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Unterschiedliche Philosophien zur Sicherheit im Strassentunnel

Von 2001 bis 2014 gab es im Gotthardtunnel insgesamt 181 Unfälle. 70 davon waren Frontalkollisionen. Hier eine solche aus dem Jahr 2008, bei der ein Camionchauffeur verletzt wurde. Keystone

Die Befürworter eines zweiten Gotthard-Strassentunnels sagen, dass die Unfallgefahr nur mit zwei richtungsgetrennten Tunnels vermindert werden kann. Doch die Gegner halten dagegen: Ihrer Meinung nach werden neue Technologien in der Autobranche das Kollisionsrisiko reduzieren. Wie aber sehen diese Alternativen aus? Welches Potential haben sie?

Man stelle sich 8500 Fahrzeuge vor, die hintereinander auf einer Spur fahren, die nicht einmal vier Meter breit ist. Auf der anderen Strassenseite kommen 8500 Fahrzeuge in die Gegenrichtung entgegen. Genau dies passiert an einem durchschnittlichen Tag im Gotthard-Strassentunnel, dem längsten und meistbefahrenen Tunnel der Schweiz.

Die Befürworter eines zweiten Gotthard-Strassentunnels halten diese Situation für äusserst gefährlich. Sie empfehlen daher ein klares Ja bei der Volksabstimmung am kommenden 28. Februar, wenn der Bau einer zweiten Röhre zur Disposition steht. «Der 17 Kilometer lange Tunnel entspricht nicht mehr den heutigen Sicherheitsstandards», sagt SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner. Er ist Mitglied des überparteilichen Komitees «Ja zum Sanierungstunnel am GotthardExterner Link«.

Tatsächlich rangiert der 1980 eröffnete Gotthard-Strassentunnel in einem im Juli 2015 vom Allgemeinen Deutschen Automobilclub (ADAC) publizierten Test zur Sicherheit in StrassentunnelsExterner Link an letzter Stelle. Der ADAC hatte 20 Tunnel in fünf europäischen Ländern unter die Lupe genommen. Trotz des Gesamturteils «gut» bildet der Gotthard-Strassentunnel das Schlusslicht, insbesondere wegen des Gegenverkehrs und der fehlenden Pannenstreifen. Die ADAC Experten attestieren daher ein «hohes Unfallrisiko.»

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Aber für die Gegner der Abstimmungsvorlage lässt sich die Sicherheit im Gotthard-Strassentunnel auch ohne den Bau einer zweiten Röhre verbessern. Dank einiger technischer Anpassungen im Tunnel und Fortschritten bei den Fahrzeugen liesse sich das Unfallrisko stark vermindern, meint beispielsweise der Verkehrsclub der Schweiz (VCSExterner Link). Konkret geht es etwa um eine absenkbare Mittelleitplanke im Tunnel und Spurhalteassistenten in Fahrzeugen.

Bauliche Anpassungen…

Der pensionierte Berner Ingenieur Jürg Junker, einst Mitarbeiter der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA), hat ein System entwickelt, bei dem die beiden Fahrstreifen durch eine 75 Zentimeter hohe Mittelleitplanke getrennt würden. Da die einzelnen Module dieser Leitplanken nur vier Meter lang und absenkbar sind, wäre im Notfall die Zufahrt für Rettungsfahrzeuge nicht behindert.

Die Mittelleitplanke des Berner Ingenieurs Jürg Junker lässt sich bei Bedarf versenken. Der Bundesrat allerdings ist von dieser Neuerung nicht überzeugt. jupro.ch

Frontalkollisionen würden mit einem solchen System in praktisch jedem Fall verhindert, anerkennt auch der Bundesrat (Schweizer Regierung), der sich mit dieser Idee befasst hat. Doch das Gesamturteil ist eindeutig negativ. Das System sei nicht zertifiziert, womit nicht erwiesen sei, dass es sich «im Ereignisfall wunschgemäss verhält». Zudem wisse man nicht, «welche psychologische Wirkung die optische Einengung der Fahrbahn» hätte, so der Bundesrat im Februar 2014 in einer Antwort auf eine Interpellation.

Erfolgversprechender als eine mechanische Barriere auf der Fahrbahn erscheinen technologische Neuerungen bei den Fahrzeugen. Autos der neusten Generation werden wohl schon bald autonom auf der Autobahn fahren können. «Innerhalb der nächsten 30 Jahre werden neue Technologien den Fahrzeuglenker mitsamt Gaspedal und Bremse ersetzen», ist Caroline Beglinger, Co-Geschäftsleiterin des VCS, überzeugt.

 … und Fahrsicherheits-Assistenten

Markus Moser, Leiter der Arbeitsgruppe für Unfallmechanik Zürich (AGU)Externer Link, verweist in diesem Zusammenhang auf Systeme zur Geschwindigkeitskontrolle mit Notbremsen, die Abstände zu anderen Fahrzeugen einhalten und so Auffahrunfälle vermeiden helfen. Auch Spurhaltesysteme hält Moser für präventiv wirksam.

Wann ist ein Tunnel sicher?

Die wichtigsten Kriterien für die Sicherheit und das Unfallrisiko von Strassentunneln sind die Länge des Tunnels, die Zahl der Röhren, die Höhe und Breite der seitlichen Bankette, die Anzahl der Fahrzeuge pro Tag und der Anteil des Schwerverkehrs. So hält es die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) fest.

Die Fahrspurbreite, die Höhe des Tunnels, die zulässige Höchstgeschwindigkeit und die Beleuchtung sind als Unfallfaktoren hingegen weniger bedeutsam.

