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Zu alt für den Job, zu jung für die Rente

Die Regierung will verankern, dass ältere Angestellte länger arbeiten. Dazu brauchen diese bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Keystone

Die Politik verlangt, dass Menschen länger arbeiten müssen. Tatsächlich aber ist nur ein Prozent aller Jobs für Leute über 45 Jahren vorgesehen. Damit diese auf dem Arbeitsmarkt mehr reale Chancen haben, sind Massnahmen nötig.

Das Büro der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) in Bern ist voller grosser Pflanzen. Durch das Fenster dringt lautes Vogelgezwitscher. Den Menschen aber, die hierher kommen, steht der Sinn nicht so nach Frühling. Sie haben ihre Arbeitsstelle verloren, und einen neuen Job zu finden, ist für viele schwierig bis sehr schwierig. Je näher jemand dem Pensionsalter ist, desto geringer sind seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt auf einen neuen Job.

Theresa Muggli ist eine von 160 Beraterinnen und Beratern bei den insgesamt 14 RAV, die der Kanton Bern betreibt. Jährlich gehen weit über 100 Kundendossiers durch Mugglis Hände, jeden Tag berät sie fünf bis sechs Stellenlose. Heute ist als erste Renata Rieder (Name geändert) dran. Die 55-Jährige spricht mit sanfter Stimme und trägt eine randlose Brille und einen blauen Pullover.

«Wir waren alle bedrückt», berichtet Rieder von einem Kurs, den sie und neun andere Arbeitslose besucht hatte. Ziel der von Muggli angeordneten Weiterbildung war die Aktualisierung von Rieders Lebenslauf für das Bewerbungsdossier. Rieder, die über ein Handelsdiplom verfügt, ist seit zweieinhalb Monaten beim RAV gemeldet. Nach 20 Jahren in derselben Firma hatte sie gekündigt, weil sie sich gemobbt fühlte.

Heute gehe es ihr «viel besser», berichtet Rieder, wurde sie doch für ein viermonatiges Praktikum in einem Büro der Bundesverwaltung ausgewählt. Dadurch kommt sie einerseits zu Referenzen, andererseits verhindert der Einsatz eine Lücke im CV. Und im Hinterkopf bleibt immer die Chance, dass sie dort eine dauerhafte Anstellung erhält.

Rieder aber weiss genau, dass Angehörige ihrer Generation im Wettbewerb einen schweren Stand haben. «Zwar haben wir eine sehr grosse Berufserfahrung. Aber unser Handicap ist, dass wir vor 30 Jahren ausgebildet worden sind», sagt sie. «Heute sind junge Menschen ganz anders ausgebildet, sie können mit Computer und Internet umgehen. Für uns Ältere ist es schwierig, da mitzuhalten.»

Jobsuche im Alter verlangt Ausdauer und Optimismus. Dazu kann ein Coach viel beitragen. «Wir gehen Schritt für Schritt vor», sagt Theresa Muggli zu ihrer Klientin Renata Rieder, «es kommt schon gut.»

Subtile Diskriminierung

Jobsuche heisst normalerweise, eine passende Stelle ausfindig zu machen und sich darauf zu bewerben. Was aber, wenn gar keine Jobs angeboten werden? Stelleninserate, die auf der grössten Schweizer Internet-Jobbörse publiziert sind, würden ältere Bewerber benachteiligen, kam 2015 eine Studie zum Schluss, die von der Zeitung «Tages-Anzeiger»in Auftrag gegeben worden war.

Gemäss Studie richtete sich von knapp 25’000 Inseraten fast die Hälfte, nämlich 43%, an Kandidaten einer bestimmten Altersgruppe. Rund 200 Inserate betrafen zwar Bewerber zwischen 35 und 65 Jahren, aber die meisten betonten, dass das Idealalter bei 35 Jahren beginne. Nur 20 Inserate richteten sich ausdrücklich an Personen zwischen 45 und 65.

Markus Widmer, Leiter einer RAV-Zweigstelle in der Hauptstadt Bern, weiss, dass viele Firmen Bedenken und Vorturteile gegen die Einstellung von älteren Mitarbeitern haben. «Sie meinen, dass diese nicht mehr so schnell seien, weniger flexibel, weniger geübt im Umgang mit Computern und sozialen Medien, und mehr kosteten», so Widmer.

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Anders tönt es vom Schweizer Innenminister Alain Berset. Am Berliner Forum für Demographie vom März 2015 sagte der Bundesrat, dass die weltweiten Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung als Chance betrachtet werden müssten. «Die Überalterung der Bevölkerung zwingt uns, alle, die arbeiten können, in die Wirtschaft einzubeziehen.»

