«2023 sind die Regierungen beim Thema KI aufgewacht»
Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Welche Herausforderungen bringt diese Technologie mit sich, und wie kann sie besser reguliert werden? Wir sprachen mit Stuart Russell, Wissenschaftler für künstliche Intelligenz, der in Genf an der jährlichen UNO-Konferenz "AI for good" teilnahm.
Er hat einen vollen Terminkalender – der britische KI-Wissenschaftler und Autor Stuart Russell. Am frühen Morgen, nach einem ersten Interview mit einem anderen Medium, trifft er uns in einem Genfer Hotel. Am zweitägigen «AI for Good Summit» der Vereinten Nationen, der am 7. Juli zu Ende ging, hat er an mehreren Veranstaltungen gesprochen.
Seit 2017 kommt Russell fast jedes Jahr nach Genf, um am Gipfel teilzunehmen, der innovative Menschen aus den Bereichen künstliche Intelligenz (KI) und Robotik sowie führende Persönlichkeiten aus dem humanitären Bereich zusammenbringen soll, um die KI voranzubringen und eine nachhaltige Entwicklung zu fördern.
Trotz des etwas provokanten Mottos des Gipfels in einer Zeit, in der KI zunehmend kritisiert wird, ist Russell fest davon überzeugt, dass sich die Technologie auf das Gute konzentrieren sollte, das sie für die Menschheit tun kann.
Er erinnert sich daran, wie verärgert er war, als es bei einer früheren KI-Konferenz hauptsächlich darum ging, wie sich Werbung über Suchmaschinen und soziale Medien monetarisieren lässt.
Für ihn besteht ein Teil der Lösung darin, sich nicht darauf zu konzentrieren, wie KI den Menschen ersetzen wird, sondern darauf, welche Bedürfnisse die Technologie erfüllen kann, die der Mensch nicht hinkriegt.
Das Geschäftsmodell sei nicht: «Kann ich Geld sparen, indem ich alle meine Mitarbeitenden entlasse? Das Geschäftsmodell ist, dass wir jetzt etwas tun können, wozu wir vorher nicht imstande waren. Zum Beispiel können wir viele der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung erreichen», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.
Russell studierte Physik in Oxford und promovierte in Informatik an der Stanford University. Er ist Professor für Informatik an der University of California in Berkeley und war zudem ausserordentlicher Professor für neurologische Chirurgie. Das medizinische Fachgebiet konzentriert sich auf die chirurgische Behandlung von Erkrankungen des Gehirns und der Wirbelsäule.
In dieser Funktion leitete er eine Forschungskooperation, die nach Möglichkeiten suchte, Daten von Intensivpatientinnen und -patienten zu sammeln und alle Informationen zu überwachen, damit die Ärztinnen und Ärzte frühzeitig und angemessen eingreifen können, um Leben zu retten.
Sein Interesse an Computern geht auf seine Kindheit zurück. «Ich glaube, ich habe mein erstes KI-Programm vor 47 Jahren geschrieben», sagt er. Heute nutzen Studierende an mehr als 1500 Universitäten sein Lehrbuch «Artificial Intelligence: A Modern Approach», um Theorie und Praxis der KI zu studieren.
Arbeit und Bildung neu denken
Als Vater von vier Kindern liegt ihm die Zukunft des Arbeitsmarkts besonders am Herzen. Seiner Meinung nach bedroht die künstliche Intelligenz bereits einige Angestelltenberufe, wie etwa Werbetexterinnen und -texter. «Alle geistigen und körperlichen Routinearbeiten werden kontinuierlich ersetzt werden», sagt er.
Welche Berufe würde er einem heute zehnjährigen Kind empfehlen, frage ich. Der Schwerpunkt werde in Zukunft auf zwischenmenschlichen Tätigkeiten liegen, wie zum Beispiel in Therapieberufen, sagt er. Diese seien schwer zu automatisieren, und das sei auch nicht wünschenswert.
Seiner Meinung nach wird KI das derzeitige Modell von Ausbildung und Arbeit auf den Kopf stellen. Angesichts des Mangels an attraktiven Arbeitsplätzen in der Zukunft könnte es schwierig werden, die Anreizstruktur für Bildung aufrechtzuerhalten.
