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Jahre des Zorns

Ein Mann auf der Strasse
Anders als sein Name vermuten lässt, wird der "Krieg gegen den Terror" vor allem im Schatten durchgeführt. © Keystone / Gaetan Bally

Der bizarre Fall um Youssef Nada und die Rolle der Schweiz im "War on Terror". Eine Rückblende.

Hoch über dem Luganer See liegt die Villa Nada, abgeschieden und ruhig. Der Ausblick ist atemberaubend, man sieht von Lugano bis hinunter zum Monte San Giorgio, gegenüber liegt auf Augenhöhe der majestätische Monte San Salvatore.

Youssef Nada bittet hinein in sein Arbeitszimmer, die Ordner liegen schon alle auf dem Tisch. Er hat sie in letzter Zeit wieder oft durchgeblättert: Ermittlungsakten und behördliche Dokumente von mehreren Staaten, Zeitungsartikel, Bankunterlagen. Nada zeigt sie gern – und er zeigt sie oft, denn da sich 9/11 heuer zum zwanzigsten Mal jährte, wollten viele Journalist:innen wieder mit ihm darüber sprechen. Auch wenn ihm das aufgrund seines fortgeschrittenen Alters schwerer fällt als auch schon.

Was hat ein jetzt 90-jähriger Mann mit dem verhängnisvollsten Terroranschlag der jüngsten Geschichte zu tun? Nichts, wie heute klar ist. Aus damaliger Sicht aber – alles.

Youssef Nada in seinem Haus in Campione d Italia.
Youssef Nada in seinem Haus in Campione d’Italia. Giannis Mavris/swissinfo.ch

Knapp einen Monat nach dem 11. September 2001 begannen die ersten Bombardements in Afghanistan. Die USA und ihre Verbündeten jagten aber nicht nur Terroristen in Zentralasien, sondern auch ihre Gehilfen rund um den Globus. Ins Visier gerieten vor allem die vermeintlichen finanziellen Hintermänner. Darunter auch Youssef Nada, seine Bank Al Taqwa und weitere Personen, die mit ihr in Verbindung standen. Vorwurf: Unterstützung von Osama bin Laden und der Al-Qaida.

Am 7. November 2001 stürmten Einheiten seine Bank in Lugano und seine Villa im benachbarten Campione. Während Nada mit dem Bundesanwalt und den Polizisten diskutierte, die im Beisein seiner Familie sein Haus akribisch durchsuchten, sagte der amerikanische Präsident George W. Bush folgendes bei einer RedeExterner Link im amerikanischen Virginia: «Al Taqwa ist eine Vereinigung von Offshore-Banken und Finanzverwaltungsfirmen, die Al-Qaida dabei geholfen haben, Geld in der ganzen Welt zu verschieben.» Dafür gebe es «solide und glaubwürdige Beweise».

Youssef Nada schaut mit einer Mischung von Entrüstung und Ungläubigkeit zurück. «Es war komplett verrückt, was da geschah.» Der Präsident der USA hatte gerade vor laufender Kamera seine Bank als eine der zwei Hauptfinanciers von bin Laden und der Al-Qaida genannt. «Diese öffentliche Anschuldigung war für mich schlimmer als alle anderen Probleme, die danach auftauchten.»

Der Schattendiplomat

Zwei Aspekte von Youssef Nadas Leben sind in diesem Fall essenziell. Erstens seine wirtschaftliche Tätigkeit: Der Ägypter wurde 1931 in Alexandria geboren, kam zuerst durch die Produktion und den Handel von Milchprodukten in seinem Heimatland zu Wohlstand. Diesen setzt er danach ein, um im Bausektor einzusteigen. Ab den 1960er-Jahren ein höchst einträgliches Geschäft: Denn im Zuge der Dekolonisation fliessen viele Petrodollars in den Aufbau der neu gegründeten Staaten, Baumaterial wird dringend benötigt. «Sie nannten mich den König des Zements im Mittelmeerraum», sagt Nada mit einer Mischung aus Stolz und Nostalgie. Zu seinen besten Zeiten sei er in 25 Staaten tätig gewesen.

