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«Zu viele Vorurteile und falsche Vorstellungen»

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Als sie vor 30 Jahren aus der Deutschschweiz ins französisch-sprachige Val de Travers kam, rechnete Gaudentia Persoz nicht damit, dass sie Absinth-Brennerin werden würde. Heute produziert sie als einzige Frau in der Schweiz jenes Getränk, das jahrelang im Verborgenen hergestellt wurde, aber heute wieder legal ist.

Die Winternacht hat den Wald mit Reifkristallen bestäubt. Bei Tagesanbruch sehen die Äste beidseits der Strasse aus wie Arabesken weisser Klöppelspitzen. Noch liegen Nebelschwaden auf dem Talboden. Sie verdecken die Sicht auf die steilen Felswände am Creux du Van, dem eindrücklichen Berg im Val de Travers. Ein feenhaftes, aber frostiges Spektakel. Im Nachbartal La Brévine, das den Namen «Sibirien der Schweiz» trägt, sinken die Temperaturen regelmässig auf Rekordtiefen.

Gaudentia Persoz hat diese rohe, wilde Landschaft nicht von Beginn weg gemocht. Sie war in der wirtlicheren Region zwischen Zürichsee und Walensee aufgewachsen. «Dort hat man freie Sicht auf die Alpen und die Ebene. Es ist wunderschön. Alles ist vorhanden: Berge, Seen und im Frühling blühende WiesenHier ist die Sicht beschränkt, der Frühling kurz und es gibt vor allem Tannen.»

Als Gaudentia Persoz in dieses Tal zog, war sie 16-jährig. Damals hätte sie keine Sekunde daran gedacht, hier jemals ein Dauerwohnrecht zu erwerben. «Meine Eltern führten ein Restaurant. Ich wollte die Hotelfachschule besuchen. Deshalb musste ich Französisch lernen. Und wo lernt man das richtige Französisch? Im Kanton Neuenburg!» Die Einheimischen rühmen sich tatsächlich manchmal, eine Sprache zu sprechen, die noch reiner sei, als jene Frankreichs.

Dennoch hat Gaudentia Persoz 30 Jahre später immer noch einen feinen Akzent, der ihre Herkunft verrät. Aber sie ist in der Region, in der sie «das Leben, die Liebe…und den Absinth» entdeckte, heimisch geworden.

Das verbotene Getränk

Absinth, Grüne Fee, Muse des Poeten oder Teufels Elixier… Während des 19. Jahrhunderts war es das bevorzugte alkoholische Getränk eines grossen Teils des frankophonen Gebiets. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlag es den vereinten Angriffen anti-alkoholischer Kreise und der Weinproduzenten, denen es gelang, ein Verbot des Absinths durchzusetzen.

Das Thujon, «das verrückt macht», ist ein Wirkstoff der Absinth-Pflanze. Es löse Schwindel, Halluzinationen, Hirngespinste und Gewaltakte aus, wird im Volksmund gesagt.

Während die Schnapsbrenner in Frankreich alle möglichen Nachfolgeprodukte entwickelten, darunter auch der bekannte Pastis, wird Absinth im Schweizer Teil der Jura-Kette im Verborgenen hergestellt.

Als die junge Gaudentia ins Val de Travers kam, merkte sie bald, dass sich hier seltsame Dinge abspielten. «Ich war als Au-pair-Mädchen in einem Metzgerei-Restaurant in Les Verrières angestellt, einem Dorf an der Grenze zu Frankreich.

Im kleinen Zimmer hinter der Küche verschwanden immer wieder Gäste mit einer Flasche unter dem Arm. Es war sehr mysteriös, aber niemand sagte einem Mädchen von knapp 16 Jahren, was es damit auf sich hatte. Ich war minderjährig, und der verbotene Absinth blieb für mich ein Geheimnis.»

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis sie ins Bild gesetzt wurde. Für Gaudentia Persoz war dies kein Grund zu flüchten, im Gegenteil. «Wenn man jung ist, faszinieren verbotene Dinge. Ich war stolz, eingeweiht zu werden. Es war ein Zeichen, dass ich akzeptiert wurde.»

Destilliergerät im Keller

Einige Jahre später, als sie bereits mit Jean-Michel verheiratet war und in Couvet wohnte, fing sie an, mit der Idee zu kokettieren, selber Schnaps zu brennen. Das Dorf in der Mitte des Tals gilt als Geburtsstätte des Absinths, und Lucie Persoz, die Grossmutter ihres Mannes, war eine reumütige Absinth-Brennerin. Ende der 1960er-Jahre war Lucie bei einer grossen Razzia zusammen mit anderen heimlichen Produzenten erwischt worden und deshalb von der Idee nicht begeistert, das riskante Handwerk an ihre Nachkommen weiterzugeben.

