Abwasser lügt bei der Suche nach Covid-19 nicht
Seit über einem Jahr suchen Forschende in Schweizer Abwässern aus Kläranlagen nach Spuren von Covid-19. Sie konnten bei dieser Arbeit weltweit beachtete Erfolge feiern. Doch die Zukunft des Projekts ist in Frage gestellt.
«Die Proben sind unterschiedlich – manchmal eher champagnerfarben, manchmal eher wie Cappuccino», sagt Federica Cariti. Die junge Wissenschaftlerin nutzt in einem Labor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule LausanneExterner Link (EPFL) ein pistolenförmiges Gerät, um eine genau definierte Menge Abwasser in Glasröhrchen abzufüllen. Danach wird die trübe Flüssigkeit gefiltert und in einem aufwändigen Verfahren aufbereitet, um das Vorhandensein von Sars-CoV-2 nachzuweisen und zu quantifizieren.
«Das hier ist eine Zentrifuge, die ähnlich funktioniert wie eine Waschmaschine. Wir geben die Proben für 30 Minuten bei maximaler Leistung für den Reinigungsprozess hinein», erklärt Cariti.
Ein Plastikbecher mit einer speziellen Membran filtert dann die Flüssigkeit, um alle Viren oder Proteine aufzufangen. Schliesslich erfolgt ein weiterer Konzentrationsvorgang, um eine für die endgültige Untersuchung geeignete Probe zu erhalten.
Seit der Entdeckung des neuartigen Coronavirus in Schweizer Abwasserproben im Februar 2020 ist dieser mühsame Prozess für das aus vier Personen bestehende Forscherteam der EPFL zur Routine geworden.
Sie arbeiten mit Spezialistinnen und Spezialisten des Wasserforschungs-Instituts EawagExterner Link (früher: Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz) in Zürich und einer Zweigstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) in Basel zusammen, um die Entwicklung und Ausbreitung des Virus detailliert zu erfassen.
Seit letztem Sommer werden den Kläranlagen in Zürich und Lausanne regelmässig Proben entnommen und auf die Präsenz des Coronavirus untersucht. Dank der finanziellen Unterstützung durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) konnte das Forschungsprojekt im Februar dieses Jahres auf sechs Anlagen im Land ausgeweitet werden (zusätzlich Laupen, Altenrhein, Chur und Lugano).
Es deckt nun ein Einzugsgebiet von rund einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern in ländlichen und städtischen Gebieten ab (bei einer Gesamtbevölkerung der Schweiz von 8,6 Millionen Menschen).
«Die Analyse von Abwässern zur Feststellung von Viren ist nicht neu», erklärt EPFL-Wissenschaftler Xavier Fernandez Cassi. Doch er fügt an: «Neu ist die tägliche Analyse in diesem Ausmass, mit einer Vielzahl von Anlagen und unter Verwendung der Genomsequenzierung. Das ist wirklich eindrücklich. Wir haben diese Art von Arbeit noch nie für irgendeinen anderen Virustyp gemacht.»
Abwasser lügt nicht
Das Coronavirus hat die Schweiz in zwei Wellen erfasst. Fast 665’000 Menschen haben sich infiziert, und über 10’000 Personen sind mit oder an Covid-19 gestorben. Dabei schätzt das BAG, dass die wahren Infektionszahlen viel höher liegen könnten – bis zu einem Drittel der Schweizer Bevölkerung könnte sich infiziert haben.
Die Impfkampagne begann Ende Dezember und nimmt nun an Fahrt auf. Die Zahl der Neuansteckungen hat sich in jüngster Zeit stabilisiert. Befürchtungen einer dritten Welle haben sich somit nicht bewahrheitet.
Die Durchführung effektiver Tests und die Rückverfolgung der Ansteckungen waren eine grosse Herausforderung für die Schweiz. Dies liegt am ausgeprägten Föderalismus, der die Verantwortung für das Gesundheitswesen und damit für die Tests den 26 Kantonen überträgt. Aber im Lauf der Zeit hat sich die Situation generell verbessert.
Das Schweizer Abwasserüberwachungs-Programm «AbwasSARS-CoV-2»Externer Link, das als kleines Forschungsprojekt begann, wird heute neben den klinischen Tests als wichtiges ergänzendes Instrument angesehen. Die Erkenntnisse über Virenkonzentrationen und -schwankungen werden von Schweizer Gesundheitsexpertinnen und -experten herangezogen.
Die Methode der Analyse von Abwasserproben aus Kläranlagen bietet mehrere Vorteile. Das Virus kann mehrere Tage früher im Abwasser nachgewiesen werden als mit klinischen Tests.
Bekanntlich verstreicht zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und einem bestätigten Laborbefund einige Zeit. Bereits ab zehn neuen Fällen kann Sars-CoV-2 im Abwasser nachgewiesen werden. «Abwasser lügt nicht», bringt es Eawag-Teamleiter Christoph Ort auf den Punkt.
R-Wert dank Abwasser
«Die Abwasseranalyse stellt eine effiziente Methode dar, um grosse Populationen zu testen – gerade in einem Land wie der Schweiz, in der die Vorschriften zu hundert Prozent eingehalten werden und die über ein sehr gutes Abwassersystem verfügt», sagt Ort. Diese Methode sei zudem auch relativ günstig im Vergleich zu anderen Testmassnahmen.