Später steigt er in den Bankensektor ein, seine Al Taqwa Bank ist im islamischen Banking tätig und hat Büros unter anderem in Lugano, in Liechtenstein und den Bahamas. Das Institut erleidet grosse Verluste im Zuge der grossen Asienkrise gegen Ende der 1990er-Jahre.

Der zweite Aspekt ist seine Mitgliedschaft bei den ägyptischen Muslimbrüdern. Bereits als 17-Jähriger tritt er der politisch-religiösen Bewegung bei, die im gesamten islamischen Raum vertreten ist. In manchen Ländern ist sie in die Regierung eingebunden, in anderen agiert sie im Untergrund. Die Bruderschaft hat viel Einfluss, erlitt in ihrer fast hundertjährigen Existenz aber auch viel Repression. Der junge Nada erfährt diese am eigenen Leib, als er als Student wegen seiner Mitgliedschaft eingekerkert wird. Zwei Jahre verbringt er in Gefangenschaft.

Bald darauf verlässt er Ägypten, bleibt aber zeitlebens in engem Kontakt mit den Brüdern. «Ich bin stolz darauf, ein Muslimbruder zu sein. Ich habe das nie verheimlicht, weder damals noch heute», sagt Nada.

Nada ist ein einnehmender Gesprächspartner, höflich und zuvorkommend, distinguiert im Auftreten. Es erstaunt nicht, dass er im Laufe der Jahre immer wieder von der Bruderschaft zur politischen Vermittlung eingesetzt wird. Denn als Grossindustrieller kommt er früh in Kontakt mit der politischen Sphäre: Er lernt Politiker:innen kennen, Mitglieder von Königshäusern, hochrangige Funktionäre. Im Laufe seines Lebens erhält er die Staatsbürgerschaften mehrerer muslimischer Länder, später auch die italienische. Wollen die Muslimbrüder eine Nachricht übermitteln, kommt Nada zum Zug: Er spricht im Irak mit Saddam Hussein, im Iran mit Aufständischen, in Afghanistan mit Warlords.

Und Nada empfängt auch bei sich zuhause: Die Villa Nada entwickelt sich zum inoffiziellen Aussenministerium der Muslimbruderschaft, so kolportieren es manche Zeitungen. Sicher ist: Nada empfängt in Campione viele einflussreiche Menschen, zumeist aus muslimischen Staaten, vom Maghreb bis Malaysia. Private Fotos bei ihm zuhause bestätigen das diplomatische Kaliber. Über viele seiner Begegnungen schreibt er in seiner autorisierten Biografie. Auf seinem Sofa sitzend, mit dem Luganer See im Hintergrund, sagt er heute lakonisch: «Es war ein bewegtes Leben.»

«Finanziell vernichtet»

Doch ab Herbst 2001 verwandelt sich seine Villa zu seinem Gefängnis – ein luxuriöses zwar, aber dennoch ein aufgezwungenes. Ab dem 9. November 2001, zwei Tage nach der Razzia, steht er auf einer sogenannten UN-Terrorliste. Mittels einer Resolution des UN-Sicherheitsrats gegenüber Personen und Organisationen mit Verbindungen zu «Usama bin Laden, der Gruppierung Al-Qaida oder den Taliban» wird er zum international Geächteten.

Italienische Carabinieri bei der Durchsuchung von Youssef Nadas Haus
Italienische Carabinieri bei der Durchsuchung von Youssef Nadas Haus am 7. November 2001. Keystone / Jo Locatelli

Die Staaten sind an diese Resolutionen gebunden, auch die SchweizExterner Link. Sie müssen alle finanziellen Mittel sperren, es gilt ein Reiseverbot für die Gelisteten. Da sich das Haus von Nada in der Gemeinde Campione befindet, einer italienischen Enklave auf schweizerischem Territorium, steht er für die nächsten Jahren praktisch unter Hausarrest – auf einer Landfläche von knapp einem Quadratkilometer.

