Expedition in die eisige Polarnacht
Kein Tageslicht und während Monaten Minusgrade: Das Forschungsschiff "Polarstern" lässt sich im Eis der zentralen Arktis festfrieren. Mit dabei: der Schweizer Schneeforscher Martin Schneebeli. Er ist der Wärmeleitfähigkeit von Meereseis auf der Spur.
Martin Schneebeli installiert noch einen Computertomografen an Bord. Es ist höchste Zeit. In zwei Tagen wird das Schiff vom norwegischen Tromsø aus in die zentrale Arktis ablegen: Bis dahin muss die wissenschaftliche Ausrüstung für die kommenden zwölf Monate auf der 118 Meter langen und 25 Meter breiten «Polarstern» verstaut sein. Geleitet wird die Expedition vom Bremerhavener Alfred Wegener Institut (AWI).
Der Forscher Martin Schneebeli mit dem so passenden Namen ist ein ausgewiesener Schnee-Experte und arbeitet am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF)Externer Link in Davos. Er wird von der «Polarstern» aus in der Arktis die Struktur von Schnee und Meereis untersuchen. Sein Fokus gilt der Wärmeleitfähigkeit von mit Schnee bedecktem Meereis und der Frage, wie gut Meer und Luft im Polarmeer voneinander isoliert sind.
Schneebelis Computertomograf (CT) liefert in diesem Kontext einen innovativen Beitrag. «Noch nie wurden der Schnee auf dem Meereseis und seine physikalischen Eigenschaften mit einem CT dreidimensional gemessen», erklärt er am Telefon aus der nordnorwegischen Stadt im Polarkreis. Mit seinem Gerät kann er die Proben durchleuchten wie menschliche Körper.
Neue Klimamodelle
30 Jahre sei es her, dass das arktische Eis über ein ganzes Jahr hinweg kontinuierlich untersucht wurde, sagt Martin Schneebeli. «Doch damals war das Klima noch ganz anders.» Die Forschung braucht dringend neue Daten, insbesondere aus den arktischen Wintern.
In den kommenden Monaten werden unter anderem Infrarotkameras die Eis- und Schneeschichtung durchdringen, und deren Proben untersucht. Dichte, Temperatur und Luftdurchlässigkeit des einst ewigen Eises können wichtige Hinweise auf künftige Klimaveränderungen geben. Die Polarstern-Expedition wird daher auf der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Die hier gewonnenen Erkenntnisse sind zentral für künftige Klimamodelle, die wiederum präzisere Wettervorhersagen ermöglichen sollen.
An Bord des Forschungsschiffs fahren in Schichten rund 70 Wissenschaftler aus 17 Nationen für jeweils zwei Monate mit, dann werden sie durch Kolleginnen und Kollegen abgelöst. Drei Schweizer Teams sind dabei: Neben jenem von Martin Schneebeli untersuchen Wissenschaftler des Paul Scherrer Instituts (PSI) um Julia Schmale atmosphärische Gase, die für die Wolkenbildung eine wichtige Rolle spielen. Kollegen Schneebelis vom Davoser WSL-Institut analysieren, inwieweit die vom Schnee reflektierten Mikrowellen Aufschluss über dessen Beschaffenheit geben.
Driften mit dem Eis
Nicht nur wegen ihrer Grösse, auch was die Fortbewegung betrifft, sorgt die «Polarstern»-Expedition für Aufsehen: Wenige Wochen nach seinem Ablegen soll das Schiff vor der sibirischen Küste durch die Kälte des beginnenden Winters an einer riesigen Eisscholle andocken und sich dann ohne eigenen Antrieb ein Jahr lang durch das Polarmeer treiben lassen.
Im Sommer 2020, so der Plan, kann es sich dann nordöstlich von Grönland wieder aus dem dann schmelzenden Eis befreien. In dieser Zeit arbeiten die Forscher nicht nur an Bord. Auf dem umgebenden Eis soll ein Netz an Messstationen aufgebaut werden, das mit dem Schiff durch die Arktis driftet und permanent Daten liefert.
Das arktische Eis dient als Seismograph für das globale Klima. Seine Eigenschaften unterscheiden sich hingegen stark von dem in den Schweizer Alpen. «Der Schnee auf dem Meereis ist ganz anders aufgebaut als der Schnee in der Schweiz», erklärt Schneebeli. Auch deshalb, weil in der Arktis im Winter fünf Monate lang Dunkelheit herrscht und keine Sonne auf das Eis scheint.
Für die Schnee- und Lawinenforschung in den Schweizer Bergen mag die Expedition insofern keine neuen Erkenntnisse bringen. Doch: «Die Klimaveränderungen in der Arktis haben grossen Einfluss auf den globalen Klimawandel und damit auch auf das Wetter in der Schweiz», betont Schneebeli. Die Erwärmung am Pol bringt den Jetstream aus dem Konzept, die Folgen sind auf der gesamten nördlichen Halbkugel zu spüren.
Drei Monate Dunkelheit
Wenn er seine Geräte auf die «Polarstern» verladen hat, fährt Schneebeli zunächst zurück nach Davos. Er geht später mit der zweiten Team-Schicht im November an Bord und wird drei Monate unterwegs sein: «Zwei Wochen Anreise zur Polarstein von Tromsø auf einem russischen Eisbrecher, zwei Monate an Bord und zwei Wochen zurück ans Land», erzählt er.
Die gesamte Crew wurde bereits im Umgang mit Gewehren geschult, sollten sich Eisbären gefährlich nähern. Es ist zudem eine Reise mit immensen logistischen Herausforderungen: Was in Tromsø nicht an Bord gebracht wird, muss per Eisbrecher, Flugzeug oder Helikopter folgen. Zudem müssen alle Teams ihre Projekte detailliert miteinander abstimmen, um den begrenzten Raum und die Ausrüstung unterwegs ideal zu nutzen.
Drei Monate in der Dunkelheit der Polarnacht, Temperaturen von bis zu 45 Grad Minus, Leben und Arbeiten auf engstem Raum: Dennoch, Martin Schneebeli freut sich sehr auf seinen Einsatz. «Ich bin sehr gespannt, wie das sein wird.» Skypen, fernsehen oder im Internet surfen, auf all das muss er in der Zeit verzichten. Nur simple Emails ohne Anhänge kann der Forscher in die Heimat verschicken. Doch dafür ist er dabei, auf einem der ganz grossen Abenteuer der Wissenschaft.
17 Nationen, unter ihnen auch Russland, China und die USA und Forscher aus 70 Instituten beteiligen sich an der Forschungsfahrt Mosaic: kurz für «Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate». Sie steht unter der Leitung des deutschen Alfred-Wegener-Instituts und soll helfen, die Auswirkungen des Klimawandels besser zu verstehen. Die Fahrt geht von Norwegen aus entlang der sibirischen Küste Richtung Nordpol. Der Polarstern nimmt sich die Fram-Expedition unter Leitung von Fridtjof Nansens zum Vorbild: 1893–1896 liess sich das Schiff absichtlich im Eis einfrieren und driftete mit diesem Richtung Nordpol.
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