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«Mobilität hat per se keinen Wert»

Ärgernis Stau: Soll die Strasse ausgebaut werden? Keystone

Auf der Strasse wie auf der Schiene werden in der Schweiz immer mehr Kilometer zurückgelegt. Bahnbenützer beklagen überfüllte Züge, Autofahrer ärgern sich über zunehmende Staustunden. Die Autolobby fordert mehr Geld für den Ausbau der Strassen-Infrastruktur. Verkehrsexperte Ueli Haefeli plädiert hingegen für eine pragmatischere Verkehrspolitik.

Drei Milliarden Franken an Mineralölsteuern werden ausschliesslich in den Strassenbau fliessen – anstatt wie bisher nur die Hälfte davon, wenn das Schweizer Stimmvolk anfangs Juni Ja sagt zur «Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung». Ist diese sogenannte Milchkuh-Initiative ein Schritt in die richtige Richtung, um die Verkehrsprobleme von heute und morgen zu lösen? Ueli Haefeli, Titularprofessor der Universität Bern, kommt zu einem anderen Schluss. 

swissinfo.ch: Welches sind die grössten Verkehrsprobleme der Schweiz aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Sicht?

U.H.: Die grössten Probleme liegen meines Erachtens in den unerwünschten und nicht beabsichtigten Nebenwirkungen: Klimaerwärmung, Flächenverbrauch. Das Verkehrssystem selber funktioniert ganz gut. Im Alltag nerven sich die Leute aber natürlich über Staus auf der Strasse und überfüllte Züge. 

Prof. Ueli Haefeli ist Gesellschafter und Bereichsleiter «Verkehr, Umwelt und Energie» bei Interface, Institut für Politikstudien GmbH, Luzern, und Titularprofessor für ‹Nachhaltige Mobilität› an der Universität Bern. zvg

swissinfo.ch:  Die Stauphänomene haben in der Schweiz zugenommen. Ist ein Ausbau der Infrastruktur das beste Mittel dagegen?

U.H.: Es gibt viele andere Möglichkeiten. Insgesamt sind die Strassen fast nie überlastet. Es geht deshalb auch darum, den Verkehr über den Tag hinweg besser zu verteilen und Pendlerspitzen zu brechen.

swissinfo.ch:  Leicht gesagt, aber wie soll das geschehen?

U.H.: Mit anderen Arbeitszeit-Modellen, mit mehr Home-Office. Man könnte aber auch ein Mobility Pricing einführen, wo die Mobilität während der Spitzenzeiten teurer ist, um die Infrastruktur gleichmässiger auszulasten.

Langfristig am wirkungsvollsten ist die Raumplanung, der Versuch, die Landressourcen so zu nutzen, dass möglichst wenig Verkehr entsteht. Hier besteht noch ein grosses Handlungspotential.

Der überwiegende Teil der Staustunden entsteht in den Agglomerationen. Man kann dort zwar die Infrastruktur noch stärker ausbauen, aber je näher man der Ausbaugrenze kommt, umso so teurer wird es. Es braucht immer mehr kostspielige Kunstbauten wie Tunnel oder Brücken. Aber sind die Verkehrsteilnehmer auch bereit, dafür aufzukommen?

Der Vergleich zwischen den USA, wo fast ausschliesslich das Auto zählt, und Japan, das stärker auf den öffentlichen Verkehr setzt, zeigt, dass ein japanischer Haushalt weniger als die Hälfte für Mobilität ausgibt als ein amerikanischer.

swissinfo.ch: Mit der Milchkuh-Initiative wären viele zusätzliche finanzielle Mittel vorhanden…

U.H.: Im Moment schon. Aber früher oder später nehmen die Mineralöl-Steuererträge ab. Ausserdem hat die Förderung des einen Verkehrsmittels einen Attraktivitätsverlust des anderen zur Folge. Wenn man den Individualverkehr fördert, steigen die Leute tendenziell vom ÖV [öffentlicher Verkehr] auf den Privatverkehr um. Das führt dazu, dass die Stauphänomene, die man bekämpfen möchte, genau gleich wieder entstünden, aber auf einem kostspieligeren Niveau.