Noch schlimmer sind die finanziellen Einschränkungen: «Ich hatte von einem Tag auf den anderen keinen Zugriff mehr auf mein Geld.» Seine Bank wird liquidiert, plötzlich kann er nicht einmal mehr die Ausgaben des täglichen Lebens decken, auch nicht das Studium der Kinder bezahlen. Nada will nicht weiter auf diese für seine Familie traumatische Zeit eingehen. Sein Fazit ist aber eindeutig: «Ich wurde finanziell vernichtet.» Nicht aber moralisch, sagt er mit Nachdruck.

Fast eine Randnotiz in dieser Geschichte ist eine Verurteilung in Ägypten: «Ich wurde von Husni Mubarak angeschuldigt, Terrororganisationen mit 100 Millionen unterstützt zu haben.» Nada lacht auf. «Ein Witz!» Zudem habe er zu dieser Zeit noch immer keinen Zugriff auf seine Konten gehabt. Es spielt keine Rolle: Nada wurde 2008 in absentia von einem Militärgericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Offiziell zu Ende geht die Geschichte am 23. September 2009: Youssef Nada wird nach acht Jahren von der UN-Terrorliste gestrichenExterner Link. Eine Anhörung dazu gibt es nicht, eine Begründung ebenfalls nicht. Und auch keine Entschuldigung.

Obwohl es mehrjährige nachrichtendienstliche und juristische Ermittlungen in zahlreichen Staaten gegen ihn gab, kam es nie zu einer Anklage im Zusammenhang mit der fatalen UN-Terrorliste. Eine späte Genugtuung erfuhr er 2012, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR einstimmig zum Schluss kamExterner Link, die Schweiz habe mit der strikten Umsetzung der UN-Resolutionen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK verstossen. Ein gutes Jahrzehnt nach 9/11 war das EGMR-Verfahren der einzige Gerichtsfall in der Causa Nada.

«Ich lebe wie ein Gefangener» – wir besuchten Youssef Nada 2008 in seinem Haus in Campione:

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«Ich lebe wie ein Gefangener»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Nada will nun den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen und auch ein Buch über seine Geschichte schreiben. swissinfo hat Nada in seiner Villa in Campione besucht. Die Villa von Youssef Nada liegt hoch über Campione, der italienischen Enklave am Luganersee. Der Ort ist nur via Schweiz erreichbar. Nada lebt bereits seit 1970 hier. Damals eröffnete…

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Dankbare Medien

Die Story fand ein grosses Echo in der Öffentlichkeit – denn sie war unschlagbar: Ein reicher ägyptischer Industrieller, bekennender Muslimbruder, der eine islamische Bank in der Schweiz führte und aus seiner abgeschiedenen Villa in einer mysteriösen italienischen Enklave den Lauf der Weltpolitik beeinflusste. Und der im Verborgenen als ein Financier von Osama bin Laden und seiner Terrorbande agierte. Die Medien stürzten sich auf die Geschichte.

Wie konnten sie auch nicht? Immerhin wurde Nada von den höchsten Kreisen der amerikanischen Politik der Terrorfinanzierung bezichtigt. Das von den amerikanischen Behörden vorgebrachte Argument, hinter den 9/11-Angreifern müsse ein finanzstarkes Netzwerk an Sympathisanten stecken, wurde breit aufgegriffen. Medien kolportierten, Al-Qaida und Osama bin Laden verfügten über ein weltumspannendes, hochkomplexes Finanzsystem, mit dem sie ihre Aktivitäten finanzierten. Da passte das Narrativ der «Bankiers des heiligen Krieges» (Magazin «Cash» vom 16.11.2001) – zu denen auch Youssef Nada gezählt wurde – wie die Faust aufs Auge.

