60% mehr erforderlich, rund 4 Mio. Woran liegt das?
Föllmi: Zu diesem obersten Segment zählen Leute, die nicht nur Einkommen aus Arbeit erzielen, sondern auch aus ihrem Kapital. Zudem sind in diesem Personenkreis Boni wichtiger geworden. Insgesamt sind die Top-Einkommen überdurchschnittlich gestiegen.
Wie setzt sich die Gruppe der Topverdiener zusammen?
Föllmi: Die Schweiz ist ein Magnet für wohlhabende und reiche Leute. In der obersten Einkommensgruppe ist der Anteil der Leute, die ein internationales Einkommen beziehen, gestiegen. Darunter fallen weltweit tätige Unternehmer oder Manager. Unter den rund 450 Spitzenverdienern in der Schweiz ist der Anteil jener Personen, die einen Teil ihres Einkommens im Ausland versteuern, massiv gestiegen – von 8,5 auf über 30%. Dabei handelt es sich nicht um Pauschalbesteuerte. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich in der Schweiz die Klasse der Topverdiener globalisiert hat. Diese Personen sind vermehrt weltweit aktiv.
Martinez: Im obersten Promille der Einkommensbezüger waren die Schweizer noch in den 1970er Jahren noch quasi unter sich. Mit einem Anteil von knapp 10% spielten die Ausländer noch kaum eine Rolle. Nun ist ihr Anteil auf gut einen Drittel gestiegen. Wir wissen zwar nicht, wo diese Leute ihr Bürgerrecht haben, aber wir sehen, dass sie Direkteinkommen aus dem Ausland beziehen. Ich habe in einer laufenden Studie festgestellt, dass unter den bestverdienenden 1% in unserem Land der Anteil der im Ausland Geborenen auf über 40% gestiegen ist. Die oberste Schicht wird in der Schweiz viel internationaler.
Jugendliche, die Akademiker als Eltern haben, haben in der Schweiz eine viermal so hohe Chance, einen Uni-Abschluss zu machen wie Jugendliche mit Eltern ohne Uni-Abschluss. Haben wir da Reformbedarf?
Föllmi: Immerhin bieten sich in der Schweiz auch Schülern mit einem mittleren Schulabschluss deutlich mehr Möglichkeiten als in anderen Ländern. Ich stamme aus einer ländlichen Umgebung, damals war der Gang ans Gymnasium eher aussergewöhnlich.
Martinez: Die Schweiz hat ein sehr durchlässiges Bildungssystem, wenn jemand mit 20 Jahren noch nicht an der Universität ist, heisst das nicht, dass er später nicht doch noch einen tertiären Abschluss macht – dank dem zweiten Bildungsweg oder einer Fachhochschule.
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