Die Vorgabe der Regierung und die Praxis auf dem Arbeitsmarkt sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe: Ende 2014 hatten laut Bundesamt für Statistik nur 75% der Personen über 55 Jahre eine Stelle, während es bei der Gruppe der 25- bis 54-Jährigen über 90% waren.

Drei Übergangs-Modelle

Novartis

Mit dem Programm «Prime Force» können pensionierte Mitarbeiter ihr Wissen und ihre Fähigkeiten auch nach dem Austritt an jüngere Kolleginnen und Kollegen weitergeben. Aktuell sind 65 Rentner eingeschrieben; 35 von ihnen sind aktiv.

Migros

In der «Bogenkarriere» gibt der grösste Arbeitgeber der Schweiz älteren Angestellten die Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten zu reduzieren, Management-Funktionen abzugeben zugunsten eines kleineren oder eines Spezialbereichs. Nach längeren Absenzen wegen Krankheit ist auch ein Funktionswechsel möglich.

SBB

Die Schweizerischen Bundesbahnen mit 30’000 Angestellten bietet mehrere Modelle: Arbeitszeitreduktion bei längerer Arbeitszeit über das Rentenalter hinaus oder ein «Sparguthaben» für Überzeit, Boni und andere Zahlungen, die für verlängerte Ferien oder eine Reduktion der Arbeitszeit verwendet werden können.

Die Einstellung älterer Mitarbeiter ist letztlich also eine politische Frage. Gehen die Baby Boomer in Rente, wird der Arbeitskräfte-Pool kleiner. Zudem hat das Schweizer Stimmvolk 2014 an der Urne Kontingente für Arbeitskräfte aus dem Ausland eingeführt. Als ausgleichende Massnahme will die Regierung nun den Inländervorrang verankern. Daneben sollen ältere Arbeitende möglichst lange beschäftigt bleiben.

«Niemand weiss, wie sich die Wirtschaft in den nächsten 10 Jahren entwickeln wird. Die Entwicklung der Demographie kennen wir jedoch genau», sagt Valentin Vogt, Präsident des Schweizer Arbeitsgeberverbandes. Aber erstaunlicherweise würden die meisten, Wirtschaftsbosse inbegriffen, nicht sehen, was aktuell genau passiere.

Schweizer Arbeitgeber würden erst an Ältere denken, wenn sie keinen passenden jungen Schweizer finden könnten, sagt RAV-Leiter Widmer. Was also tun, um diese Haltung zu ändern?

Austauch für die beste Praxis

Im Januar haben die Arbeitgeber und der Dachverband Economiesuisse die Initiative «Zukunft Arbeitsmarkt Schweiz» lanciert. Ihr Ziel: Die Erhöhung der Anteile von Älteren, Frauen und Behinderten auf dem Schweizer Arbeitsmarkt.

So solle das vorhandene Arbeitskräfte-Potenzial besser ausgeschöpft werden, betont Vogt. Ein Drittel der Arbeitenden würden vorzeitig pensioniert. Diese Menschen sollten laut Vogt motiviert werden, länger im Arbeitsprozess aktiv zu bleiben.

Novartis, Migros und die Schweizerischen Bundesbahnen: Drei Grossunternehmen, die Programme mit flexiblen Lösungen betreffend ältere Mitarbeiter umsetzen. Mit «Zukunft Arbeitsmarkt Schweiz» sollen diese privaten Initiativen nun schweizweit gefördert werden.

«Man muss nichts neu erfinden, denn viele Firmen sind hier schon vorangegangen», sagt Vogt. Er empfiehlt den Erfahrungsaustausch untereinander, um zu eruieren, welche Lösungen sich bereits gut bewährt haben.

Das RAV in Wohlen im Kanton Aargau hat die Kampagne 50+ initiiert, ebenfalls mit dem Ziel, die Chancen für ältere Arbeitskräfte auf dem Markt zu erhöhen. Plakate zeigen Arbeitende über 50, und eine Zahl dazu. Doch diese bezieht sich nicht auf das Alter der Person sondern auf die Berufserfahrung. 2013/14 hat sich so in Wohlen die Zahl der «Ü50-Arbeitskräfte», die eine neue Stelle fanden, um 61% erhöht. Im ganzen Kanton Aargau betrug die Erfolgsquote 51%, während es im landesweiten Durchschnitt lediglich ein Plus von 15% gab.

Ein Patentrezept existiert laut Valentin Vogt nicht. «Das Ganze ist wie ein Puzzle, das man aus vielen kleinen Einzelteilen zusammensetzen muss. Es gibt nicht eine Massnahme, die zum Ziel führt, es sind Eintausend Massnahmen.»

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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