Hinzu kommt das Problem der Landschafts-Zersiedelung. Der Strassenverkehr ist deutlich flächenintensiver als der öffentliche. Wer ein Auto hat, verbraucht im Vergleich zu ÖV-Benutzern ein Vielfaches des Platzes. Ich plädiere dafür, über clevere Lösungen nachzudenken.

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swissinfo.ch:  Nicht nur Staus, auch überfüllte Züge sind ein öffentliches Ärgernis. Für manche Passagiere in der Schweiz gilt ein Zug bereits als überfüllt, wenn kein freies Abteil zur Verfügung steht. Wie definiert der Wissenschaftler einen überfüllten Zug?

U.H.: Wir Schweizer sind verwöhnt. Über kurze Strecken – höchstens dreissig Minuten – ist es zumutbar, keinen Sitzplatz zu haben …

swissinfo.ch: … was in der Schweiz eher selten vorkommt.

U.H.: Auf der Strecke Luzern – Zürich zum Beispiel kann man in Spitzenzeiten nicht mit einem Sitzplatz rechnen. Aber bei den meisten Zugsverbindungen besteht das Problem nicht.

swissinfo.ch: Gibt es im ÖV trotzdem Ausbau-Bedarf?

U.H.: Ja, weil eines der politischen Ziele die Energiewende ist, d.h. eine Bewältigung des Verkehrs mit weniger Energie. Und dies erreicht man sicher nicht mit mehr Individualverkehr, weil das Privatauto nicht nur mehr Platz, sondern auch sehr viel mehr Energie pro Kilometer braucht als ein gut besetzter ÖV.

In der pragmatischen, parteiunabhängigen Verkehrspolitik besteht weitgehend Konsens, dass das zu erwartende Verkehrswachstum – infolge Einwanderung oder zunehmender Pendler-Bewegungen – hauptsächlich vom ÖV bewältigt werden sollte. Wer in einer Gemeinde Baudirektor ist, müsste zu dieser Haltung kommen.

swissinfo.ch: Auch der ÖV braucht Energie, und dessen Ausbau führt eher selten zu einer Abnahme des Individualverkehrs im gleichen Ausmass…

U.H.: Weil es wie gesagt ein Wachstum gibt, und weil jedes Angebot eine Nachfrage schafft. Das gilt für Strassen wie für Zugsverbindungen. Leere Züge verursachen pro Kopf auch sehr viel Energie. Man darf keine Scheuklappen haben, irgendwo einen Bus einzusetzen, wenn eine Schienenverbindung nicht mehr tragbar ist.

Umgekehrt muss man auch als Autofahrer bereit sein, manchmal den ÖV zu benützen. Die Schweizer Bevölkerung ist im internationalen Vergleich sehr multimodal [teils mit dem Privatfahrzeug, teils mit ÖV, N.d.R.] unterwegs. Vor allem junge Leute sind damit aufgewachsen.

swissinfo.ch: Die grössten Verkehrsprobleme seien die negativen Nebeneffekte wie Klimaerwärmung, sagten Sie. Müsste man die Mobilität nicht generell einschränken statt ausbauen?

U.H.: Die Anzahl Arbeits- oder Freizeitwege liegt pro Person zwischen drei und vier. Das hat sich in den letzten hundert Jahren gar nicht stark verändert. So gesehen sind die Leute nicht mobiler geworden.

swissinfo.ch: Aber die Distanzen werden immer länger.

U.H.: Ja genau, dort liegt meines Erachtens das Problem. Wenn ich mein Butterhörnchen im Einkaufszentrum holen muss, weil die Bäckerei um die Ecke verschwunden ist, lege ich zehn Autokilometer zurück, anstatt fünfzig Meter zu Fuss zu gehen. Deshalb sollten wir unsere Welt so einrichten, dass die kurzen Wege gegenüber den langen gefördert werden.

swissinfo.ch: Ist unsere Mobilität zu teuer oder zu günstig?