Gemäss einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2004, an die sich auch die Schweiz hält, müssen Tunnel mit einem Aufkommen von mehr als 10’000 Fahrzeugen pro Tag und Fahrspur notwendig durch zwei richtungsgentrennte Röhren geführt werden.

«Wenn sich ein Fahrer einer bestimmten Linie auf der Fahrbahn zu sehr nähert, etwa als Folge eines Sekundenschlafs, wird er durch ein akustisches Signal oder eine Vibration aufgerüttelt und kann dann am Steuer korrigieren. Dieses System eignet sich insbesondere in Tunnel, in denen die Trennung zwischen den beiden Fahrspuren gut markiert ist», sagt Moser.

Wenn Fahrzeuge mit einem solchen Spurhaltesystem ausgerüstet seien, ist ein Unfall in einem Tunnel gemäss Moser praktisch ausgeschlossen, abgesehen von ganz aussergewöhnlichen Fällen. «Ein Tunnel mit Gegenverkehr wird in diesem Fall nicht gefährlicher sein als richtungsgetrennte Tunnel.»

Für den Technologie-Experten handelt es sich bei diesem Szenario keinesfalls um Zukunftsmusik, auch wenn die Anzahl der mit diesem System ausgerüsteten Fahrzeuge zurzeit noch sehr tief liegt (unter 5%). «Spurhaltesysteme sind bisher nur in einigen Modellen der mittleren und oberen Preisklasse zu finden. Systeme zur Kontrolle des Abstands von anderen Fahrzeugen sind hingegen schon mehr verbreitet. Ab 2019 werden diese aber in allen Camions obligatorisch sein», hält er fest.

Jean-François Fournier, Chefredaktor der Fachzeitschrift Automobil-Revue, ist überzeugt, dass automatische Lenkhilfen schon in fünf bis zehn Jahren in allen neuen Automobilen Standard sein werden. Diese Vorrichtungen würden weniger aus Sicherheitsmotiven installiert, sondern vor allem aus Gründen des Verkehrsflusses, um Staus in den grossen Agglomerationen zu vermeiden.  

Yves Gerber, Kommunikationschef des Touring Club Schweiz (TCS), ist weniger optimistisch: «Es wird wesentlich länger dauern, bis der ganze Fahrzeugpark erneuert ist. Und dies muss nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa geschehen. Rund 30% des Verkehrs am Gotthard stammt aus dem Ausland.» Zudem darf laut Gerber nicht vergessen werden, dass es sich bei jedem zweiten Autokauf in der Schweiz um einen Gebrauchtwagen handelt.

Er räumt ein, dass solche Lenkleithilfen helfen könnten, das durch menschliches Versagen erzeugte Risiko zu reduzieren, das heute immer noch einen Hauptgrund für Unfälle darstellt. «Doch es gilt, noch weitere Aspekte zu berücksichtigen.»

Ein Problem gelöst, ein neues taucht auf

Ein ungelöstes Problem sei die wichtige Frage der Haftpflicht, meint der TCS-Sprecher. «Gemäss dem Übereinkommen von Wien aus dem Jahr 1968, das von der Schweiz unterzeichnet wurde, trägt der Fahrzeugführer die Verantwortung für die Kontrolle des Fahrzeugs Doch wer trägt die Verantwortung, wenn ein Fahrzeug automatisiert fährt? Der Fahrzeugführer, der Fahrzeugbauer oder die Firma, welche die automatischen Lenkhilfen entwickelt hat? Solange keine Klarheit in dieser Frage besteht, wird man nicht vom Fleck kommen.»

Ein automatisiertes Fahrsystem garantiert gemäss Yves Gerber zudem noch lange nicht, dass es nicht mehr zu Unfällen kommt. «Es können auch technische Störungen auftreten, die durch das Gerät selbst oder äussere Faktoren entlang der Strasse verursacht werden. Zudem könnten Fälle von IT-Piraterie auftreten. Kurz gesagt: Einige Risiken kann man mit solchen Systemen aus dem Weg räumen, aber es werden neue Probleme entstehen.»

Yves Gerber ist überzeugt, dass sich die Mängel und Probleme eines Tunnels mit Gegenverkehr nicht durch Elektronik kompensieren lassen. «Wir können ein selbstfahrendes Fahrzeug mit einem Zug vergleichen. Und auch neue Bahntunnels wie der Gotthard-Basistunnel werden aus Gründen der Sicherheit mit zwei Röhren gebaut. Warum sollte für einen Strassentunnel nicht gelten, was für einen Bahntunnel gilt?»

Brände als grösstes Risiko

Für das Bundesamt für Strassen (Astra) stellen Brände die grösste Gefahr in Tunneln dar. Brände entstehen häufig durch überhitzte Motoren und Bremsen.

Um Brände im Gotthard-Strassentunnel zu verhüten, hat das Bundesamt für Strassen im Jahr 2013 auf der Nordseite ein so genanntes Thermoportal in Betrieb genommen. Diese Anlage ermöglicht es, die Temperatur zu erfassen und überhitzte Fahrzeuge aus dem Verkehr zu nehmen (14 Fälle 2014).

Ein weiteres Thermoportal wird in Kürze an der Nordeinfahrt zum Gotthard-Strassentunnel nach einer Probephase definitiv in Betrieb genommen.

Nach einem schweren Brandunfall im Oktober 2001, bei dem elf Menschen vor allem durch Rauchgase starben, wurde für die Durchfahrt des Gotthard-Strassentunnels das so genannte Tropfenzähler-System für Lastwagen eingeführt. Demnach gilt ein Mindestabstand von 150 Metern für Camions. Zudem dürfen maximal 150 Lastwagen pro Stunde und Richtung im Tunnel verkehren. 

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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