Wie wenig jedoch für den vielleicht folgeträchtigsten Terroranschlag der Geschichte tatsächlich benötigt wurde, mutet heute geradezu absurd an: Der amerikanische Untersuchungsbericht zu 9/11 kam 2004 zum Schluss, dass Al-Qaida für die Angriffe rund eine halbe Million DollarExterner Link aufgewendet hatte. Gemessen an den Auswirkungen eine verschwindend geringe Summe.

Im aufgeheizten Klima nach den Anschlägen und der negativen Presse stellt sich daraufhin Nada den Medien, gibt viele Interviews: «Ich habe nie mediale Aufmerksamkeit gesucht, aber ich musste meinen Namen verteidigen.» Er ist noch immer wütend auf einige Journalisten, die sich mit seinem Fall profilieren wollten.

Exemplarisch sei der Fall eines Dokuments, das bei der Durchsuchung in seinem Haus gefunden wurde und in gewissen Medien unter dem Codenamen «The Project» figurierte. Gemäss Medienberichten handelte es sich um einen geheimen Strategieplan der Muslimbrüder zur Unterwanderung des Westens. Für Nada ist das nicht nur Unsinn, sondern auch gezielte Verleumdung. «Ich habe in meinem Leben tausende Zuschriften bekommen, sie haben das bei der Durchsuchung in einem Stapel von Papieren gefunden. Und dafür soll die Bruderschaft die Verantwortung tragen?»

Nada sucht die offizielle Übersetzung der Bundespolizei raus. Darin steht, das Dokument sei 1982 geschrieben, nicht signiert und habe keinen Autorennamen angeführt. «Aber natürlich wurde eine Verbindung zu den Muslimbrüdern gemacht. Das ist typisch.» Damit sei man dem Narrativ aller aufeinanderfolgenden ägyptischen Militärregierungen gefolgt, wonach die Bruderschaft – als grösste Oppositionskraft – eine terroristische Organisation sei.

Wieso ist ihm das so wichtig? In seiner autorisierten Biografie nimmt die Episode um das Dokument ebenfalls viel Platz ein. «So wurde der Eindruck kultiviert, es gebe einen Masterplan, um Europa zu islamisieren», erklärt Nada. Es sei auffällig, dass gewisse Journalisten – die er beim Namen nennt – das Thema energisch vorangetrieben hätten. «Sie müssen wissen: Diese Anschuldigungen wurden breit gestreut und von zahlreichen Nachrichtendiensten in Europa aufgegriffen.»

Schwerwiegender ist ein anderer Vorwurf: Ein Journalist der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera schrieb bereits in den 1990er-Jahren, Nada habe die palästinensische Hamas finanziert. Der Journalist habe laut eigenen Angaben Verbindungen zum FBI gehabt und bei eidesstattlichen Aussagen vor amerikanischen Behörden explizit den Namen Youssef Nada und seine Bank mit der Terrorfinanzierung in Verbindung gebracht. Nadas Schlussfolgerung: Die mediale Reproduktion dieser Vorwürfe – die im Nachgang von zahlreichen Medien aufgegriffen wurde – habe die amerikanischen Geheimdienste beeinflusst und später als Grundlage für seine vermeintliche Verbindung zu Al-Qaida gedient.

Nachzuprüfen ist das nicht. Bis heute ist unter Verschluss, auf welchen Informationen die amerikanischen Geheimdienste ihre Einschätzungen basiert haben. Nachzuvollziehen ist jedoch: Gegen die Bank Al Taqwa liefen in Italien bereits in den 1990er-Jahren Ermittlungen. Ein warnender Bericht der italienischen Anti-Terrorfahnder von 1995 landete bei der Schweizer Bundesanwaltschaft, später zitierten auch Medien daraus. Al Taqwa wurde darin als «wichtigste finanzielle Struktur der Muslim-Brüder» und damit verbundenen «extremistischen islamischen Organisationen» bezeichnet. Nada wurde aber auch in Italien nie wegen Terrorfinanzierung angeklagt, weder vor noch nach 9/11. Mit der Zeitung Corriere della Sera war er jahrelang in Gerichtsverfahren wegen Verleumdung involviert – er bekam 2011 Recht und eine finanzielle Entschädigung.

