«Keine Lösung in Sicht, doch wir geben nicht auf»
Seit fast drei Jahren steht er an der Spitze der Welthandels-Organisation (WTO). Der Brasilianer Roberto Azevedo glaubt nicht an einen raschen Abschluss der Doha-Runde. Im swissinfo.ch-Interview erklärt er auch, dass bilaterale Abkommen nicht immer eine Alternative für festgefahrene internationale Verhandlungen sind.
Er liebt es, am Wochenende Fussball zu spielen. Doch von Montag bis Freitag verbringt der brasilianische Diplomat einen Grossteil seiner Zeit in Sitzungszimmern, wo er die Schwierigkeiten zu umdribbeln versucht, die guten Handelsabkommen im Weg stehen.
swissinfo.ch: Welches Gewicht hat die Schweiz in ihrer Organisation, ausser dass sie Sitz der WTO ist?
Roberto Azevedo: Die Schweiz ist ein sehr aktives Mitglied in der Organisation. Sie setzt sich an mehreren Fronten sehr kompetent und konstruktiv ein. Ihre Delegation beteiligt sich am internationalen Abkommen im Bereich der Dienstleistungen sowie in der Landwirtschaft, einem sehr gut organisierten und entwickelten Sektor mit wichtigen Nischen in der Ernährungskette.
Natürlich ist ihre Teilnahme auch in den Bereichen Industriegüter und High-Tech sehr wichtig, mit der Frage der Patente und des geistigen Eigentums, die auch den Bereich Pharmazie betrifft.
In allen diesen Bereichen bestehen Interessen. Die Schweiz ist sehr präsent und verfügt über eine sehr kompetente Delegation. Ich würde sagen, die Schweiz spielt eine führende Rolle.
swissinfo.ch: Warum?
R.A.: Jeden Januar organisiert die Schweizer Regierung im Rahmen des World Economic Forum (WEF) in Davos ein kleines Ministerforum. Es ist klein, weil nicht alle Minister dabei sind, aber etwa 30 werden von der Schweizer Landesregierung eingeladen, um internationale Perspektiven zu diskutieren. Das nenne ich eine Führungsrolle.
swissinfo.ch: Besteht in nächster Zukunft eine Chance für den Abschluss der Doha-Runde (Verhandlungsrunde der WTO mit dem Ziel eines Abbaus von Handelsschranken in der Welt)?
R.A.: Nein, in unmittelbarer Zukunft nicht. Ich sehe keinen vielversprechenden Weg, die Verhandlungen zu deblockieren. Das heisst aber nicht, dass wir aufgeben. Wir überlegen uns konstant, wie man vorwärtskommen könnte, denn es geht dabei um sehr wichtige Themen.
Dazu gehört der Bereich der Agrarsubventionen. Wir können deshalb nicht aufgeben, aber dass wir ein Resultat der Runde erreichen könnten, so wie wir das 2001 entworfen haben, dafür sehe ich keinen Silberstreifen am Horizont.
Ich wiederhole jedoch: Die WTO ist nicht die Doha-Runde. Diese nimmt nur einen bescheidenen Teil unserer Arbeit hier ein. Während langer Zeit sorgte die Runde für grosse Schlagzeilen in den Zeitungen, und die Leute fingen an, die WTO mit der Doha-Runde gleichzusetzen. Doch das sind verschiedene Dinge, und viele Themen, über die wir zu diskutieren anfangen, gehören nicht zur Doha-Runde.
swissinfo.ch: Welches sind die grössten Schwierigkeiten, die den Abschluss der Doha-Runde verhindern?
R.A.: In der Realität hat sich vieles verändert. Von 2001 bis 2008 bei der Kerngruppe der Verhandlungen dabei waren die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Japan, Australien, Brasilien und Indien. Diese nannte man die Gruppe der sechs (G6).
2008, als wir uns hier in Genf trafen, um die Modalitäten festzulegen, nach denen die Runde abgeschlossen hätte werden sollen, setzte sich zum ersten Mal China mit an den Tisch. Mit anderen Worten: Die Verhandlungen waren während sieben Jahren geführt worden, ohne dass China bei den zentralen Gesprächen dabei war. Viele der Dinge, über die man bereits verhandelt hatte, machten nicht mehr viel Sinn, weil China in der Zwischenzeit der grösste Handelspartner der Welt geworden war.
Wir stiessen auf Schwierigkeiten, als wir die Verhandlungs-Architektur neu organisieren wollten, denn diese war für eine andere Welt entworfen worden, als wir sie heute kennen. Meiner Meinung nach ist das die grösste Schwierigkeit.
Roberto Azevedo
Der 58-Jährige ist gelernter Ingenieur. Er trat 1984 ins brasilianische Aussenministerium ein.
Azevedo war unter anderem auf den Botschaften in Washington und Montevideo sowie bei der Ständigen brasilianischen Mission in Genf tätig. Seit 2008 vertritt er Brasilien in der Welthandels-Organisation (WTO).