Das bedeutet, dass wir «grosse wirtschaftliche Veränderungen» vornehmen, das gesamte Bildungssystem überdenken und möglicherweise ein Grundeinkommen für Menschen einführen müssen, deren Arbeit aufgrund von KI nicht mehr benötigt wird.
«Ich denke, wir sollten psychologisch und politisch dazu bereit sein, [ein universelles Grundeinkommen einzuführen].» Russell ist jedoch der Ansicht, dass dies kein Selbstzweck sein sollte.
Die Lösung, so Russell, bestehe darin, die Politik grundlegend zu ändern, über ein anderes Bildungssystem nachzudenken und neue Berufe zu schaffen. Aber «all das braucht Zeit und wird wahrscheinlich nicht schnell genug umgesetzt werden».
Das entscheidende Jahr
Er glaubt, dass der Start von ChatGPT Anfang dieses Jahres ein Weckruf für die Regierungen war, von denen viele seiner Meinung nach nicht auf die Umwälzungen vorbereitet sind, welche die KI mit sich bringen wird.
«2023 ist das Jahr, in dem die politischen Entscheidungstragenden aufwachen und sich fragen, was zu tun ist», sagt Russell. «Regierungsangestellte nutzen ChatGPT und sehen mit eigenen Augen, dass KI einen grossen Teil der menschlichen Arbeit übernehmen wird. Einige Regierungen haben das verstanden, andere sind völlig ahnungslos.» Singapur zum Beispiel, sagt Russell, habe damit begonnen, die gesellschaftlichen Auswirkungen zu planen.
In den Vereinigten Staaten und Europa fangen die Regierungen gerade erst an, die Auswirkungen der Technologie auf die Gesellschaft zu regeln.
Im Mai fand im US-Senat eine parteiübergreifende Anhörung statt, bei der Sam Altman, Geschäftsleiter von «OpenAI», dem Entwickler von ChatGPT, die Gesetzgeber aufforderte, künstliche Intelligenz zu regulieren. «Ich denke, wenn diese Technologie schief geht, kann sie sehr schief gehen», sagte er damals.
Auf der anderen Seite des Atlantiks verabschiedete das Europäische Parlament am 14. Juni ein KI-Gesetz. Sobald die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten abgeschlossen sind, könnte es das weltweit erste umfassende KI-Gesetz werden. «Das KI-Gesetz der EU ist nicht perfekt, aber es kann viel bewirken», sagt Russell.
Der Wissenschaftler geht davon aus, dass die Technologie in den USA bis zu einem gewissen Grad reguliert wird. Das könnte auch bedeuten, dass bestimmte Aufgaben dem Menschen vorbehalten bleiben, wie etwa die Kinderbetreuung.
Die Zeit dränge in Bezug auf die Regulierung von KI, sagt Russell. «Die Zeitvorstellung fast aller, wann wir mit echter allgegenwärtiger KI beginnen werden, ist näher an die Gegenwart herangerückt. Die Regierungen haben ein offenes Ohr, und wir müssen wirklich einen Rechtsrahmen schaffen, der sinnvoll ist und sicherstellt, dass die entwickelten KI-Systeme sicher sind.»
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Im März gehörte Russell zusammen mit Elon Musk zu den Unterzeichnenden eines offenen Briefs, in dem alle KI-Labors aufgefordert wurden, das Training von KI-Systemen, die leistungsfähiger sind als GPT-4, unverzüglich für mindestens sechs Monate auszusetzen.
Zufall oder nicht, sagt er, die Technologieunternehmen hätten seitdem keine solchen Technologien mehr entwickelt.
Auf dem «AI for Good Summit» wurden verschiedene Ideen für die Zukunft der KI vorgestellt. Dazu gehören die Einrichtung eines Registers für neue oder erwartete KI-Anwendungen, ein globales KI-Beobachtungszentrum und neue institutionelle Einrichtungen.
Oder auch die Stärkung bestehender Organisationen, die möglicherweise bereits über das Fachwissen verfügen, um die durch die Technologie entstehenden Herausforderungen zu bewältigen.
Stuart Russell sieht 2023 als Hoffnungsjahr: «Die politischen Entscheidungstragenden haben zwar mit Verspätung zugehört, sie ignorieren aber nicht länger die mögliche Ankunft einer allgegenwärtigen künstlichen Intelligenz».
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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