Er sei im Zuge von Schmierkampagnen gegen die Bruderschaft immer wieder angegriffen worden, sagt Nada. Für ihn ist klar: «Die ganze Angelegenheit war eine politische Entscheidung, um mich aus dem Weg zu räumen und die Muslimbruderschaft zu desavouieren.» Er deutet an, die Hintermänner zu kennen. Doch wer genau ein Interesse daran hätte, dazu will er nichts sagen.

Auf der Jagd

Wer ist Freund? Wer ist Feind? Nach den Anschlägen des 11. September 2001 prägte der amerikanische Präsident George W. Bush die Formel: «Entweder Ihr seid auf unserer Seite oder Ihr seid auf der Seite der Terroristen.» Das zwang Regierungen, sich zu positionieren – wobei das keine wirkliche Wahl war. Als im Zuge des «War on Terror» die Jagd nach Terroristen und ihren Helfershelfer begann, setzten viele ihr ganzes Arsenal ein. In den WortenExterner Link eines ehemaligen hochrangigen CIA-Funktionärs: «Nach 9/11 wurden die Handschuhe ausgezogen.»

Campione d Italia
Die italienische Enklave Campione d’Italia im Tessin. Keystone / Alessandro Della Bella

Nur: Wo mit der Jagd beginnen? Womit die Ermittler:innen in der Schweiz im Fall Nada zu kämpfen hatten, wird bereits aus einem Zwischenbericht der Bundeskriminalpolizei vom Januar 2002 ersichtlich: «Es sei hier offen erwähnt, dass viele Erkenntnisse auf Vermutungen beruhen und sich nach heutigen Ermittlungsstand nicht beweisen lassen.» Und dann noch einmal klarer: «Hinweise für eine Terrorfinanzierung, oder Terrorunterstützung wurden bisher auch nicht ansatzweise gefunden.»

Die Behörden kamen dennoch unter Zugzwang. Sicherlich habe die Schweiz in gutem Glauben gehandelt, sagt Jean-Paul Rouiller – und zwar nicht nur in diesem Fall. Er leitet heute die Terrorism-Joint Analysis GroupExterner Link beim Geneva Centre for Security Policy GCSP und war zu jener Zeit bei der Bundeskriminalpolizei auch in der Causa Nada involviert. «Unser erster Impuls war natürlich, den Amerikaner:innen so gut wie möglich zu helfen.» Die amerikanischen Behörden seien immerhin stets als zuverlässige Partner wahrgenommen worden.

Für ihn ist klar, dass es – aus heutiger Sicht – nach den Anschlägen eine Überreaktion der USA gegeben habe. Dass diese jedoch keine nachrichtendienstliche Basis gehabt habe, lässt er nicht gelten. Zum Fall Nada will er sich nicht im Detail äussern. Er weist jedoch darauf hin, dass sich die Vorgehensweise der USA und der Schweiz bei der Verwertung nachrichtendienstlicher Informationen stark unterschieden – die Schweiz hat einen weniger politisierten Ansatz, rechtstaatliche Überlegungen dominierten.

Ebenfalls ist für Rouiller klar, dass zur Zeit von 9/11 viel weniger Expertise betreffend islamistischen Extremismus zur Verfügung stand. «Es gab klare Fehlwahrnehmungen.» Das galt insbesondere auch im Zusammenhang mit dem islamischen Banking, das Nada betrieb: Finanzinstrumente nach islamischem Kodex werden heute selbst von westlichen Banken angeboten, waren aber um die Jahrtausendwende wenig bekannt – auch den ermittelnden Behörden, denen Nada so wohl erst recht verdächtig erschien.