Im Mai 2013 wurde er – als erster Lateinamerikaner – für eine Amtsdauer von vier Jahren zum WTO-Generaldirektor gewählt.
Azevedo ist mit der brasilianischen Botschafterin in Genf, Maria Nazareth Farani Azevedo, verheiratet. Das Paar hat zwei Töchter.
swissinfo.ch: Hat sich die Welt wirklich derart stark verändert?
R.A.: Die Handelsströme sind betreffend Menge, Qualität, Waren und Wert komplett anders als jene von 2001. Es ist schwierig, diese Anpassungen vorzunehmen, da sich die politischen Positionen verändert haben.
swissinfo.ch: Müsste man einen Neuanfang ins Auge fassen?
R.A.: Das ist schwierig, weil man eine gewisse Anzahl an Dokumenten hat, die im Lauf der Jahre ausgehandelt wurden. Jene, die mit dem Resultat zufrieden sind, wollen nichts daran ändern, während jene, die das Gegenteil glauben, Änderungen wünschen. Diese Spannung herrscht die ganze Zeit, das ist wirklich eine schwierige Situation.
swissinfo.ch: Wie Sie schon sagten, ist die WTO nicht einfach die Doha-Runde. Welche Verhandlungen, von denen die Schweiz und der internationale Markt profitieren, konnten ausserhalb dieser Runde im Rahmen der WTO zum Abschluss gebracht werden?
R.A.: Verhandlungen in den Bereichen digitaler Handel, Investitionsförderung und Fischereisubventionen. Zudem im Bereich der kleinen und mittelgrossen Unternehmen (KMU), was sehr wichtig ist. Das gibt ein anderes Bild der WTO als jenes einer Organisation, die nur für grosse Konzerne tätig ist.
Ich bin der Meinung, man sollte die Teilnahme von KMU erleichtern, weil diese die grössten Jobmaschinen sind. In einigen Ländern beschäftigen sie sogar 90% der Arbeitskräfte. Dieser Meinung sind alle unsere Mitgliedsländer. Man muss dafür sorgen, dass auch die KMU vom internationalen Handel profitieren können.
swissinfo.ch: José Serra, Aussenminister der aktuellen Übergangsregierung Brasiliens, unterstrich die Notwendigkeit, eher bilaterale statt multilaterale Abkommen abzuschliessen, wie dies im Rahmen der WTO normalerweise der Fall ist. Was halten Sie davon?
R.A.: Er hat nicht genau das gesagt. Er sagte, Brasilien sollte bilaterale und regionale Abkommen weiterverfolgen, die seiner Meinung nach von der vorherigen Regierung aufgegeben wurden. Er glaubt, Brasilien sollte solche Abkommen nicht vernachlässigen. Ich bin absolut einverstanden damit, doch für Brasilien gibt es auch noch andere wichtige Dinge, die hier an der WTO verhandelt werden.
swissinfo.ch: Welche, zum Beispiel?
R.A.: Die brasilianische Delegation war sehr aktiv in der WTO tätig. Eines der für Brasilien wichtigsten Dossiers sind zum Beispiel die Agrarsubventionen. Dieses Problem wird kein bilaterales Abkommen lösen können; die Subventionierung der Landwirtschaft kann nur multilateral verhandelt werden.
Will Brasilien in einer Verhandlung dieser Art vorwärts kommen, muss es dies bei der WTO machen. Es gibt keinen anderen Ort. Die WTO ist eine wichtige Handelsplattform für den Agrarsektor.
swissinfo.ch: Und was wären mögliche bilaterale Verhandlungen?
R.A.: Ein Grossteil der Dossiers, wie Zolltarife oder mögliche Marktzugänge, sind vielleicht einfacher auf bilateraler Ebene zu verhandeln. Doch der regulatorische Teil, wie Abkommen über die Vereinfachung des Handels oder von Investitionen, all das kann nicht bilateral verhandelt werden. Das muss von der WTO übernommen werden. Beide Ansätze sind deshalb nötig, und ich denke, sie ergänzen sich auch.
WTO
Die Welthandels-OrganisationExterner Link (WTO) hat zum Ziel, den internationalen Handel zu überwachen und zu liberalisieren.
Die WTO wurde am 1. Januar 1995 gegründet. Sie basiert auf dem Abkommen von Marrakesch von 1994, welches das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) von 1947 ersetzte.
Der Organisation gehören gegenwärtig 162 Länder an. Sie beschäftigt an ihrem Sitz in Genf etwa 600 Personen.
Seit seinem Amtsantritt leitete Generaldirektor Roberto Azevedo zwei grosse Ministerkonferenzen, auf Bali (2013) und in Nairobi (2015), die zum Abschluss von wichtigen Handelsabkommen führten. In Nairobi beispielsweise führte eine dieser Vereinbarungen dazu, Agrarexport-Subventionen zu beseitigen. Experten sind der Ansicht, dies sei die wichtigste Reform im Agrarsektor seit der Gründung der WTO 1995.
Soll der Freihandel im Rahmen der Doha-Runde oder durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden? Sagen Sie uns Ihre Meinung in den Kommentaren.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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