«Mein Mann hatte Eisenschmied gelernt. Für ihn war es zwar kein Problem, ein Destilliergerät herzustellen, aber wir brauchten ein Rezept. Wir haben oft auf Lucie eingeredet, bis sie nachgegeben und uns die Formell und ihr Know-how verraten hat», erinnert sich Gaudentia Persoz.

Das junge Paar begann behutsam. Eher aus Leidenschaft, denn aus Profitgier. Die Produktion war begrenzt und das Destilliergerät im Keller versteckt.

Gearbeitet wurde nachts, aus Sorge, die Gerüche könnten die Nachbarschaft aufschrecken. Verkauft wurde nur an vertrauensvolle Leuten und in der Familie. Das Risiko, das die beiden eingingen, war nicht zu unterschätzen. Jean-Michel Persoz, der damals in der kantonalen Verwaltung arbeitete, riskierte damit, seine Stelle zu verlieren.

«Wir hatten Glück», gibt Gaudentia Persoz heute zu. «Ich werde mich zeitlebens an die Razzia bei den Nachbarn erinnern. Damals war ich gerade in der Küche am Essen zubereiten. Morgens um elf Uhr tauchte ein Polizei-Auto auf der Strasse vor dem Haus auf, dann ein zweites, ein drittes und viertes. Ich fing an zu zittern, bis ich begriff, dass der Besuch nicht uns galt. Das war drei Monate vor der Legalisierung. Alle wussten, dass das Verbot aufgehoben würde.

Trotzdem wurde den Sündern eine Busse von 60’000 Franken aufgebrummt. Es wurde gemunkelt, die Nachbarn seien verpfiffen worden und die Polizei deshalb verpflichtet gewesen, ihre Arbeit zu machen»

Weltweiter Erfolg

Am 1. März 2005, nach 96 Jahren Prohibition, wurde Absinth in der Schweiz wieder legal. Die Schwarzbrenner kamen aus der Deckung hervor und stellten fest, dass auch andere das Geheimnis gut gehütet hatten. «Im Dorf waren viele Leute erstaunt, dass wir schwarz gebrannt hatten», sagt Gaudentia Persoz.

Von diesem Moment an hat sie ihre Praxis für Reflexzonen-Massage aufgegeben und sich gänzlich der Absinth-Herstellung verschrieben. «Wir wussten damals nur, wie man brennt. Alles andere mussten wir lernen. Es brauchte Korken, Etiketten, Flaschen – vorher hatten wir das Getränk in Behälter abgefüllt, die wir wiederverwerteten – , ein Produktename musste kreiert, ein Verkaufsnetz aufgebaut und der ganze Schreibkram bewältigt werden… aber das besorgen mein Mann und der Treuhänder.»

Nach wenigen Jahren schon florierte die kleine Unternehmung, das Angebot wurde ausgebaut. Zum Degustations-Zubehör gehören inzwischen auch spezielle Gläser, Löffel und «Absinth-Brunnen» mit Wasserhänchen. Der grösste Teil der Produktion wird in die ganze Welt exportiert. Ausserhalb von Europa wird das hochprozentige Getränk unter dem Namen «Green Velvet» abgesetzt, in einer Flasche, die mehr an Wodka als an Absinth erinnert – eine Frage des lokalen Geschmacks und des Marketings.

Mit Bedacht konsumieren

Hat der Absinth nach der Legalisierung seine einstige Magie verloren, wie oft gesagt wird? «Der Reiz des Verbotenen ist verschwunden, das ist klar. Aber die Qualität hat zugenommen», widerspricht die Absinth-Brennerin. «Früher durfte man die Blumen nicht im Garten wachsen lassen, sondern musste sie aus Polen kommen lassen. Heute gibt es im Val de Travers vier Landwirte, die sie kultivieren.»

Und was ist mit dem dämonischen Thujon? «Bei der Legalisierung hat die Eidgenössische Alkoholverwaltung bei allen Produzenten eine Probe genommen, um den Thujon-Gehalt zu messen. Kein einziger ehemaliger Schwarzbrenner lag über dem erlaubten Wert.» Bei dieser Dosis müsse jemand 60 Gläser Absinthe trinken, damit die Substanz eine neurotoxische Wirkung hat.

«Versuchen Sie 60 Gläser von irgendeinem alkoholischen Getränk zu konsumieren. Es wird Ihnen nicht besser gehen. Das erkläre ich jeweils den Gruppen, die unsere Brennerei besuchen, weil es immer noch zu viele Vorurteile und falsche Vorstellungen gibt», sagt Gaudentia Persoz.

Und diesen Gruppen ruft sie auch jeweils in Erinnerung, dass «der missbräuchliche Alkoholkonsum immer gefährlich ist».

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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