«Ein einziger Skandal»

Deutlichere Worte findet der frühere Ständerat Dick Marty: «Die Geschichte war ein einziger Skandal.» Dass jemand auf einer Sanktionsliste der UNO landen könnte, ohne dass ein Verfahren eröffnet werde, ohne je dazu befragt zu werden, ohne die genauen Vorwürfe zu kennen und ohne eine Beschwerdemöglichkeit zu haben – «ich konnte das zunächst gar nicht glauben.»

Marty ist Tessiner, über einen gemeinsamen Bekannten erfuhr er von Youssef Nada. «Ich traf mich mit ihn, nicht als Anwalt, sondern in meiner Funktion als Politiker und Menschenrechtler.» Auch ihm wurde schnell klar, dass an den Vorwürfen nichts dran sei. Als ehemaliger Tessiner Staatsanwalt sei ihm übrigens auch Nadas Finanzinstitut nie aufgefallen, das zu diesem Zeitpunkt immerhin seit drei Jahrzehnten von Lugano aus arbeitete.

Dick Marty im Europarat, 2011.
Dick Marty im Europarat, 2011. Keystone / Martin Ruetschi

Marty war es, der Nada bewog, Beschwerde gegen das von der Bundesanwaltschaft eröffnete Verfahren einzulegen. «Nada wollte zunächst nicht. Er dachte es stehe ihm nicht zu, gegen die Schweiz vorzugehen, die er als sein Gastland empfand.» Doch Marty überzeugte ihn: «Für unseren Rechtstaat war diese Beschwerde enorm wichtig.»

Trotz vieler juristischen Unwägbarkeiten erhielt Nada vor dem Bundesstrafgericht Recht. Die Bundesanwaltschaft musste 2005 das Verfahren gegen ihn einstellen – es dauerte nochmals vier Jahre, bis er von der UN-Sanktionsliste gestrichen wurde. Der erwähnte Gang zum EGMR in Strasbourg erfolgte wiederum auf Vorschlag von Marty. Aber auch da wurde das Hauptproblem der UN-Resolutionen klar: Diese sind übergeordnetes Recht, die Staaten müssen sie auch dann anwenden, wenn sie gegen ihre eigenen Gesetze verstossen.

Dass eine Organisation wie die UNO, die sich für die Werte der Demokratie und des Rechtstaates weltweit engagiert, so etwas durchführte, war für Marty skandalös. Aber mittlerweile hatte er sich an diesen Umstand gewöhnt – denn er hatte auch von anderer Seite Einblick in höchst fragwürdige Vorgänge im «War on Terror». Von 1998 bis 2011 war er Abgeordneter im Europarat. Durch seine Berichterstattung über die geheimen CIA-Gefangenenlager und Gefangenentransporte in Europa sorgte er ab 2006 im Gremium für viel Aufregung – und brachte die Thematik der berüchtigten black sites in die Medien. «Das lief parallel zur Geschichte um Youssef Nada.»

Die Empörung von damals ist Marty noch immer anzuhören. Auch an der Schweiz übt er scharfe Kritik: «Keine Behörde hatte den Mut, sich gegen die Amerikaner aufzulehnen. Sie sind zudem von den USA gezielt manipuliert worden.» Bezeichnend sind Unterlagen, die das Schweizer Fernsehen bekannt machte. Nach Anfangsermittlungen schrieb der zuständige Bundesanwalt nach Washington, er sei «enttäuscht» von den zugestellten Informationen: Diese seien «oberflächlich» und «unbrauchbar.»

Hier finden Sie die SRF Rundschau, die aus dem Schreiben der Bundesanwaltschaft zitierte (ab Minute 30.00):

Externer Inhalt

Marty weist noch auf etwas anderes hin: Nada wurde auch von den US-Terrorlisten entfernt: «Und das ist ein eindeutiges Zeichen. Solange es nämlich den kleinsten Verdacht gegen Sie gibt, bleiben Sie auf dieser Liste.»