U.H.: Stark subventioniert ist sowohl der ÖV wie de facto auch der private Motorfahrzeug-Verkehr, der erhebliche ungedeckte Nebenfolge-Kosten verursacht. Beide Verkehrsträger sind zu billig. Deshalb wäre es angebracht, vermehrt über Kostenwahrheit zu sprechen.

In unserer Gesellschaft ist Mobilität sehr positiv konnotiert, im Sinn von «je mehr, umso besser». Manche Politiker sagen, Mobilität dürfeman auf keinen Fall beschränken, sonst leide die Wirtschaft. Hinter solchen Aussagen steckt nicht viel Substanz. Mobilität hat per se keinen Wert, sondern nur in Verbindung mit einem guten Zweck, wie das erwähnte Beispiel mit dem Butterhörnchen zeigt.

swissinfo.ch: Wer in der Politik Preiserhöhungen fordert, macht sich nicht beliebt.

U.H.: In der direkten Demokratie besteht die Gefahr, dass das eigene Portemonnaie im Vordergrund steht. Deshalb ist es schwierig, die Kostenwahrheit durchzubringen. Man könnte aber zumindest deutlich machen, was die Alternativen kosten. Die Milchkuh-Initiative ist verführerisch, weil die Leute das Gefühl haben könnten, sie würden mehr für ihr Geld kriegen. 

Was sagt die Auto-Lobby dazu?

Angesprochen auf die Klimaerwärmung und den Flächenverbrauch, der vom Verkehr mitverursacht wird, sagt Andreas Burgener, Direktor von Auto Schweiz (Vereinigung der Automobil-Importeure), dass ein Fahrzeug im Stau mindestens 30% mehr Treibstoff verbrauche. «Indem er allein auf den Autobahnen 21’000 Staustunden zulässt, ist der Staat – weil er die Aufgabe nicht wahrnimmt, die Infrastruktur bedarfsgerecht auszubauen – ein offizieller CO2-Produzent.»

Dass der Strassenverkehr deutlich flächenintensiver ist als der öffentliche, bestreitet Burgener nicht, weist aber darauf hin, dass 75% des Personenverkehrs und 60% des Güterverkehrs auf der Strasse abgewickelt werden. «Es braucht beide Verkehrsträger. Die Infrastruktur ist wichtig für eine Volkswirtschaft. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dafür Fläche braucht.»

Dass die Strasse abgesehen von den Stosszeiten fast nie überlastet sei, und der Verkehr deshalb über den Tag hinweg besser verteilt werden sollte, lässt der Direktor von Auto-Schweiz nicht gelten. «Die Leute wollen morgens zur Arbeit fahren und abends schnell wieder heimkehren. Die Hauptverkehrsadern, namentlich die A1, sind von morgens sechs bis abends um acht fast immer überlastet.»

Der Infrastrukturausbau in der Agglomeration, wo am meisten Staustunden entstehen, wird immer teurer. «Stimmt», sagt Andreas Burgener, «das gleiche gilt aber auch für den ÖV.» Letztlich gehe es um den Wirtschaftsstandort Schweiz. «Wir wollen ein Wirtschaftswachstum, wir haben ein Bevölkerungswachstum. Das generiert Verkehr und kostet etwas.»

Was die Nebenfolge-Kosten des motorisierten Strassenverkehrs (Unfälle, Luftverschmutzung, Lärm) betrifft – Experten gehen allein für die Schweiz von 10 bis 40 Mrd. Franken aus –, die grösstenteils der Allgemeinheit und nicht den Verursachern übertragen werden, rechnet Burgener vor: «Der Strassenverkehr generiert rund 9 Mrd. Franken, die er als Steuern, Abgaben und Gebühren abliefert. Davon erhält die Strasse selber nur 3 Mrd. Die Strasse hat einen Eigenfinanzierungsgrad von rund 100%, die Bahn nur rund 43%. D.h. jedes zweite Bahnbillett wird von der Öffentlichkeit bezahlt. Man kann alles aufrechnen. Der Mensch hinterlässt Spuren, wenn er wirtschaftet.» 

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