Die Analyse von Abwasser auf Covid-19 wird in verschiedenen Ländern durchgeführt, unter anderem in den USA, GrossbritannienExterner Link, Brasilien, den Niederlanden und Italien. Das kleine Schweizer Team, eine Gruppe aus ETH-Forschenden, war dabei mit einigen bahnbrechenden Ergebnisse ein wichtiger Wegbereiter.
Zum Beispiel nutzen sie die Abwasserdaten, um den so genannten Reproduktionswert (Re-Value) zu berechnen. «Bis jetzt scheinen wir die Einzigen zu sein, die dies tun. Diese Methode ermöglicht einen Vergleich mit R-Werten, die auf Fallzahlen, Hospitalisierungen oder Todesfällen basieren», sagt Eawag-Sprecher Andri Bryner.
Über die Weihnachtszeit gelang es den Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als ersten Forschenden weltweit, die britische Variante im Abwasser nachzuweisenExterner Link.
Trends, nicht Fälle
Doch eine solche Überwachung des Abwassers hat ihre Grenzen. Im Moment können auf diese Weise nur Daten über Trends und nicht über tatsächliche Fallzahlen eruiert werden. Mit den Abwasserproben lässt sich auch nicht zwischen neuen Infektionsfällen und genesenen Menschen unterscheiden, die immer noch genetisches Material von Sars-CoV-2 ausscheiden.
«Wir wissen immer noch nicht genug darüber, wie viel virales Genmaterial ausgeschieden wird und zu welchem Zeitpunkt dies geschieht», sagt Ort.
Ursprünglich hoffte das Team, dass die Abwasseranalyse viel schneller Aufschluss zur epidemiologischen Situation geben würde als klinische Tests. Forschende im In- und Ausland wurden dank dieser Analysen bis zu zwei Wochen früher über Trends informiert, bevor sich die Befunde in Massentests zeigten.
«Da jetzt viel mehr Tests durchgeführt werden können und die Ergebnisse schneller vorliegen als früher, haben wir nicht mehr so viel Vorsprung», sagt Ort. Während der Pandemie hatte die Schweiz wiederholt eine Test-Positivitätsrate, die deutlich über fünf Prozent lag, was laut der Weltgesundheits-Organisation (WHO) auf eine hohe Dunkelziffer unerkannter Fälle hinweist.
Vor kurzem konnte auf Grund der Abwasserdaten aus Zürich eine Diskrepanz zwischen den höheren Infektionsraten im Abwasser und der tatsächlichen Anzahl der registrierten klinischen Tests festgestellt werden. Es wird vermutet, dass dies mit einem Rückgang der PCR- und Antigentests zusammenhängen könnte, die seit Ostern in der Region durchgeführt wurden.
Wird das Programm fortgesetzt?
Das BAG sieht das Forschungsprogramm als sinnvolles ergänzendes Instrument zur Identifizierung möglicher Covid-Cluster. «Wir stehen klar hinter diesen Tests und möchten sie gerne weiterführen. Sie sind ein gutes Instrument, um die Entwicklung der Pandemie auf eine andere Art und Weise zu verfolgen», sagte Patrick Mathys, Leiter der Sektion Krisenbewältigung im Bundesamt für Gesundheit, kürzlich gegenüber der Presse.
Doch bei Redaktionsschluss dieses Artikels war noch unsicher, ab das Programm wirklich weitergeführt wird. Der geltende Vertrag zwischen dem Forschungsteam und dem BAG läuft noch bis Ende Juli 2021. Verschiedene Dienststellen und Beamte auf Bundes- und Kantonsebene sind am Entscheid beteiligt, ob und wie es danach weitergeht.
«Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein neuer Vertrag für die Weiterführung des Projekts unterzeichnet wird, doch das hängt stark von der landesweiten Covid-Situation und der Entwicklung der Infektionszahlen in der Schweiz ab», sagt BAG-Sprecher Grégoire Gogniat gegenüber swissinfo.ch.
Vielfache Anwendungsmöglichkeiten
Die am Programm beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, dass sie ihre Covid-Überwachungsarbeit fortsetzen können und dass ihr Netzwerk als Frühwarnsystem für alle möglichen Arten von Virenausbreitungen in grösseren Gebieten der Schweiz dienen kann oder auch als Instrument zur Identifizierung neuer oder neu auftretender Varianten. Sie sind sich jedoch bewusst, dass ein Teil dieser Arbeit möglicherweise an kantonale oder kommerzielle Labors ausgelagert wird.
Aber auch über Covid hinaus ist das Forscherteam von der Leistungsfähigkeit der eigenen Systems überzeugt, das früher bereits für den Nachweis von Polio-Fällen (Kinderlähmung) oder zum Nachweis von illegalen Drogen eingesetzt wurde.
«Es ist nicht nur einfach ein Pandemie-Tool», sagt Tamar Kohn, die Leiterin des Teams an der ETH Lausanne. Sie weist darauf hin, dass die Abwasseranalyse auch dazu verwendet werden könnte, um nach Genen zu suchen, die gegen Antibiotika resistent seien. Dieses Problem bereitet den Gesundheitsbehörden grosse Sorgen.
Kohn sieht noch weitere Möglichkeiten: «Denken wir beispielsweise an die Überwachung von Grippeviren oder die Entdeckung von Krebsviren wie das humane Papillomavirus».
(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)
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(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)
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