Die Schweiz hat im Nachgang immerhin gewisse Änderungen bei den UN-Sanktionen der Geld- und Reisesperren erreicht: So wurde eine Härtefallregelung eingebaut, damit die Betroffenen Geld für ihre Lebenshaltungskosten abheben können. Zudem wurde ein De-Listing-Verfahren geschaffen: Damit wurde überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, dass gelistete Personen eine Überprüfung ihres Status erreichen konnten – das war zunächst nicht vorgesehen. Die wichtigste Errungenschaft, an der die Schweiz gemeinsam mit anderen Ländern beteiligt war, war die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle. Auch wenn deren Einfluss moderat ausfällt, ist sie doch ein minimales Korrektiv zum Sanktionsausschuss, der die relevanten Entscheide trifft. Dennoch ist das für Marty nicht genug: «Die Schweiz hätte deutlich mehr machen können.»

Ob gegen Nada ein Komplott geschmiedet wurde, wie dieser andeutete – darauf will Marty nicht eingehen. Aber auch er glaubt, dass die Geschichte noch nicht fertig erzählt ist.

Was bleibt?

In der Schweiz jedenfalls führten die UN-Listen zu keinem Verfahren. Auf Anfrage schreibt das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft Seco: «Von den Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegenüber der Al-Qaida und den Taliban waren bisher weniger als zehn Personen und Organisationen aus der Schweiz betroffen. All diese Personen und Organisationen fallen seit vielen Jahren nicht mehr unter die Sanktionsmassnahmen, zum Beispiel weil sie von der Sanktionsliste gestrichen wurden.» Zu weiteren Einzelheiten, etwa betreffend gesperrte Vermögen, macht das Amt keine Angaben.

Die Geschichte um die UN-Terrorlisten ist aber auch zwanzig Jahren nach 9/11 nicht vorbei. Die erwähnte Stelle der Ombudsperson, die darüber wacht, gibt es noch immer. Seit 2018 wird sie vom Schweizer Daniel Kipfer Fasciati besetzt – jedoch nur noch bis Ende Jahr. Der ehemalige Bundesstrafrichter hat seine KündigungExterner Link eingereicht, bei der er deutliche Kritik übte. So bemängelt er die fehlende institutionelle Unabhängigkeit seines Postens und die vertragliche Absicherung der Ombudsperson. Es fehle an Elementarem: Von einem diplomatischen Status – ohne den auf dieser Ebene der Weltpolitik vieles nicht möglich ist – bis hin zu einer Krankenversicherung.

Gemäss eines BeitragsExterner Link des renommierten Magazins Foreign Policy ist das kein Zufall: Aus einer langen Reportage, bei der auch die Vorgängerinnen von Kipfer Fasciati zu Wort kommen, wird ersichtlich, dass diese Behinderung gewollt ist. Solange die Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat das nicht anders entscheiden, hat die Ombudsperson nur begrenzten Einfluss. Ein Wandel ist nicht in Sicht: Das Instrument der Terrorlisten, die praktisch ohne juristischem Kontrollmechanismus erstellt werden, scheinen weiterhin ein beliebtes Mittel im «War on Terror» zu sein.

Und Nada? Sein Einsatz für seine Bruderschaft geht weiter: Während dem Gespräch erhält er Anrufe von arabischen Medien, er setzt sich für inhaftierte Muslimbrüder in Ägypten ein, mischt sich in die öffentliche Debatte ein. Abgesehen davon will der Ägypter seinen Lebensabend in Campione geniessen, er hege keinen Groll mehr. «Ich habe mich immerhin gegen die Weltmacht behaupten können.»

Der Schweizer Richter Daniel Kipfer wachte drei Jahre als Ombudsperson über die im Text erwähnte UN-Terrorliste. Lesen Sie hier unser Porträt über ihn:

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Daniel Kipfer wachte drei Jahre als Ombudsperson über die wichtigste Terrorliste der UNO. Ein Porträt.

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